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Magazin Mitbestimmung

Rechtspolitik: Gesellschaftspolitischer Impulsgeber

Ausgabe 05/2014

Vom sozialen Europa bis zu Industrie 4.0: Beim Rechtspolitischen Kongress in Berlin diskutierten mehr als 700 Fachleute aus Wissenschaft, Politik, Gewerkschaften und Justiz über aktuelle Herausforderungen in Gesellschaft und Arbeitswelt. Von Joachim F. Tornau

Das Grußwort geriet zur Regierungserklärung. „Ich will dazu beitragen“, sagte Bundesjustizminister Heiko Maas, „der Rechtspolitik den Stellenwert zurückzugeben, den sie einmal hatte.“ Statt sich im „Kleinklein der Justizverwaltung“ zu erschöpfen, müsse sich moderne Rechtspolitik immer auch als Gesellschaftspolitik verstehen, erklärte der sozialdemokratische Ressortchef, als er den Rechtspolitischen Kongress eröffnete, den Friedrich-Ebert- und Hans-Böckler-Stiftung, der DGB und das Hugo Sinzheimer Institut der IG Metall am 25. und 26. März in Berlin ausrichteten. 

Um zu unterstreichen, was er damit meinte, verwies Maas auf die bisherigen Initiativen der Großen Koalition. Sein Parforceritt von der Mietpreisbremse über die Frauenquote in Aufsichtsräten bis zum Adoptionsrecht für homosexuelle Paare wurde von den mehr als 700 Teilnehmern der prominent besetzten Tagung mit freundlichem Applaus bedacht. Weit stärker allerdings fiel kurz darauf der Beifall für den Journalisten und Juristen Heribert Prantl aus: Das Mitglied der Chefredaktion der „Süddeutschen Zeitung“ interpretierte das Kongressmotto „Demokratisierung von Gesellschaft und Arbeitswelt“ grundsätzlicher als der Minister – und hielt ein flammendes Plädoyer für ein anderes, ein sozialeres Europa. „Das Vertrauen der Bürger tröpfelt nicht von Rettungsschirmen“, sagte Prantl. „Soziale Sicherheit schafft Heimat.“ Die EU müsse deshalb „Schutzgemeinschaft für die Bürger, nicht nur Nutzgemeinschaft für die Wirtschaft“ sein – und die sozialen Grundrechte „endlich ernst nehmen“ und in ihre Verträge integrieren.

Ins gleiche Horn stieß bei einer anschließenden Podiumsdiskussion auch der scheidende DGB-Chef Michael Sommer: Die europäische Krisenpolitik untergrabe nicht nur die Rechtsstaatlichkeit, weil sie ohne Rücksicht auf EU-Verträge und ohne demokratische Kontrolle durch das Europäische Parlament verfolgt werde, sie sei auch sozial verheerend, weil sie faktisch die Prekarisierung der Arbeit diktiere. „Was im Moment in Europa stattfindet“, sagte Sommer, „ist die Methode der brutalen Koordinierung.“ 

WIEDERBELEBTE TRADITION

Der Noch-DGB-Vorsitzende war es auch, der den Anstoß zu diesem Rechtspolitischen Kongress gegeben hatte. Genauer: zur Wiederbelebung einer Tradition, die die SPD 1965 mit der ersten derartigen Tagung in Heidelberg begründete und die später von der Friedrich-Ebert-Stiftung fortgeschrieben wurde. Acht Kongresse gab es, in unregelmäßigen Abständen, den letzten 2002. Danach war zwölf Jahre Pause, bis jetzt. Und auch wenn sich die Trägerschaft nun so erweitert hat, dass der neunte Rechtspolitische Kongress vielen als Premiere erschien: Der Anspruch ist der gleiche geblieben. Es sollen Impulse gegeben werden für eine soziale Rechtspolitik. 

Was das heißen kann, wurde in Berlin auf vielerlei Weise ausbuchstabiert. Nicht nur in Plenumsvorträgen und Podiumsdiskussionen, sondern auch in Streitgesprächen, bei denen gewerkschaftliche Gewissheiten gegen Einwände von Arbeitgeberseite zu verteidigen waren. Sogar Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer war gekommen, um sich der Debatte um die Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns zu stellen. 

