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Magazin Mitbestimmung

Ausbildungsmarkt: Yilmaz oder Schultheiß – wenn der Name entscheidet

Ausgabe 05/2014

Jugendliche fallen nicht nur wegen schlechterer Startchancen aus dem System. Sie werden schlicht deshalb diskriminiert, weil sie anderer Herkunft sind. Von Jeannette Goddar

Hakan und Tim sind sich in vielem, um nicht zu sagen allem, sehr ähnlich. Beide sind 16, in Deutschland geboren, haben einen überdurchschnittlichen Realschulabschluss. Sie haben eine fehlerfreie Bewerbung abgeliefert, in der sie auf ihre Praktika wie auch auf ihr ehrenamtliches Engagement hinweisen. Sie sind also nicht nur attraktive Bewerber für einen Ausbildungsplatz zum Kfz-Mechatroniker, es dürfte den Arbeitgebern auch noch schwerfallen, sich für einen zu entscheiden. Irrtum! Während Tim Schultheiß in jedem vierten Fall zum Gespräch gebeten wurde, musste Hakan Yilmaz sieben Bewerbungen schreiben, um einmal eingeladen zu werden.

Die Probe aufs Exempel gemacht hat der Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Die Forscher schickten 3500 fiktive und nahezu identische Bewerbungen an rund 1800 Unternehmen, um die Chancen von Kindern deutscher und türkischer Eltern auf einen Ausbildungsplatz zu vergleichen. Und als wären die Erkenntnisse nicht schon befremdlich genug, setzten die Forscher noch eins drauf, wie sie bei der Vorstellung der Ergebnisse in Berlin berichteten: Um auszuschließen, dass einem wegen seines Äußeren der Vorzug gegeben wird, haben sie Hakans und Tims Bilder bei jeder zweiten Bewerbung getauscht – und darauf geachtet, dass der türkische Name leicht auszusprechen ist.

Es nützte nichts. Die Bewerber mit dem türkischen Namen wurden nicht nur seltener eingeladen. Sie erhielten auch seltener eine Antwort und wurden, wenn sie eine erhielten, häufiger geduzt. Leicht verbessern konnten sie ihre Lage, wenn sie sich nicht als Kfz-Mechatroniker, sondern als Bürokaufmann bewarben. Einen deutlicheren Unterschied machte, ob sie ein großes oder kleines Unternehmen anschrieben: Kleine und mittelständische Betriebe bevorzugten weit häufiger den Bewerber mit dem deutschen Namen. 

FAKTOR HERKUNFT

Die Studie des SVR stößt in die gleiche Kerbe wie der Berufsbildungsbericht, der im Auftrag des Bildungsministeriums die Lage auf dem Ausbildungsmarkt unter die Lupe nimmt: Der wies bereits 2010 darauf hin, dass der Faktor Herkunft auch bei gleicher Motivation und Qualifikation bestehen bleibt, und zwar besonders zuungunsten mancher Migrantengruppen: So benötigen Jugendliche türkischer und arabischer Herkunft ein Abitur, um die gleichen Chancen zu haben wie ein Osteuropäer mit Hauptschulabschluss. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, fand bei der Vorstellung der SVR-Studie deutliche Worte dafür: „Diese Befunde gehen so nicht. Und die Antworten können nicht nur bei den Jugendlichen liegen.“ Tatsächlich ist damit erwiesen, dass Jugendliche nicht nur wegen schlechterer Startchancen und ungenügender Förderung aus dem System fallen. – Die gibt es auch, Jutta Roitsch hat sie in einem eindrücklichen Buch zu Wort kommen lassen (siehe Seite 44). – Jugendliche anderer Herkunft werden auch einfach deswegen diskriminiert, weil sie anderer Herkunft sind.

Aber woran liegt das? Statt plumpem Rassismus haben die Forscher eine Reihe von Ursachen ausgemacht. „Menschen tendieren dazu, Menschen auszuwählen, die ihnen ähnlich sind“, konstatierte Jan Schneider, Leiter des SVR-Forschungsbereichs, „dazu kommen Befürchtungen wie: Was werden die Kunden denken? Werden die Kollegen damit klarkommen?“ Auch fehlende Erfahrung spielt eine Rolle. Über zwei Drittel aller Ausbildungsbetriebe in Deutschland beschäftigen nach wie vor keine Azubis mit Migrationshintergrund; das gilt insbesondere für kleinere Betriebe. 

Für Jugendliche hat das, was sie erleben, Auswirkungen bis hin zur Selbstaufgabe: „In der Psychologie kennen wir das Konzept der erlernten Hilflosigkeit“, erklärte der Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung, Haci Halil Uslucan. „Wer zweimal scheitert, lernt: Das schaffe ich nicht – und ist in Folge weniger motiviert und bringt weniger Energie auf.“ Uslucan wies auch darauf hin, inwieweit Schulen an der Schwächung der Selbstwirksamkeit beteiligt sind: Von 21 angehenden türkeistämmigen Lehrern, die er unterrichte, hätten ganze drei eine Gymnasialempfehlung erhalten. 

