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Magazin Mitbestimmung

Partizipation: Hybrides Modell

Ausgabe 05/2014

In der italienischen Provinz Südtirol hat sich in den Unternehmen eine Arbeitnehmerbeteiligung nach deutschem und österreichischem Vorbild entwickelt. Eine Studie beleuchtet jetzt diesen unbekannten Mikrokosmos, in dem Betriebsvereinbarungen eine zentrale Rolle spielen.

In Südtirol gehen die Uhren anders als anderswo in Italien. In der bergigen Grenzregion spricht man Deutsch. Das gilt zumindest für 70 Prozent der Bevölkerung, knapp fünf Prozent sprechen Ladinisch, einen romanischen Dialekt, der vor allem in einigen Alpentälern zu Hause ist. Südtirol, auf Italienisch Alto Adige, ist die nördlichste Provinz der autonomen Region Südtirol-Trentin, die ihre Steuereinnahmen zu 90 Prozent unabhängig verwalten kann. Die italienische Bevölkerung macht heute etwas mehr als ein Viertel aus. Sie wurde zum großen Teil unter Mussolini angesiedelt. Die Faschisten bauten vor allem in Bozen große Waffen-, Metall- und Chemiefabriken und beschäftigten dort nur italienische Arbeiter. Die vertriebenen Deutschen siedelten sich nach dem Krieg wieder in den Tälern an. Die Trennung der beiden Kulturen hat in der Vergangenheit zu nationalistischem Extremismus auf beiden Seiten geführt. Noch immer fordern deutschsprachige Gruppierungen, die allerdings in der Minderheit sind, die Ablösung von Italien. Doch kann man heute von einer Koexistenz der Kulturen sprechen, auch wenn sich die Italiener oft von der Politik der regierenden Südtiroler Volkspartei benachteiligt fühlen. Nicht nur besondere Verwaltungsstrukturen haben sich in Südtirol entwickelt, Gleiches gilt auch für die Arbeitsbeziehungen.

LOKAL VERANKERTE UNTERNEHMENSKULTUR

Erstmals beleuchtet jetzt eine Studie des Arbeitsförderungsinstituts (AFI) aus Bozen diesen Mikrokosmos. Untersucht wurden die Arbeitsbeziehungen in allen Unternehmen der Region mit mehr als 50 Mitarbeitern – insgesamt rund 150 Betriebe. Die Ergebnisse gewähren einen Einblick in eine Unternehmenskultur, die auf Innovation, Qualifizierung und Partizipation setzt und die sozialpartnerschaftlich orientiert ist. Diese stärkere Konsenskultur entsteht einerseits durch die lokale Verankerung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Andererseits ist sie auch eine Notwendigkeit, um mit hochspezialisierten Produkten auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Die AFI-Studie beschreibt detailliert diese Umstände. Das Institut selbst hat seinen Sitz in der Provinzhauptstadt Bozen und ist in dem gläsernen Palazzo della Provincia untergebracht. Die neun Mitarbeiter des Institutes pflegen einen offenen Umgang mit der mehrsprachigen Kultur des Grenzgebietes. „Jede der Kulturen, die den Alltag in Südtirol bestimmen, hat positive Aspekte. Deshalb versuchen wir, sie alle einzubeziehen“, sagt Mario Vittorio Giovannacci, Vizedirektor des AFI und Autor der Studie. 

Giovannaccis Ergebnisse zeigen, wie die Grenzlage auf die Arbeitsbeziehungen abfärbt. In vielen Südtiroler Unternehmen existieren Gremien, die sich Betriebsräte nennen und direkt mit dem Management verhandeln, unterstützt von einer oder mehreren Gewerkschaften. Das ist erstaunlich, denn weder sieht das italienische Gesetz klassische Betriebsräte vor, noch sind die Gewerkschaften in Italien besonders sozialpartnerschaftlich eingestellt. Es ist neben den kulturellen Besonderheiten auch die besondere Gewerkschaftslandschaft Südtirols, die diese Kultur fördert. Stärkste Gewerkschaft ist hier nicht die CGIL, wie im Rest Italiens. In den deutschsprachigen Unternehmen spielen zwei sozialpartnerschaftlich orientierte Gewerkschaften die entscheidende Rolle: der Autonome Südtiroler Gewerkschaftsbund (ASGB), der nur deutsch- und ladinischsprachige Mitglieder organisiert, und die CISL. Beide Bünde haben historisch die gleichen Wurzeln. Der ASGB entstand 1964 als ethnische Abspaltung der CISL. 

