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Magazin Mitbestimmung

Grundsicherung: Wie viel braucht der Mensch zum Leben?

Ausgabe 05/2014

Eine Böckler-Studie zeigt, wie angreifbar die statistischen Methoden zur Berechnung des ALG-Satzes noch immer sind. In der Praxis sind die Politiker findig darin, trotz neuer Methodik zum alten Ergebnis zu kommen. Die Gerichtsbarkeit stößt an Grenzen. Von Guntram Doelfs

Die Armut ist Gunter Rudniks täglicher Begleiter. Jeden Tag stehen Menschen vor dem hageren Berliner und kämpfen erbittert um ihr Recht. Sei es um ein paar Euro mehr in ihrer knappen Haushaltskasse oder gegen den jüngsten Bescheid der Jobagentur. Rudnik ist Vorsitzender der 55. Kammer am Landessozialgericht Berlin und muss täglich ausbaden, was der Gesetzgeber mit den Hartz-IV-Gesetzen angerichtet hat. Regelmäßig muss er darüber richten, ob ein Zuschuss wirklich notwendig, Leistungskürzungen rechtmäßig oder der aktuelle Hartz-IV-Regelsatz von 391 Euro (für Alleinstehende) die lebensnotwendigen Bedürfnisse des Empfängers tatsächlich abdeckt. Rudnik ist diese Pfennigfuchserei ums Existenzminimum zuwider. Mehr noch: Er hält die aktuellen Sätze von Hartz IV für politisch heruntergerechnet und damit schlicht für verfassungswidrig. 

2012 ist Rudnik deshalb selbst vor Gericht gezogen, genauer gesagt vor das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Dieses soll die aktuellen Regelsätze der Grundsicherung überprüfen – und damit auch die wissenschaftliche Methodik zur Berechnung der Regelsätze auf den Prüfstand stellen. Die Entscheidung des BVerfG über Rudniks Prüfungsantrag dürfte unmittelbar bevorstehen. Für ihn steht fest: „Das Grundgesetz formuliert das Grundrecht der Menschenwürde und fordert vom Staat die Sicherung der materiellen Existenz des Einzelnen. Es gibt aber keinen Sparauftrag für den Gesetzgeber in der Verfassung“, kritisierte er Anfang April auf der Fachtagung „Wie viel braucht der Mensch zum Leben?“ von DGB und Hans-Böckler-Stiftung in Berlin. Die einfache Frage ist in Euro und Cent jedoch schwierig zu beantworten. Alle Methoden zur Berechnung der Sätze unterliegen normativen Setzungen.

FISKALPOLITIKER GEGEN VERFASSUNGSRICHTER

So wie bisher kann es aber auch nicht weitergehen, meint Rudnik. Mit dieser Einschätzung ist der Berliner Richter nicht allein. Seit Jahren laufen Betroffene, Sozialverbände, Gewerkschaften und auch Sozialwissenschaftler Sturm gegen die von der Bundesregierung errechneten Regelsätze bei der Existenzsicherung. „Die jüngste Regelsatzerhöhung war lächerlich, das Existenzminimum ist damit nicht gewahrt. So werden die Einkommensschwächsten weiter abgehängt, was auf Dauer den Zusammenhang der Gesellschaft gefährdet“, warnte auf der gleichen Tagung DGB-Vorstandmitglied Annelie Buntenbach.