Nun mehren sich die Stimmen, die anonymisierte Bewerbungsverfahren fordern. Özoguz spricht sich dafür aus, ebenso die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders. Gute Erfahrungen mit Bewerbungen, in denen das Deckblatt mit persönlichen Daten im ersten Durchgang getrennt wird, hat man in einem Modellprojekt in Baden-Württemberg gemacht. „Wir haben uns gefragt: Sind wir objektiv genug?“, erzählte Stefan Bürkle, Geschäftsführer eines Ingenieurbüros für Elektrotechnik, das daran teilnahm. „Jetzt laden wir die ein, die uns von ihrem Profil her interessieren. Wir wollen Menschen kennenlernen. Die Herkunft interessiert uns nicht.“ Özoguz kündigte an, den Ausbildungsmarkt und seine Diskriminierung zum Thema auf dem nächsten Integrationsgipfel im Bundeskanzleramt zu machen.

FELD FÜR GEWERKSCHAFTEN

„Die Nachteile entstehen vor allem beim ersten Screening“, bestätigt auch Jutta Höhne vom WSI in der Hans-Böckler-Stiftung. Sie und WSI-Arbeitsmarktexpertin Karin Schulze Buschoff wiesen bei einer Tagung von WSI und ver.di zu „Beschäftigungschancen für Menschen mit Migrationshintergrund“, wenige Tage nach Veröffentlichung der SVR-Studie, darauf hin, dass die Ungleichheit weit über den Ausbildungsmarkt hinausgeht: So bleibt der Arbeitsmarkt auch in Zeiten von Fachkräftemangel und neuer Zuwanderung vor allem Hochqualifizierter überaus gespalten: Auf fünf arbeitslose Männer ohne Migrationshintergrund kommen zehn mit, bei Frauen liegt das Verhältnis bei fünf zu neun. Handlungsbedarf machten die WSI-Expertinnen auf einer Reihe von Ebenen aus: bei Anerkennung wie Akzeptanz im Ausland erworbener Bildungsabschlüsse, Sprachförderung und Weiterbildung wie auch in der Beratung, insbesondere von atypisch Beschäftigten. Dass Letzteres auch ein Feld für Gewerkschaften ist, machte WSI-Gastwissenschaftlerin Ines Wagner deutlich: „Wer im Rahmen des Arbeitnehmerentsendegesetzes nach Deutschland kommt, bekommt in aller Regel nie einen Gewerkschafter zu sehen.“

Eva Maria Welskop-Deffaa, im ver.di-Bundesvorstand zuständig für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, attestierte selbstkritisch „Handlungsbedarf“ – dem Handlungen folgen sollen. So sollen die Themen Ausbildungsabbrüche und Diskriminierung noch im Frühsommer gewerkschaftsintern und bundesweit erörtert werden: „Wir werden unsere Leute fragen, wie sie das erleben und wo wir diese Jugendlichen unterstützen können.“ Diskutiert werden sollen auch Coaching-Angebote für Betriebsräte und Vertrauensleute und eine bessere gewerkschaftliche Begleitung von Jugendlichen. Gewerkschaften, so Welskop-Deffaa, seien „Seismografen typischer Arbeitsmarktrisiken. Und zurzeit erleben wir, dass wir eine große Gruppe von Menschen stärker in den Blick nehmen müssen.“

Dafür spricht auch, dass Migranten und deren Nachwuchs sich genau wie andere starke Gewerkschaften wünschen. Welskop-Deffaa zitierte aus einer noch unveröffentlichten ver.di-Umfrage, laut der vier von fünf Menschen mit Migrationshintergrund glauben, Gewerkschaften könnten die Lage von Arbeitnehmern verbessern. Nahezu jeder (98 Prozent) erwartet den Einsatz für sichere Arbeitsplätze, neun von zehn den Kampf um bessere Löhne. In deutlichem Gegensatz dazu steht der Kontakt: Mit 37 Prozent der Männer und 26 Prozent der erwerbstätigen Frauen mit Migrationshintergrund gab nur eine Minderheit an, jemals von der Gewerkschaft angesprochen worden zu sein. „Diese Lücke“, kündigte Welskop-Deffaa an, „wollen wir schließen, und zwar nachvollziehbar und ehrlich.“

Interview-Band: Wenn es klickt

Die Bildungsexpertin und Journalistin Jutta Roitsch hat einfühlsam aufgezeichnet, wie eingewanderte Jugendliche in der Produktionsschule Offenbach ihr Leben meistern wollen, trotz vielfach dramatischer Lebensläufe.