In den Unternehmen, die das AFI untersucht hat, betreuen in der Regel beide Organisationen gemeinsam die Arbeitnehmervertretungen. Man steht hier auf italienischem Boden, und es gilt das italienische Arbeitnehmerstatut. Die Belegschaftsvertreter des Arbeitnehmerorganes RSU werden auf Gewerkschaftslisten vorgeschlagen und meist von allen Beschäftigten alle drei Jahre gewählt. Gesetzlich hat die RSU bei Themen wie Arbeitsbedingungen und Entlassungen ein Informations- und Anhörungsrecht, das aber oft umgangen wird. Die 1993 eingeführten und 2009 neu geregelten Lohnverhandlungen auf Betriebsebene sollen betriebsspezifische Situationen berücksichtigen. 

In den Fabriken Südtirols werden diese Betriebsverträge gezielt eingesetzt. Zumal in vielen deutschsprachigen Betrieben die RSU-Vertreter de facto wie Betriebsräte nach deutschem bzw. österreichischem Modell agieren. Denn sie verhandeln über Arbeitszeiten, die Arbeitsorganisation oder Prämiensysteme direkt mit dem Management, ohne die Vermittlung der Gewerkschaften, die hier eher eine Unterstützerfunktion haben. Dadurch bekommen einerseits die Belegschaftsvertreter mehr Einsicht in Unternehmensentscheidungen und mehr Handlungsspielraum. Die Arbeitgeber profitieren andererseits von einem niedrigeren Konfliktpotenzial. Solche Betriebsverträge existieren laut AFI heute in 42 Prozent der befragten Unternehmen, die meisten betreffen Entlohnung in Verbindung mit neuer Arbeitsorganisation. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich Formen „direkter Beteiligung“ (ohne Vermittlung einer Gewerkschaft, wie im deutschen System) und Formen „indirekter Beteiligung“ (mit Vermittlung einer Gewerkschaft, wie im italienischen System) nicht ausschließen, sondern produktiv ergänzen. 

BESUCH BEIM SKILIFTBAUER LEITNER

Maximilian Fink kennt jede Ecke in der Werkshalle, wo gerade dicke Stahlseile gezogen werden. Er arbeitet seit 20 Jahren für die Firma Leitner Ropeways in Sterzing/Vipiteno, die hier, am Fuß der Berge, komplette Seilbahnen fertigt. Vor einem Riesenrad aus Stahl, das an Charlie Chaplins Film „Moderne Zeiten“ erinnert, bleibt er stehen. „Diese Scheibe dreht später das Seil des Liftes. Die Hochsicherheitsteile machen wir alle selbst“, erklärt er. Der 40-Jährige ist Vorsitzender der sechsköpfigen betrieblichen Gewerkschaftsvertretung – vier gehören dem ASGB an, einer der CISL und einer der CGIL. Der Organisationsgrad im Betrieb liegt bei 30 Prozent.

Leitner gehört zu den Unternehmen, deren Firmenkultur das Bozener AFI jetzt untersucht hat. Der Betrieb ist Teil der gleichnamigen Konzerngruppe, einer der beiden Weltmarktführer der Branche. „Sie können bei uns ein komplettes Skigebiet bestellen“, erklärt Fink, der selbst im Materialeinkauf beschäftigt ist. In dem Konzern sind weltweit 3320 Menschen, in seinem Betrieb 635 Arbeiter und Angestellte beschäftigt. Die Gründer hatten 1888 als Maschinen- und Seilbahnbauer begonnen. Heute produziert der Familienkonzern auch Schnee- und Bergfahrzeuge, Kanonen für künstlichen Schnee und Anlagen für Windenergie.

Fink nennt sich Betriebsratsvorsitzender. Er wurde, wie überall in Italien, von den anderen RSU-Mitgliedern gewählt. Die Geschäftsleitung informiert ihn regelmäßig über die Lage des Unternehmens. Die Arbeitsbeziehungen spielen sich ab, als befände sich der Betrieb in Deutschland, nur dass die Mitbestimmungsrechte nicht gesetzlich, sondern per Vertrag begründet sind. Für seine Betriebsratsarbeit ist Fink acht Stunden im Monat freigestellt. 

Die Betriebsräte in Sterzing/Vipiteno sind die Aktivisten im Konzern, ihr großes Ziel ist ein Gesamtbetriebsrat. Das kann aber noch dauern. „Ich stoße bei den Kollegen oft auf Desinteresse. Viele kommen erst, wenn es Probleme gibt. Dann ist es zu spät“, sagt Fink. Bislang, berichtet er, gehe es seinen Leuten gut. Sie bekommen ein 14. Monatsgehalt, bezahlte Fehlzeiten für Arztbesuche mit den Kindern, regelmäßige Weiterqualifizierungen sowie eine Prämie für Produktivität und Produktqualität. „An den Seilbahnen hängen im wahrsten Sinne des Wortes Menschenleben. Da ist Qualitätskontrolle das höchste Gebot, und die Auslagerung von Komponenten kommt kaum infrage“, so Fink. 

