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Magazin Mitbestimmung

Partizipation: Ein starkes Stück Europa

Ausgabe 05/2014

Dass Arbeitnehmervertreter in Aufsichts- und Verwaltungsräten Einfluss nehmen, ist ein Kennzeichen europäischer Arbeitsbeziehungen. Eine repräsentative Befragung liefert jetzt gute Argumente gegenüber der EU-Kommission, die diese Realität in ihren Vorschlägen zum Unternehmensrecht regelmäßig ignoriert. Von Norbert Kluge und Stefan Lücking

Anders als die öffentliche Diskussion über Corporate Governance in Europa mitunter nahelegt und die Initiativen der EU-Kommission zum europäischen Gesellschaftsrecht oft widerspiegeln, gehört die „Voice of Labour“, die Stimme der Arbeitnehmer, an der Spitze von Unternehmen zur gesellschaftsrechtlichen Grundausstattung in mehr als der Hälfte der EU-Mitgliedstaaten. Deutschland ist ein starkes Pferd im Stall, aber nicht das einzige. Arbeitnehmervertreter sind kein Fremdkörper in der europäischen Corporate Governance. Das gilt auch für die europäische Ebene selbst. Die Europäische Aktiengesellschaft (SE) und die Europäische Genossenschaft (SCE) sehen den Erhalt entsprechender Arbeitnehmerpositionen vor, wenn sie vor der Umwandlung in europäische Rechtsformen existierten. Nicht nur große SEs wie Allianz, BASF oder MAN zeigen in der Praxis das gute Funktionieren ihrer Corporate Governance mit europäisch zusammengesetzter Arbeitnehmerbeteiligung.

Dies bestätigen erste Ergebnisse des Forschungsprojekts „Corporate Governance and the Voice of Labour“, die das Europäische Gewerkschaftsinstitut (EGI) vor Kurzem in Brüssel vorgelegt hat. Durchgeführt haben diese erste repräsentative, europaweite Befragung von Arbeitnehmervertreterinnen und -vertretern in den Leitungsgremien von Unternehmen Aline Conchon, Industriesoziologin am EGI, und Jeremy Waddington, Industriesoziologe an der Manchester Business School. Zwar weichen das kulturelle Selbstverständnis und die gesetzlichen Voraussetzungen für die rund 4500 Befragten aus 17 europäischen Ländern stark voneinander ab. Dennoch haben sie alle ein realistisches Bild ihrer Stellung als Aufsichts- oder Verwaltungsräte an der Spitze von Unternehmen, die von der Arbeitnehmerseite gewählt oder nominiert wurden. Obwohl sie nirgends in der entscheidenden Mehrheitsposition sind, auch nicht in der stärksten Variante der paritätischen Mitbestimmung in Deutschland, nutzen sie ihr Mandat, um für ihre Kolleginnen und Kollegen gegenüber der Leitung etwas herauszuholen. Dabei ist ihnen gemein, dass sie als Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichts- oder Verwaltungsrat die gleichen Pflichten und Rechte wie Vertreter der Eigner haben. Sie sollen über das Wohlergehen des Unternehmens insgesamt wachen und sind insofern in die Verantwortung für die Leitung des Unternehmens (Corporate Governance) eingebunden.

MITTEL DER INTERESSENVERTRETUNG

Unterschiede im Selbstverständnis bilden sich in den Antworten zur Einschätzung der Einflussmöglichkeiten ab. Nimmt man die Präsenz im Aufsichts- oder Verwaltungsrat als ein Element im System miteinander kommunizierender Röhren aus verschiedenen Einflusskanälen für Arbeitnehmervertreter über Gewerkschaften oder über Betriebsräte, so zeigen die Ergebnisse der Studie: Das Ziel von Interessenvertretung auf allen verfügbaren Ebenen ist dasselbe, aber die Wege sind national sehr unterschiedlich. Allerdings lässt sich aus den Ergebnissen auch herauslesen, dass eine substanzielle gesetzliche Beteiligung wie in Deutschland, Österreich oder in den skandinavischen Ländern das Gefühl von eigener Stärke und Bedeutung unterstützt. Das unterstreichen auch die Antworten auf die Frage, inwieweit Einfluss auf Umstrukturierungen des Unternehmens genommen werden kann. Darüber wurde anlässlich einer ersten Präsentation der Studienergebnisse durch das Europäische Kompetenzzentrum für Mitbestimmung (EWPCC) Mitte Februar 2014 in Brüssel mit Mitbestimmungspraktikern aus vielen Ländern rege diskutiert. Denn auf den ersten Blick sehen die Antworten eher ernüchternd aus. Etwas mehr als 40 Prozent schätzen ihren Einfluss als gering oder nicht vorhanden ein. Gut 32 Prozent sehen sich als einflussreich oder sehr einflussreich. Auf den zweiten Blick werden Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländergruppen sichtbar. In den frankophonen Ländern, in denen die Arbeitnehmervertreter deutlich in der Minderheit sind, wird der Einfluss als besonders gering eingeschätzt, während sich in den deutschsprachigen Ländern und den Europäischen Aktiengesellschaften positive und negative Einschätzungen die Waage halten. 