Der Grund für die zögerliche Haltung aller bisherigen Bundesregierungen ist aus Sicht des DGB klar. „Die Regelsätze sollen niedrig bleiben, damit Niedriglöhne weiter möglich sind“, so Buntenbach. Aber es geht nicht nur darum: 2012 kostete allein die Mindestsicherung 39 Milliarden Euro (ohne weitere Milliardenausgaben etwa bei Mietzuschüssen). Jeder zusätzliche Euro mehr beim Regelsatz treibt diese Summe weiter nach oben. Hinzu kommen Konsequenzen für die Einkommensteuer, wenn mit höheren Regelsätzen auch die Freigrenzen bei der Einkommensteuer steigen würden. Angesichts dieser Szenarien werden deshalb die verantwortlichen Beamten in den Ministerien ungewohnt kreativ und rechnen nach Auffassung von Wissenschaftlern mit subtiler statistischer Dialektik die Hartz-IV-Sätze klein. „Es scheint bei der Neuberechnung 2011 nicht um wissenschaftliche, ethische oder verfassungsgemäße Gesichtspunkte gegangen zu sein, sondern um reine Fiskalpolitik“, sagt Irene Becker, Mitautorin der neuen Studie „Das Grundsicherungsniveau: Ergebnis der Verteilungsentwicklung und normativer Setzungen“. Die Studie entstand im Rahmen eines Projektes der Hans-Böckler-Stiftung und wurde auf der Fachtagung vorgestellt.

Ihr Ausgangspunkt ist ein Urteil des Verfassungsgerichtes, das die Hartz-IV-Sätze schon einmal als „nicht verfassungsgemäß“ kassiert hatte. In ihrem Urteil vom 9. Februar 2010 akzeptierten die Richter grundsätzlich die Berechnung des Existenzminimums mittels eines statistischen Verfahrens, übten aber deutliche Kritik an der bis dahin geübten Methodik. So sei die Ermittlung der Sätze für Kinder fehlerhaft und zu niedrig; die regelmäßige Anpassung der Hartz-IV-Sätze auf Basis der Entwicklung der Rentenwerte sei „sachwidrig“ und müsste sich stattdessen am tatsächlichen Verbrauch orientieren. Auch bei der Festlegung von einzelnen Ausgaben habe es einfach Schätzungen ins Blaue gegeben, ohne Tatsachengrundlage. Zudem ignorierte der Gesetzgeber sogenannte Substitutionskosten: Werden Kosten für ein Auto nicht akzeptiert, müssten eigentlich Ausgaben für Busse und Bahnen angerechnet werden, was nicht geschah. 

Der Gesetzgeber habe aber „alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen“, so die Richter. Oder deutlicher formuliert: Überall, wo es gut passte, wurde im Ministerium normativ ins Blaue geraten und die Zahlen entsprechend hingebogen. Das Gericht fand das fragwürdig und erinnerte die Regierung daran, dass sich „die verfassungsrechtliche Pflicht zur Gewährleistung des Existenzminimums (…) nicht auf das ‚nackte Überleben‘ beschränken“ dürfe, sondern „auch die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen“ müsse.

Bis Anfang der 90er Jahre erfolgte die Berechnung der Regelsätze nach der sogenannten Warenkorbmethode. In diesem Korb wurden die zur Sicherung des Existenzminimums notwendigen Güter und Dienstleistungen festgelegt. Ein Verfahren, das regelmäßig für heftige Kontroversen sorgte, denn wer legt unter welchen Kriterien fest, welche dieser Güter und Dienstleistungen wie oft in den Warenkorb gehören? Ein Ansatz, der extrem anfällig ist für modische Zeitströmungen beim Konsumverhalten wie für politische Begehrlichkeiten – und damit wenig mit nachvollziehbarer wissenschaftlicher Methodik zu tun hat. Gehören etwa Zigaretten zum Grundbedarf dazu? Ein neues, besseres Berechnungsmodell musste also her. 

Seitdem wird das Existenzminimum auf der Basis von Auswertungen der sogenannten Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS) mit einem statistischen Modell berechnet. Die EVS stützt sich ihrerseits auf den Mikrozensus und beruht auf der Annahme, dass aus der statistischen Auswertung der Konsumausgaben niedriger Einkommensgruppen, in der Fachsprache Referenzgruppen genannt, der Mindestbedarf für das Existenzminimum abgeleitet werden kann. Bis zum Urteil des BVerfG 2010 wurden dazu die unteren 20 Prozent der Nettoeinkommen herangezogen unter Herausrechnung bereits beziehender Hartz-IV-Empfänger. Grund: Es würde das Ergebnis noch weiter nach unten ziehen, wenn man den geringen Konsum von Hartz-IV-Empfängern ausgerechnet für die Errechnung des notwendigen Bedarfs dieser Gruppe heranziehen würde – ein klassischer Zirkelschluss. 

