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Magazin Mitbestimmung

Analphabeten: Die Furcht vor dem Auffliegen

Ausgabe 05/2014

In Deutschland leben rund 7,5 Millionen Menschen, die nicht schreiben und lesen können. Mehr als die Hälfte von ihnen ist berufstätig. Für sie baut der DGB ein Unterstützungsangebot auf – direkt am Arbeitsplatz. Von Michaela Ludwig

Uwe Boldt schiebt den Kugelschreiber zurück in die Brusttasche seiner Sicherheitsjacke. Über das Blatt Papier zieht sich nun sein Name. Mit Daumen und Zeigefinger rückt er die Brille zurecht. In den bald vier Jahrzehnten, die er als Hafenfacharbeiter auf den Terminals der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) arbeitet, hat er so ziemlich alles verladen: von Holzkisten mit Bananen über riesige Schiffsschrauben bis hin zu Containern mit explosiven Inhalten. Der 55-Jährige fährt Gabelstapler oder bedient den Joystick weit oben in den Kabinen von Bahnkran und Containerbrücke. Mit seiner Unterschrift hat er nun dokumentiert, dass er die neue Unfallverhütungsvorschrift zur Inbetriebnahme von Gabelstaplern zur Kenntnis genommen hat. 

Uwe Boldt hat nicht nur seinen Namen unter das Dokument geschrieben. Tatsächlich hat er auch verstanden, was er tun muss, um Unfälle zu vermeiden. „Ich lese nicht schnell, aber ich kann lesen“, sagt er selbstbewusst und betont das „Können“. Früher konnte er Texte wie diesen nicht lesen, geschweige denn verstehen. Laufzettel ausfüllen, Container labeln – bei all diesen scheinbaren Selbstverständlichkeiten brach ihm der kalte Schweiß aus. Uwe Boldt war ein sogenannter „funktionaler Analphabet“. So werden Menschen bezeichnet, die nicht ausreichend lesen und schreiben können, um die Anforderungen des alltäglichen Lebens und einfacher Erwerbstätigkeit zu meistern. 

EINE STUDIE SCHLÄGT ALARM

Die Hamburger Erziehungswissenschaftlerin Anke Grotlüschen und ihr Team haben 2011 in der bundesweit ersten Studie zu funktionalem Analphabetismus herausgefunden, dass rund 7,5 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland trotz Schulbesuch nicht richtig lesen und schreiben können. Die Zahl sorgte in Politik und Öffentlichkeit für Aufregung, immerhin ist demnach ein Siebtel der Gesamtbevölkerung betroffen – der deutschsprachigen Bevölkerung. Handy- und Arbeitsverträge, Rezepte und Arbeitssicherheitsunterweisungen sind für sie reine Buchstabendschungel. Undurchdringlich und furchteinflößend. „Diese Menschen sind nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben in angemessener Form teilzunehmen“, sagt Anke Grotlüschen. 

Eine weitere Zahl hat die Experten überrascht: 57 Prozent der funktionalen Analphabeten stehen mit beiden Beinen im Arbeitsleben, das sind 4,3 Millionen Menschen. Drei Viertel von ihnen arbeiten sogar in Vollzeit. „Damit konnten wir die bis dahin verbreitete Annahme widerlegen, dass funktionale Analphabeten aus dem Erwerbsleben ausgeschlossen sind“, so Grotlüschen. Die Betroffenen arbeiten als Bauhilfsarbeiter, Reinigungskräfte, Transport- und Frachtarbeiter, Köche, Maler oder Verkäufer. Wenige haben es wie Uwe Boldt zum Facharbeiter oder in die Verwaltung geschafft.