Die Fertigung von Skiliften ist ein Saisongeschäft. In den Sommermonaten muss geklotzt werden. „Das schaffte bei manchen Beschäftigten Unmut“, sagt Fink. In solchen Fällen kommt jetzt dem Betriebsrat – wie auch in deutschen Unternehmen – eine Vermittlerrolle zu. Er handelt im Tausch gegen flexible Arbeitszeiten Prämien, Sozialleistungen und Informationsrechte aus. „In solchen Fällen beraten und unterstützen wir“, erklärt Herbert Unterfrauner von der CISL, die hier wie alle Gewerkschaften den Zusatz „Südtiroler Gewerkschaftsbund“ trägt. Solche Betriebsverträge, die in Italien seit 1993 zusätzlich zum Tarifvertrag abgeschlossen werden können, sind ad hoc und unbürokratisch möglich. Das ist der Vorteil. Der Nachteil: Ohne gesetzliche Verankerung können sie genauso schnell wieder gekündigt werden. Das ist aber, so eines der Ergebnisse der AFI-Forscher, eher die Ausnahme, wenn sich das System erst einmal etabliert hat.

BEI GKN SINTER METALS IN BRUNECK

Ein Unternehmen, das CISL-Gewerkschafter Unterfrauner besonders gut kennt, ist die GKN Sinter Metals in Bruneck. In der Niederlassung des englischen Multis rattern hochtechnologisierte Formpressen und Sinteranlagen. Hier werden Einzelteile für die Automobilindustrie und Elektromotoren aller Art gesintert, das heißt aus gepulvertem Mischmetall hergestellt. In dem Betrieb sind 534 Mitarbeiter beschäftigt. Es wird in einem Drei-Schicht-System rund um die Uhr in Qualitätszirkeln gearbeitet. Die Arbeitnehmervertretung, die sich auch hier Betriebsrat nennt, hat im Gegenzug überdurchschnittliche Sozialleistungen für die Betriebsangehörigen, eine Betriebskrankenkasse, einen Kindergarten und eine Produktionsprämie ausgehandelt.

„Unserer Erfahrung nach ist das Management offener, wenn es am Weltmarkt bestehen muss und stabile Verhandlungspartner braucht“, so Unterfrauner. Bei GKN Sinter Metals liegt der Organisationsgrad bei fast 50 Prozent. Der Betriebsratsvorsitzende Oswald Holzer, der viele Jahre auch im Eurobetriebsrat des Konzerns saß, ist, wie fünf der sechs Betriebsräte, Mitglied der CISL, einer ist ASGB-Mitglied. Sein oberstes Ziel ist die Beibehaltung des hohen Ausbildungsniveaus im Betrieb, der viel in technologische Innovation investiert. Die Qualifizierung ist Teil der Betriebsabkommen. „Das sichert die Zukunft unseres Standorts“, sagt er. 

Auch für Klaus Schier vom ASGB ist das Know-how der Südtiroler Arbeitnehmer, die wie in Deutschland und Österreich in einem dualen System von Praxis und Berufsschule ausgebildet werden, die beste Garantie gegen Auslagerung in Billiglohnländer, die in anderen Regionen Italiens zu einem Kahlschlag der Industrie geführt hat. „Gut ausgebildetes Fachpersonal ist ein Standortvorteil“, so Schier. 

APPELL ZUR EINIGKEIT

Auch die Vertreter der Arbeitnehmer benötigen für ihre Arbeit ein spezielles Know-how. Dabei spielt das AFI eine wichtige Rolle. Das Institut veröffentlicht regelmäßig Bilanzanalysen der Südtiroler Unternehmen und organisiert Seminare zu allen Aspekten der Arbeitswelt. Das vom AFI herausgegebene Handbuch für Belegschaftsvertreter ist ein Standardwerk, das alle Betriebsräte im Schrank stehen haben. 

Ein Problem sind in Südtirol wie auch anderswo in Italien die oft unterschiedlichen Positionen der großen Richtungsgewerkschaften. Mehr Einigkeit unter den Gewerkschaften würde auch der betrieblichen Beteiligung zugute kommen, glaubt Autor Giovannacci. Eines seiner Ergebnisse ist, dass dort, wo die Arbeitsbeziehungen als schwierig gelten, Konflikte zwischen Gewerkschaften an erster Stelle als Ursache genannt werden. Die Ergebnisse, schreibt er, seien „teilweise beeinflusst durch die jüngsten zwischengewerkschaftlichen Auseinandersetzungen auf nationaler Ebene“. Auch von den Arbeitnehmern geben nur 34 Prozent an, in der Gewerkschaftsarbeit eine einheitliche Strategie erkennen zu können. So heißt es in der Studie: „Sowohl Expertise als auch gewerkschaftliche Geschlossenheit erweisen sich als wichtige Faktoren, die die Bereitschaft zur Anwendung von partizipativen Praktiken fördern können.“ Seine Studie will ein Vorschlag sein, mehr Geschlossenheit und damit auch mehr Beteiligung zu erreichen.

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