In Brüssel zeigte sich aber schnell, dass auch dies nur die halbe Wahrheit ist. Jean-Frédéric Dreyfus, Mitglied im Verwaltungsrat der französischen Bank Crédit Agricole, brachte es auf den Punkt: Innerhalb des Verwaltungsrats sind die Arbeitnehmervertreter in der Minderheit und haben deshalb keinen direkten Einfluss auf die Entscheidungen. Außerhalb des Gremiums können sie aber als Mitglied im Verwaltungsrat starken Einfluss ausüben, etwa im direkten Gespräch mit der Unternehmensleitung oder in der Kooperation mit den Betriebsräten und Gewerkschaften im Unternehmen.

Der tatsächliche Einfluss hängt also davon ab, wie stark ein Aufsichtsratsmitglied mit anderen vernetzt ist. Die Vernetzung wirkt dabei in zwei Richtungen: Wie kann Unterstützung von außen genutzt werden, um die eigene Position im Aufsichts- oder Verwaltungsrat zu stärken? Und wie kann das Mandat im Aufsichtsrat genutzt werden, um andere Ebenen der Interessenvertretung zu unterstützen? Die Ergebnisse der Befragung geben zu beiden Aspekten zahlreiche Hinweise. In allen Ländern sehen die Befragten die Interessenvertretungen der Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften als wichtigste Informationsquelle an. Nationale Unterschiede zeigen sich nur darin, ob Gewerkschaften oder Betriebsräte eine stärkere Rolle spielen. Wobei sich die Aufsichtsräte aus den deutschsprachigen Ländern dadurch auszeichnen, dass für sie die Expertise von Betriebsräten und Gewerkschaften gleichermaßen wichtig ist. Auch die Zusammenarbeit mit anderen Ebenen der Interessenvertretung gilt in allen Ländern als wichtig, Unterschiede – entsprechend der nationalen Traditionen – gibt es nur darin, welche Ebene von besonderer Bedeutung ist. In den deutschsprachigen Ländern, den Niederlanden und den Europäischen Aktiengesellschaften wird die Kooperation mit Betriebsräten und anderen Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat hervorgehoben, in den nordischen und frankophonen Ländern sowie Irland, Griechenland und Spanien dagegen die Kooperation mit den Gewerkschaften im Unternehmen.

GELEBTE PRAXIS

Das umfangreiche Datenmaterial der Befragung ermöglicht ein umfassendes Bild davon, wie die Praxis der Interessenvertretung in den unterschiedlichen nationalen Systemen aussieht. Wie unterscheidet sich die Interessenvertretung in einem monistischen System mit Verwaltungsräten von der in einem dualistischen System mit einer Trennung von Aufsichtsrat und Vorstand? Wie verstehen die Arbeitnehmervertreter ihre Rolle? Was tun sie genau? Wo liegen ihre Prioritäten? Wie ist ihr Verhältnis zu Anteilseignern und Management, zu Betriebsräten und Gewerkschaften? Wie bereiten sie sich auf die Sitzungen vor? Wie nutzen sie ihre Kontakte außerhalb des Gremiums für ihre Arbeit?

Im Hinblick auf die Prioritäten etwa sind die Unterschiede wenig ausgeprägt. In den meisten Ländern und den Europäischen Aktiengesellschaften steht die Situation der Beschäftigten an erster Stelle, gefolgt von finanziellen Angelegenheiten und Fragen der Unternehmensorganisation. In den frankophonen Ländern, den neuen Mitgliedstaaten sowie Irland, Griechenland und Spanien sind dagegen finanzielle Angelegenheiten und Marktstrategien die wichtigsten Themen, was möglicherweise an der schwächeren Position der Arbeitnehmervertreter in diesen Ländern liegt. Sie macht es schwieriger, die Agenda der Sitzungen mitzubestimmen. Noch einheitlicher sind die Antworten auf die Frage, welche Interessen sie in erster Linie vertreten. Hier stehen die Interessen der Beschäftigten im eigenen Land an erster Stelle. Bemerkenswert: Das gilt auch für Europäische Aktiengesellschaften. 

Ein Verständnis vom „europäischen Mandat“, wie es als politischer Anspruch von  den europäischen Gewerkschaften zumindest an Arbeitnehmervertreter in SE-Aufsichts- oder -Verwaltungsräten formuliert ist, spiegelt sich in den Antworten der Befragten bisher nicht wider. Da scheinen die national bestimmten Wege zur Wahl in das Spitzengremium eines Unternehmens bislang wirkungsmächtiger. Erst ganz allmählich lassen gesetzliche Vorgaben zur Interessenvertretung auf transnationaler Ebene – wie der Europäische Betriebsrat oder die europäische Zusammensetzung des SE-Aufsichtsrats – und die grenzüberschreitend organisierten Wertschöpfungsketten im Alltag eine europäische Identität in den Belegschaften entstehen. Hier liegt eine große Herausforderung an die Gewerkschaften, die bei ihnen organisierten Kolleginnen und Kollegen „europäischer“ auf ihre Rolle vorzubereiten und fortzubilden. Der Europäische Mitbestimmungsfonds und das damit verbundene Kompetenzzentrum Mitbestimmung beim Europäischen Gewerkschaftsinstitut sind dafür eine im EGB einstimmig gewollte gute Voraussetzung. 