Die Suche nach Interviewpartnern unter den Betroffenen ist schwierig, zu groß sind Angst und Scham. Lediglich eine Handvoll erfolgreicher ehemaliger funktionaler Analphabeten wie Uwe Boldt ist bereit, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Wie alle anderen ist er neun Jahre zur Schule gegangen. Ob es an den viel zu großen Klassen, desinteressierten Lehrern oder der fehlenden Unterstützung von zu Hause lag, das weiß er nicht. Erst hinkte er hinterher, dann verlor er den Anschluss. Das Lachen der Mitschüler hallt bis heute in seinen Ohren. Obwohl sein Zeugnis von Fünfen und Sechsen strotzte, ist er nicht ein einziges Mal sitzen geblieben. „Ich wurde immer wieder aus pädagogischen Gründen versetzt“, so Uwe Boldt. Die Schule verließ er ohne Abschluss.

Im Hafen begann Uwe Boldt als Papierbote, brachte Frachtzettel von den Lagerschuppen zum Büro in der Speicherstadt. Dann kam er zum Eurokai, schaffte die Prüfung zum Hafenfacharbeiter. „Klar hat man Angst um seinen Arbeitsplatz, wenn es herauskommt“, beschreibt Uwe Boldt den täglichen Kraftakt. „Ich habe immer versucht, mich durchzumogeln und möglichst wenig zu schreiben.“ Vieles konnte er durch sein gutes Gedächtnis ausgleichen. Ein schwarzes Notizbuch war sein ständiger Begleiter. In Blockbuchstaben hatte seine Schwester all die Wörter notiert, die er für den Papierkram am Terminal brauchte. „Das habe ich dann einfach abgeschrieben.“ Wenn es eng wurde, konnte er sich auf zwei eingeweihte Kollegen verlassen, die Textpassagen vorlasen oder unterschiedliche Verwendungszwecke farblich kennzeichneten. 

DGB BAUT MENTOREN-NETZWERK AUF

Alarmiert durch die Zahlen der Hamburger Studie haben auch Bund und Länder endlich die gesellschaftliche Relevanz erkannt. Ende 2011 verkündeten Bundesbildungsministerium und Kultusministerkonferenz eine „nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ und stellten 20 Millionen Euro bereit. Auch der DGB hat sich der „nationalen Strategie“ angeschlossen. „Lesen und Schreiben sind der Schlüssel zum Arbeitsmarkt“, sagt Matthias Anbuhl, Leiter der Abteilung Bildungspolitik beim DGB-Bundesvorstand. Durch die Nähe zu den Betroffenen könnten Gewerkschaften eine Schlüsselfunktion übernehmen, ist der Bildungsexperte überzeugt. „Die Kollegen haben Angst vor Entdeckung und, damit verbunden, vor dem Verlust des Arbeitsplatzes“, sagt er. „Es sind die Gewerkschaften, die ihnen den nötigen Schutzraum geben können, um sich zu öffnen.“ 

Gemeinsam mit Jens Nieth vom DGB-Bildungswerk in Düsseldorf hat Matthias Anbuhl vor knapp zwei Jahren das Projekt „Mento“ auf den Weg gebracht – und damit einen ersten Versuch gestartet, funktionale Analphabeten an ihrem Arbeitsplatz zu erreichen. „Wir wollen in den Betrieben Netzwerke aus Betriebsräten, Vertrauensleuten und ganz normalen Kollegen schaffen, denen sich die Betroffenen anvertrauen können“, erläutert Jens Nieth das Konzept. Dafür werden Mentoren als Ansprechpartner und Wegbegleiter ausgebildet sowie Lernberater, die betroffene Kollegen im nächsten Schritt in die passenden Lernangebote vermitteln. Finanziert wird das Projekt bis 2016 aus Mitteln des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung.

