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Magazin Mitbestimmung

Mindestlohn: Stärkung für Lohngefüge und Tarifsystem

Ausgabe 03/2014

Anfang April will Arbeitsministerin Andrea Nahles dem Kabinett einen Gesetzentwurf für einen Mindestlohn vorlegen. Vorgeschaltet ist eine Anhörung von Gewerkschafts- und Verbandsvertretern, die offene Fragen klären und Konflikte bei der Umsetzung minimieren soll. Von Reinhard Bispinck, Abteilungsleiter im WSI in der Hans-Böckler-Stiftung sowie Leiter des Tarifarchivs

Zum 1. Januar 2015 wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet eingeführt. Darauf einigten sich CDU, CSU und SPD Ende November 2013 in ihrem Koalitionsvertrag. Große Zufriedenheit bei den Gewerkschaften: Ihre seit rund zehn Jahren intensiv geführte Kampagne erreichte damit ihr zentrales Ziel. Scharfe Kritik dagegen vonseiten der Arbeitgeber: Sie qualifizierten den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn als „Eingriff in die Tarifautonomie“ und verlangten: „Wenn überhaupt, dann müssen Arbeitgeber und Gewerkschaften Lohnuntergrenzen miteinander vereinbaren“, heißt es im BDA-Geschäftsbericht 2013. 

Es ist also nicht verwunderlich, dass unmittelbar nach Abschluss der Koalitionsvereinbarung eine heftige Diskussion über die Ausgestaltung und Umsetzung des Mindestlohns einsetzte. Ein genauer Blick auf die Koalitionsvereinbarung zeigt: Eine ganze Reihe von Fragen sind noch offen.

WANN KOMMT DER MINDESTLOHN WIRKLICH?

Grundsätzlich soll der Mindestlohn zum 1. Januar 2015 eingeführt werden. Aber von dieser Regelung soll es mehrere Ausnahmen geben: Zunächst sollen die Mindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz davon unberührt bleiben. Bei diesen Mindestlöhnen handelt es sich um branchenbezogene Regelungen für zurzeit 13 Wirtschaftszweige von der Abfallwirtschaft bis zu den Wäschereidienstleistungen. Die meisten dieser Mindestlöhne liegen bereits über dem Niveau von 8,50 Euro. Ausnahmen bestehen in folgenden Branchen: Gebäudereinigung Ost (Innenreinigung): 7,96 Euro; Bewachungsgewerbe, einige Regionen West/Ost: 7,50 Euro; Pflegebranche: 8,00 Euro; Wäschereidienstleistungen West/Ost: 8,25/7,50 Euro. Hinzu kommt die Leiharbeitsbranche Ost mit 7,86 Euro. Zum Teil sind tarifliche Anhebungen dieser Mindestlöhne bereits vereinbart, aber nicht alle werden bis Anfang 2015 die Marke von 8,50 Euro erreichen.

Laut Koalitionsvereinbarung sollen weitere Abweichungen durch Tarifverträge möglich sein. So sollen zum Abschluss der Koalitionsverhandlungen geltende Tarifverträge, in denen spätestens bis zum 31. Dezember 2016 das dann geltende Mindestlohnniveau erreicht wird, fortgelten. Außerdem sollen Abweichungen für maximal zwei Jahre bis 31. Dezember 2016 durch Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Branchen­ebene möglich sein.

Diese fortgeltenden oder befristet neu abgeschlossenen Tarifverträge, in denen das geltende Mindestlohnniveau bis spätestens zum 1. Januar 2017 erreicht wird, sollen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen werden. Auf diese Weise werden sie allgemeinverbindlich und auch europarechtlich abgesichert. Ansonsten könnte der Fall eintreten, dass nicht tarifgebundene Beschäftigte den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro erhalten, während tarifgebundene Beschäftigte nach dem niedrigeren Tariflohn bezahlt werden und entsandte Beschäftigte völlig außen vor bleiben. Für Tarifverträge, bei denen bis 31. Dezember 2016 das Mindestlohnniveau nicht erreicht wird, gilt ab 1. Januar 2017 das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau.

Diese Regelungen werfen die Frage auf, wie viele Tarifverträge tatsächlich noch Löhne und Gehälter unter 8,50 Euro aufweisen. Das jüngste Niedriglohn-Monitoring des WSI-Tarifarchivs für 40 Wirtschaftszweige mit rund 4700 tariflichen Vergütungsgruppen kommt zu folgendem Ergebnis: Im Dezember 2013 sahen zehn Prozent dieser Gruppen Stundenlöhne von weniger als 8,50 Euro vor. Im Dezember 2012 lag dieser Anteil noch bei elf Prozent, im September 2011 bei 13 Prozent, im März 2010 bei 16 Prozent. 