STATISTIKSTREIT MIT DEM MINISTERIUM

Im Grundsatz halten sogar Kritiker der heutigen Hartz-IV-Sätze die empirisch-statistische Methode für richtig, weil sie einen wissenschaftlichen Ansatz verfolgt. Die Probleme beginnen jedoch damit, dass auch bei dieser Methode inhaltliche Setzungen gemacht werden, die je nach politischer Sichtweise mal als „wissenschaftlich begründet“, mal als „politisch intendiert“ bezeichnet werden. Fragwürdige Vorgaben gibt es nämlich auch beim Statistikmodell. Im Gegensatz zu Hartz-IV-Empfängern wird etwa die Gruppe der Einkommensschwachen, die auf oder unter Hartz-IV-Niveau leben, aber aus unterschiedlichen Gründen keine Grundsicherung beziehen, nicht ausgeschlossen. Jürgen Wiemers, der sich beim Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) mit dem Thema beschäftigt, hat mit IAB-Kollegen in Simulationsrechnungen die Quote dieser sogenannten „verdeckt armen“ Haushalte auf immerhin 34 bis 43 Prozent taxiert. 

Für Irene Becker handelt es sich daher nicht um eine vernachlässigbare Gruppe; diese hat „einen verzerrenden Effekt auf die Referenzgruppe“, so die Autorin der aktuelle Studie. Dennoch weigert sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), diese Gruppe auszuklammern, und begründet das damit, dass es keine empirisch gesicherten Daten über diese Gruppe gebe und Studien gezeigt hätten, dass verdeckt arme Haushalte „keineswegs mittellos“ seien, wie die Studie das Ministerium zitiert. Statistikexpertin Becker hält das Wehklagen über die angeblich unsichere Datenbasis für völlig überzogen. Diese, sagt sie, beruhe auf einem falschen Verständnis statistischer Analysen: „Man kann sicherlich nicht jeden verdeckt Armen finden. Man kann aber jene Gruppe eingrenzen, die mit Sicherheit zu den verdeckt Armen gehört. Es geht um die Abschätzung von Größenordnungen – und die eindeutigen Fälle.“

ES GIBT EINEN POLITISCHEN GESTALTUNGSSPIELRAUM

Auf die Kritik der Karlsruher Richter reagierte die Bundesregierung 2011 mit dem sogenannten Regelbedarfsermittlungsgesetz (RBEG). Rein formal „adressierte der Gesetzgeber zwar durchaus alle Kritikpunkte des Gerichts, aber kompensierte daraus resultierende Erhöhungen einfach durch methodische Änderungen“, sagt Reinhard Schüssler von Prognos und Co-Autor der Studie. Für das BMAS gehört das jedoch zum „politischen Gestaltungsspielraum“, den ihm das Gericht grundsätzlich eingeräumt hatte. Wie getrickst wurde und welche Auswirkungen das für die Betroffenen hat, legt die aktuelle Studie eindrucksvoll dar. Hätte das Ministerium lediglich die Vorgaben des Gerichts ohne weitere Veränderungen der früheren Methodik umgesetzt, hätte der Regelbedarf für alleinstehende Erwachsene um 27,76 Euro erhöht werden müssen. 

Mit der Änderung der Methodik wurden einfach auf Beschluss des BMAS sogenannte nicht notwendige Bedarfsgüter – etwa Alkohol, Tabak oder Schnittblumen – aus dem Regelbedarf herausgerechnet. In einem ersten Schritt wurden so 19,93 Euro der möglichen Erhöhung von 27,76 Euro gleich wieder einkassiert. Die populistische Streichung konnte der Öffentlichkeit gut verkauft werden. Unter den Tisch fiel, dass andere „anerkannte“ Güter eigentlich mit höheren Sätzen hätten einfließen müssen, um die vom Gericht geforderte soziale Teilhabe der Hartz-IV-Empfänger zu sichern.