Auf Unterstützung wie diese hat Wolf-Dietrich Rupp lange gewartet. Als eine „Mento“-Mitarbeiterin das Projekt im vergangenen Jahr dem DB-Services-Nord-Betriebsrat vorstellte, hat sich der Sicherheitsingenieur sofort angemeldet. Der Koordinator für die Gebäudereiniger-Ausbildung am Standort Nord erlebt immer wieder Mitarbeiter mit Lese- und Schreibproblemen. „Wir haben hohe Abbruchquoten unter den Auszubildenden und in den Lehrgängen zur Externenprüfung“, berichtet Rupp. „Trotz Nachhilfeangebot.“

Die Reinigungsbranche ist laut der Hamburger Studie mit 41 Prozent nach dem Bauhauptgewerbe am stärksten betroffen. „Ich halte die Zahl für noch höher“, sagt Wolf-Dietrich Rupp mit Nachdruck. Die Branche hat bereits darauf reagiert und ein eigenes Leitsystem entwickelt, das auf Farben anstelle von Schrift setzt. Rot steht für den WC-Bereich, auf Eimern, Lappen oder Reiniger, Blau für alle anderen Oberflächen. Doch anders als viele Vorgesetzte gibt sich Wolf-Dietrich Rupp mit dieser Form der schriftfreien Kommunikation nicht zufrieden. „Ich erwarte von meinen Mitarbeitern, dass sie Sicherheits- und Betriebsanweisungen verstehen, Bestellungen notieren und das Schichtbuch führen können“, sagt der Bahn-Mann. Doch er weiß auch, wie heikel das Thema ist. „In der Mentoren-Ausbildung habe ich gelernt, dass man die Betroffenen mit viel Fingerspitzengefühl ansprechen muss, nicht mit der Tür ins Haus fallen darf“, unterstreicht er. 

NEULAND FÜR BETRIEBSRÄTE

Bisher haben DGB und DGB-Bildungswerk 39 Mentoren und acht Lernberater in den Bezirken Nord, Berlin, NRW und Hessen-Thüringen ausgebildet, angestrebt sind 150. „Wir wollen mit den Mentoren dorthin, wo wir die Betroffenen vermuten, also an den Hochofen, an die Drehbank und auf die Baustelle“, sagt Jens Nieth. Für viele Betriebe ist das Thema Neuland. „Häufig hören wir: Das gibt es bei uns nicht“, berichtet Nieth. Er beobachtet aber auch, dass sich Betriebsräte, Geschäftsführungen und Personalverantwortliche in den Unternehmen allmählich dem Thema öffnen. Als erstes Großunternehmen hat die ThyssenKrupp Stahl AG jetzt das „Mento“-Projekt ins Werk geholt.

Duisburg-Hamborn. Mit 15 Mentoren und drei Lernberatern ist der Grundstein für ein Netzwerk in dem rund 13 000 Mitarbeiter zählenden Konzern gelegt. Im Herbst vergangenen Jahres haben die IG-Metaller in zwei Workshops gelernt, woran sie funktionalen Analphabetismus bei Kollegen erkennen und mit welchen Strategien diese versuchen, das Schreiben und Lesen zu vermeiden. Und sie haben erfahren, wie das System der Helfer, sogenannter „Mitwisser“, funktioniert. Auch Uwe Boldt hat von seinen Erfahrungen berichtet. 

„Im Herbst wollen wir weitere 15 Kollegen schulen“, erzählt Betriebsrat Peter Trube, der „Mento“ bei ThyssenKrupp initiiert hat. Die Ergebnisse der Hamburger Studie haben ihn alarmiert. „Da wurde mir klar, wie hoch der Anteil an funktionalen Analphabeten bei uns sein muss“, so Peter Trube. Diese Kollegen brauchten Unterstützung, denn ihre Arbeitsbereiche seien am ehesten von Arbeitsplatzabbau betroffen. Erleichtert wurde die Initiative durch eine Unternehmenskultur mit lebendigen Mitbestimmungsstrukturen, zu denen beispielsweise auch 150 ehrenamtliche gewerkschaftliche „Kulturmittler“ gehören. Die arbeiten am Hochofen, in Werkstätten, am Hafen und in der Verladung und greifen bei interkulturellen Problemen vermittelnd ein. Diese engagierten Kollegen bilden das Rückgrat des Mentoren-Netzwerks.