WIE WEITER?

Die Diskussion über Regeln zielführender und angemessener Unternehmensführung hat nach dem offenkundigen Scheitern des liberalen Shareholder-Value-Modells in der Finanz- und Wirtschaftskrise neuen Auftrieb bekommen. Dass nur stärkere Aktionärsrechte die Nachhaltigkeit von Unternehmen fördern könnten, das glauben wohl nur noch die Hardcore-Ideologen in der London City oder in der Generaldirektion Binnenmarkt der Europäischen Kommission. Freilich: Einflussreich sind sie nach wie vor.

Die Reformulierung von guter Unternehmensführung steht auf der politischen Tagesordnung. Damit soll der Weg aus der Krise gefunden werden. Unternehmen und ihre Arbeitnehmer müssen und können zu Treibern für das Ziel einer europäischen Reindustrialisierung werden. Hierfür leistet die Studie gute Dienste. Sie liefert wertvolle Informationen aus dem Maschinenraum von Unternehmensführung, die mehr will, als Aktionäre und Investoren reich zu machen.

Es ist deshalb erfreulich, dass die Gewerkschaften in Europa die Debatte um die eigene Rolle für gute Unternehmensführung aufgenommen haben und dabei auch die Chancen einer obligatorischen Arbeitnehmervertretung an der Unternehmensspitze (wieder-)entdeckt haben. Der EGB wird dadurch mehr politischen Rückenwind bekommen für sein Ziel, die europäische Politik zu einer substanziellen Verankerung der „Voice of Labour“ im europäischen Gesellschaftsrecht zu bewegen. 

Vor allem aber zeigt die Studie, dass die Interessenvertretung von Arbeitnehmern in Aufsichts- und Verwaltungsräten keine Ausnahme, sondern ein Kennzeichen europäischer Arbeitsbeziehungen ist. Sie kann deshalb genutzt werden, um dies auch gegenüber der EU-Kommission deutlich zu machen, die in ihren Richtlinienvorschlägen zum Unternehmensrecht diese Realität systematisch ignoriert und außerdem regelmäßig mit neuen Vorschlägen für europäische Rechtsformen kommt, die geeignet sind, die Praxis der Unternehmensmitbestimmung zu unterminieren. Der aktuelle Vorschlag für eine „Europäische Einpersonengesellschaft“ – siehe Seite 6 – ist dafür ein besonders krasses Beispiel. Diese Politik ist umso unverständlicher, als die EU-Kommission selber das Ziel einer nachhaltigen Unternehmensführung vorgegeben hat. Ein besonders nahe liegendes und europaweit erprobtes Mittel übersieht sie dabei: die Mitbestimmung in Aufsichts- und Verwaltungsräten.

Norbert Kluge leitet die Abteilung Mitbestimmungsförderung und Stefan Lücking ist Referatsleiter „Mitbestimmung im Wandel“ in der Abteilung Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung

Studie: Die Stimme der Arbeit

Das durch die Hans-Böckler-Stiftung geförderte Projekt „Corporate Governance and the Voice of Labour“ haben die Industriesoziologen Jeremy Waddington und Aline Conchon in den Jahren 2009 bis 2013 am Europäischen Gewerkschaftsinstitut durchgeführt. Kern des Projekts war eine Umfrage unter Arbeitnehmervertreterinnen und -vertretern in den Aufsichts- und Verwaltungsräten in 16 EU-Mitgliedstaaten und Norwegen. Für die Auswertung wurden diese Länder in sechs Ländergruppen eingeteilt, die jeweils über ähnliche Regelungen zur Interessenvertretung im Aufsichts- oder Verwaltungsrat und einen gemeinsamen institutionellen Kontext verfügen: „Deutschsprachige“: Deutschland und Österreich; „Nordische“: Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden, die Niederlande; „Frankophone“: Frankreich und Luxemburg; „Neue Mitgliedstaaten“ (NMS): Tschechische Republik, Ungarn, Polen, Slowakei und Slowenien; „IGS“: Irland, Griechenland und Spanien. Die „Europäischen Aktiengesellschaften“ (SE) bilden als europäische Rechtsform eine eigene Gruppe.

Insgesamt wurden 17 430 Fragebögen an Arbeitnehmervertreter in Aufsichts- und Verwaltungsräten sowie knapp 10 000 an Unternehmen verschickt. Der Rücklauf betrug rund 24 Prozent. Eine umfangreiche Auswertung wird im Frühjahr 2015 vorliegen. Erste Ergebnisse sind in der kürzlich erschienenen Broschüre „Benchmarking Working Europe 2014“ des Europäischen Gewerkschaftsinstituts veröffentlicht. Hier als kostenloser Download. 

Mehr Informationen über den Europäischen Mitbestimmungsfonds und das damit verbundene Kompetenzzentrum Mitbestimmung gibt es beim Europäischen Gewerkschaftsinstitut.

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