Doch das Sparergebnis reichte dem Ministerium noch nicht. So blieben die verdeckt armen Haushalte erneut in der Referenzgruppe, die das Bundesministerium freihändig von den unteren 20 auf die unteren 15 Prozent verkleinerte. Resultat: Eine weitere Senkung „regelbedarfsrelevanter Ausgaben“ um 11,58 Euro. So gelang der Regierung das Kunststück, dass die senkenden Effekte der Methodenänderung um 3,75 Euro höher liegen als die – auf Basis der alten Methodik – notwendigen Erhöhungen infolge des Verfassungsgerichtsurteils von 2010. Mit dem Ergebnis, dass der für 2011 berechnete Hartz-IV-Satz nahezu auf dem Niveau von 2010 lag und die gestiegenen Lebenshaltungskosten nicht berücksichtigte.

HARTZ IV BEDEUTET 37 PROZENT DES DURCHSCHNITTS

Mit dem aktuellen Hartz-IV-Satz liegt der relative Lebensstandard von Alleinstehenden mit Grundsicherung laut Irene Becker nur noch bei 37 Prozent des gesamtgesellschaftlichen Durchschnitts. Dass damit die vom Verfassungsgericht geforderte gesellschaftliche Teilhabe möglich ist, sei „stark zu bezweifeln“, sagt die Wissenschaftlerin. Welche Auswirkungen es hätte, wenn die verdeckt armen Haushalte tatsächlich ausgeschlossen werden würden, wollen sie und Jürgen Wiemers in einem weiteren Forschungsprojekt genauer betrachten. 

Auf der Fachtagung präsentierte der IAB-Experte jedoch schon erste Ergebnisse. Danach rechnet er mit einem Effekt „im niedrigen zweistelligen Eurobereich“ für den Regelsatz. In der Gesamtbetrachtung würde – ohne statistische Tricks und gemäß BVerfG-Vorgaben – der Regelsatz sehr wahrscheinlich um mehr als 40 Euro höher liegen. Das Vorgehen des Ministeriums diskreditiert nach Auffassung der Experten zunehmend die gesamte Methode, auch wenn niemand zurück zum Warenkorbmodell will. Die Hoffnung, man könne bei der Berechnung der Hartz-IV-Sätze mit der empirisch-statistischen Methode eine wissenschaftlich einwandfreie Methode ohne politische Einflüsterungen entwickeln, ist für Jürgen Wiemers jedoch ein Trugschluss. „Es ist ein Irrglaube, dass das Statistikmodell wissenschaftlich eindeutige und belegbare Zahlen ohne jegliche normative Setzung liefert“, sagt der Experte der Bundesagentur. 

Dennoch hoffen Experten, die Sozialverbände und der DGB, dass die aktuelle Böckler-Studie zur wichtigen Argumentationshilfe für das Bundesverfassungsgericht wird, um die schlimmsten Auswüchse der Manipulationen der Bundesregierung zu kippen. Ob das Gericht sich jedoch auf eine vertiefte Diskussion der Methodik-Details einlassen wird, muss man erst einmal abwarten. Dass nach dem Urteil Ruhe an der Front einkehrt, ist ohnehin unwahrscheinlich. Der DGB fordert eine grundsätzlich andere Herangehensweise und schlägt eine unabhängige Kommission vor. Diese soll dem Gesetzgeber Vorschläge unterbreiten, die auf „eine Überprüfung und gegebenenfalls eine Ergänzung der EVS-Auswertung abzielen“, so Annelie Buntenbach. Ziel müsse sein, das Berechnungsverfahren aus „den Hinterzimmern der Bundesregierung herauszuholen“.

Mehr Informationen

 Dokumentation der Fachtagung im Netz.

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