Ralf Bussmann und seine Frau Elke sind Mentoren der ersten Stunde. Für die Aufgabe gemeldet haben sie sich, weil sie das Problem aus ihrem eigenen Umfeld kennen. „Wir erzählen allen, dass wir jetzt Ansprechpartner für Kollegen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten sind, so kommt man schnell ins Gespräch“, sagt Ralf Bussmann. Und berichtet von ersten Erfolgen bei der Sensibilisierung für das Problem auch bei Vorgesetzten. „Der Obermeister hat unsere Schicht zusammengerufen und uns informiert, dass es jetzt Pflicht ist, wegen der Gabelstapler Schutzschuhe zu tragen“, erzählt er. Damit war auch dem Kollegen, der nicht lesen und schreiben kann, geholfen. „Früher hätte der Meister in der Teambesprechung angekündigt, dass es eine neue Arbeitsanweisung gibt und wir sie am Schwarzen Brett nachlesen sollen.“ 

Die Mentoren werden einen langen Atem brauchen. Auch wenn sich ein Kollege geoutet hat, ist sein weiterer Lernweg ungewiss. Die Mentoren können ihn auf diesem Weg nur begleiten. Und nicht alle bleiben bei der Stange. So brach ein junger Kollege aus der Verwaltung, der einem Mentor gegenüber seine Lese- und Rechtschreibschwäche gerade erst offenbart hatte und an einen Dozenten von der VHS vermittelt wurde, den Kontakt wieder ab.

Deswegen setzt Betriebsrat Trube nicht nur auf individuelle Begleitung von Betroffenen, sondern will auch Strukturen verändern. In Gesprächen hat er die Kollegen aus dem Fachbereich Bildung aufmerksam gemacht, dass „wir unsere Schulungs- und Weiterbildungsangebote daraufhin überprüfen müssen, ob sie auch für Kollegen mit Lese- und Schreibproblemen tauglich sind“, so Trube. Dabei kann er auf die Unterstützung des Arbeitgebers zählen. Denn nicht nur beim Betriebsrat, auch beim Vorstand des Stahlproduzenten ist das Angebot des DGB auf offene Ohren gestoßen. „Natürlich ist auch ThyssenKrupp betroffen. Jeder von uns kennt ein Beispiel aus seinem Arbeitsumfeld“, sagt Arbeitsdirektor Thomas Schlenz. „Wir müssen Türen öffnen und die Mitarbeiter mit Grundbildungsdefiziten zurück ins Boot holen.“ Dafür stellt der ehemalige Konzernbetriebsratschef konkrete Unterstützung in Aussicht: „Bei entsprechender Nachfrage ist es vorstellbar, dass ThyssenKrupp Grundbildungskurse in die betriebliche Weiterbildung integriert.“ Der Vorteil: Der Kurs wäre den Schichten angepasst und die Teilnehmer dafür freigestellt.

Jens Nieth vom DGB-Bildungswerk begrüßt diese Bereitschaft, gibt aber gleichzeitig zu bedenken: „Voraussetzung dafür ist, dass sich die Arbeitnehmer outen müssen. Doch solange keine Betriebsvereinbarungen existieren, die den Rechtsrahmen für diese Kollegen klären und ihren Arbeitsplatz sichern, kann das riskant sein.“

BITTERE EINSICHT AM ANFANG

Dass er mit dem „Computerzeug“ nicht mehr klarkam und mit dem Durchmogeln an Grenzen stieß, stellte Uwe Boldt fest, als er auf den hochmodernen Hamburger Containerterminal Altenwerder versetzt wurde. „Da habe ich gemerkt, dass ich was tun muss.“ Er outete sich in seiner Arbeitsgruppe und begann, vorsichtig nach Hilfe zu suchen. Durch Zufall erfuhr er von den Lese- und Schreibkursen bei der Volkshochschule – und meldete sich an. Den Kurs besucht er nun seit zwölf Jahren – wenn der Schichtplan es erlaubt. Doch diesen Weg beschreiten nur wenige Betroffene: Derzeit besuchen gerade mal rund 20 000 Menschen entsprechende Kurse bei den Volkshochschulen.

Mehr Informationen

 Ziele und Aktivitäten des Netzwerks „Mento“ mit Kontaktadressen im Netz

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