Said, 20, hat es geschafft: Er lernt Zweiradmechaniker im ersten Lehrjahr. Nach einem Praktikum stellten die Kollegen trotz des, vorsichtig gesagt, holprigen Lebenslaufs fest: „Wir haben dich gesehen, du kannst gut arbeiten, du nimmst es ernst. Und dann hat es geklappt.“ Vorher, das lässt das Zitat vermuten, hat es lange Zeit nicht geklappt, und zwar nicht nur mit der Ausbildung. Said wurde in Deutschland geboren, zog aber nach Kindergarten und Vorschule nach Jordanien – und von dort wieder zurück. Die Grundschule brachte er, trotz seines holprigen Deutschs, mehr schlecht als recht zu Ende. Dann war Schluss. Er ging nicht mehr zur Schule, was keinem auffiel, weil er statt der Handynummer seiner Eltern seine eigene angab. Auch Briefe unterschrieb er selbst. Schließlich flog er von der Schule, schlug sich mit erpresstem Geld durch. Zurück brachten ihn zwei Dinge: „Irgendwann, ich glaube, das war mit 17, hab ich mir gedacht: Das kann doch nicht so weitergehen.“ Zweitens traf er im Jobcenter eine Mitarbeiterin, die an ihn glaubte. Said bekam einen Platz in der Produktionsschule in Offenbach. 

Erzählt hat der Sohn palästinensischer Eltern seine Geschichte der Journalistin Jutta Roitsch, die, wie sie selbst sagt, „ein halbes Jahrhundert älter ist“ als er, und die anderen Jugendlichen, die sie in dem Band „Irgendwann kommt dieser Klick“ ihre Geschichte erzählen lässt. Den größeren Teil des „halben Jahrhunderts“ hat Jutta Roitsch die bildungspolitische Berichterstattung in diesem Land geprägt wie kaum jemand, alleine 35 Jahre als Redakteurin der „Frankfurter Rundschau“. Nun, nach ihrer Pensionierung, interviewt sie also Jugendliche im Auftrag des Amtes für Arbeitsförderung in Offenbach mit dem Ziel, ein Modell vorzustellen, das in der Öffentlichkeit immer noch kaum bekannt ist: die Produktionsschule. Von denen gibt es bundesweit rund 100; sie bereiten Schüler – in aller Regel Schulvermeider mit wenig Perspektive – in einer einzigartigen Kombination aus Arbeit und Lernen auf den Beruf vor. Die Schüler lernen in kleinen Gruppen Schulfächer, aber auch soziale Fertigkeiten. Und sie produzieren in Lernwerkstätten in Kooperation mit der lokalen Wirtschaft Produkte für den freien Markt. 

Das aus Dänemark stammende Konzept setzt sich seit den 90er Jahren langsam auch in Deutschland durch; Vorreiter sind, nicht zuletzt wegen der geografischen Nähe, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Und eben Offenbach, wo rund 70 Jugendliche in sieben Werkstätten lernen. Die Produktionsschulen, die von der Stadt, der Arbeitsagentur und aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds finanziert werden, kooperieren mit der Wirtschaft; Unternehmen, Kammern und Handwerksverbände sitzen im Beirat. Angesichts der schwierigen Klientel ist ihr Erfolg beachtlich: Nach einer Studie des Deutschen Jugendinstituts schaffen es drei von vier Ex-Produktionsschülern binnen zwei bis vier Jahren auf den ersten Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt.

Die Interviews von Jutta Roitsch bieten einen selten nahen Einblick in das Leben von Jugendlichen, über die häufig und mit denen selten geredet wird: Da ist der 19-jährige Deniz, der mit neun zwischen lauter Siebenjährigen in die zweite Klasse eingeschult wurde, zwei Jahre später seine Mutter verlor, mit viel Mühe die Hauptschule schaffte, um festzustellen, dass ein Hauptschulabschluss kaum mehr wert ist als gar kein Abschluss. Oder die 20-jährige Anna, deren Mutter mit 15 in der Türkei an einen 35 Jahre älteren Mann in Deutschland verheiratet wurde und die wegen „familiärer Probleme“ mehrfach nicht versetzt wurde. 

Dass acht der neun Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben, liegt zum einen daran, dass diese in Offenbach – und längst nicht nur dort – in der Mehrheit sind. Es wirft aber auch einen Blick auf die Stolpersteine, die Jugendlichen aus Zuwandererfamilien häufig im Weg liegen. Und: „Deutschland ist ein Einwanderungsland. Aber es wird immer noch nicht darüber gesprochen, wer wen integriert und was dazu erforderlich ist“, sagt Jutta Roitsch im Gespräch. Dass das für die Gesellschaft wie im Einzelfall nicht immer einfach ist, stellt sie nicht in Abrede. Aber: „Wir müssen den Nachwuchs dieses Landes schon ein wenig mögen wollen.“

Arbeitsförderung Offenbach (Hrsg.): Irgendwann kommt dieser „Klick“: Offenbacher Produktionsschüler erzählen. Kostenloser PDF-Download unter http://bit.ly/1juc32O oder als Printausgabe bestellen: produktionsschule@offenbach.de

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