Am intensivsten war die Auseinandersetzung, wenn es konkret wurde: In acht Foren diskutierten Wissenschaftler und Politiker, Richter und Anwälte, Gewerkschafter und Betriebsräte aktuelle rechtliche Herausforderungen im Detail. Und der thematische Bogen war weit gespannt: Um die Zukunft der Tarifautonomie ging es ebenso wie um Arbeitskämpfe bei Kirche und Diakonie, um flexible Rentenübergänge oder um ein „werteorientiertes Versammlungsrecht“, das gegen rechtsextreme Umtriebe helfen könnte. Gleich zwei Foren widmeten sich den Veränderungen der Arbeitswelt, die unter dem Schlagwort Industrie 4.0 verhandelt werden, also radikale Individualisierung der Produkte dank „intelligenter Fabriken“ mit noch mehr Flexibilität, noch mehr Digitalisierung – und einer neuen Arbeitsorganisation, bei der einzelne Schritte über das Internet an spezialisierte Dienstleister vergeben werden, möglicherweise sogar anonym (Crowdsourcing). 

Dass Betriebsräte bei einer derartigen Entwicklung vor schweren Aufgaben stehen, steht außer Frage. Die Bremer Rechtswissenschaftlerin Katja Nebe plädierte darum für eine „Aktualisierung“ des Betriebsverfassungsgesetzes, etwa um es auf soloselbstständige „Crowdworker“ zu erstrecken. Aber, so betonte sie: „Man sollte nicht nur nach dem Gesetzgeber rufen.“ Denn schon die bestehenden Rechte – zum Beispiel die Mitbestimmung bei Personalplanung, Gesundheitsschutz oder Betriebsänderungen – ließen sich durchaus nutzen. „Man muss die Vorschriften kreativ auslegen.“ 

Ganz ähnlich argumentierte im zweiten Forum, das sich mit der neuen Arbeitswelt auseinandersetzte, auch die Bremer Datenschutzbeauftragte Imke Sommer: „Wir haben technikneutrale Grundsätze, mit denen wir viele Probleme angehen können.“ Auch im Zeitalter von Facebook und Co. müsse sich jegliches Datensammeln an den Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und der Zweckbindung messen lassen. „Wer da eine Regelungslücke postuliert, will sie nutzen“, sagte Sommer. Der Frankfurter Datenschutzexperte Peter Wedde sprach sich gleichwohl dafür aus, Betriebsräten ein Mitbestimmungsrecht beim Beschäftigtendatenschutz zu geben. Außerdem müssten Arbeitnehmervertreter, aber auch Datenschutzorganisationen ein Verbandsklagerecht bekommen. „Sonst können nur die Beschäftigten selbst klagen – und das ist für sie natürlich ein hohes Risiko.“

VERWORRENE RECHTSLAGE

In welch großer Ferne Heribert Prantls soziales Europa liegt, verdeutlichte ein weiteres Panel: Es versuchte, die derzeit vor allem populistisch diskutierte Frage, inwieweit EU-Ausländer in Deutschland Anspruch auf Sozialleistungen haben (oder haben sollten), juristisch solide zu beantworten. Und es erwies sich: Das ist alles andere als leicht. Denn deutsches Sozialrecht, deutsches Aufenthaltsrecht, europäische Richtlinien und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) stehen teilweise im eklatanten Widerspruch zueinander. „Die Rechtslage ist überaus verworren“, sagte Christine Langenfeld, Verfassungs- und Europarechtlerin aus Göttingen und Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration. „Es ist kaum mehr möglich, rechtssichere Antworten zu geben, wer Hartz IV bekommt und wer nicht.“ Und dass die EU für mehr Klarheit und Transparenz sorgen werde, sei derzeit kaum zu erwarten, meinte Langenfeld.

Was daraus für die Gewerkschaften folgt, brachte der designierte DGB-Chef Reiner Hoffmann zum Abschluss der Tagung auf eine prägnante Formel: „Die soziale Frage“, sagte er in seinem rechtspolitischen Ausblick, „werden wir künftig nicht mehr national, sondern europäisch stellen müssen."

Mehr Informationen

 Materialien und Dokumentation der Tagung finden sich im Internet.

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