Diese positive Entwicklung zeigt, dass die Gewerkschaften die Situation im Niedriglohnsektor aus eigener Kraft deutlich verbessert haben. Dabei hat sicherlich geholfen, dass der von den Gewerkschaften seit Langem geforderte und nun endlich beschlossene allgemeine gesetzliche Mindestlohn den Druck auf die Arbeitgeberverbände erhöht hat. Diese Wirkung wird sich in nächster Zeit fortsetzen. Die Aussicht auf den Mindestlohn macht es für Arbeitgeber unattraktiv, gegenüber Beschäftigten Dumpinglöhne durchzusetzen, indem sie sich Tarifverhandlungen einfach entziehen. Auf diese Weise stärkt die Lohnuntergrenze schon vor ihrer Einführung das Tarifsystem. In letzter Zeit gab es bemerkenswerte Tarifabschlüsse in Branchen, in denen es über Jahre so gut wie keine Fortschritte gegeben hat, manchmal fehlten sogar Arbeitgeberverbände, mit denen Gewerkschaften überhaupt hätten verhandeln können. Die Vereinbarungen über Branchenmindestlöhne im Friseurgewerbe und in der Fleischindustrie sind Beispiele dafür.

WELCHE AUSNAHMEN SIND VORGESEHEN?

Die Koalitionsparteien sind sich einig, dass der Mindestlohn nicht für Auszubildende sowie für ehrenamtliche Tätigkeiten, die im Rahmen der Minijobregelung vergütet werden, gelten soll. Vertreter von CDU und CSU sowie der Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände fordern allerdings weitreichende weitere Ausnahmen beim Mindestlohn. Genannt wurden folgende Branchen und Personengruppen, die nicht vom Mindestlohn erfasst werden sollten: Landwirtschaft (insbesondere Saisonarbeiter), Minijobber, Schüler, Praktikanten, Rentner, Langzeitarbeitslose und weitere Berufsgruppen wie Briefzusteller, Taxifahrer, Hilfsarbeiter. Ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages bezweifelte bereits die Rechtmäßigkeit solcher Regelungen aus verfassungsrechtlicher Sicht. 

Eine Studie des WSI auf Basis aktueller Einkommensdaten des Sozio-oekonomischen Panels kommt zu dem Ergebnis, dass bis zu einem Drittel der Niedriglohnbezieher unter 8,50 Euro von einem Mindestlohn ausgeschlossen blieben, sollten die geforderten Ausnahmen umgesetzt werden: Im Jahr 2012 lag der Stundenlohn von rund 5,25 Millionen Beschäftigten (ohne Praktikanten und Auszubildende) unterhalb von 8,50 Euro. Gilt der künftige Mindestlohn nicht für Minijobber, Rentner, Schüler, Studenten und hinzuverdienende Arbeitslose, gingen zwei Millionen oder 37 Prozent der Geringverdiener leer aus. Ohne Ausnahmen für geringfügig Beschäftigte wäre es immer noch fast ein Viertel.

Die Ausnahmen würden sich der WSI-Studie zufolge stark auf einige wenige Branchen konzentrieren: Knapp 56 Prozent aller Minijobber und 52 Prozent aller erwerbstätigen Rentner, Schüler und Studenten mit Stundenlöhnen unter 8,50 Euro arbeiten entweder im Gastgewerbe, dem Einzelhandel, in unternehmensnahen Dienstleistungen oder sonstigen Dienstleistungen wie beispielsweise in Wäschereien oder im Friseurgewerbe. In diesen vier Branchen sind von denjenigen, die weniger als den Mindestlohn verdienen, zwischen 35 und 40 Prozent geringfügig beschäftigt und zwischen sieben und 25 Prozent Rentner, Schüler oder Studenten. Damit würde der allgemeine Mindestlohn systematisch unterlaufen und ein neuer, eigener Niedriglohnsektor geschaffen. Die Ausgrenzung ganzer Arbeitnehmergruppen würde den eigentlichen Zweck der Regelung unterlaufen – den Schutz aller abhängig Beschäftigten. Es käme zu problematischen Verdrängungseffekten auf dem Arbeitsmarkt.

ÜBERPRÜFUNG, ANPASSUNG UND KONTROLLE

Die Koalitionsvereinbarung sieht eine regelmäßige Überprüfung des Mindestlohnes vor, allerdings erstmals zum 10. Juni 2017 mit Wirkung zum 1. Januar 2018. Dieser lange Zeitraum von drei Jahren von der Einführung bis zu einer ersten Anhebung des Mindestlohnes ist zweifellos ein Manko des Reformvorhabens. Denn bereits das Ausgangsniveau von 8,50 Euro liegt am unteren Ende der vergleichbaren gesetzlichen Mindestlöhne in anderen westeuropäischen Ländern. In Irland, den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Luxemburg bewegt sich der Mindestlohn zurzeit zwischen 8,65 und 11,10 Euro. Nach Berechnungen des WSI muss allein zum Ausgleich einer zweiprozentigen jährlichen Preissteigerung der Mindestlohn im Jahr 2018 auf 9,38 Euro angehoben werden, um den Realwert der 8,50 Euro des Jahres 2013 zu erhalten. 

Vorschläge zur Anpassung sollen von einer paritätisch zusammengesetzten Mindestlohnkommission der Tarifvertragsparteien vorgenommen und durch Rechtsverordnung umgesetzt werden. Vieles spricht dafür, dass in einer solchen Kommission, in der die Arbeitgebervertreter auf das Bremspedal treten werden, eine dynamische Anpassung des Mindestlohns schwer durchzusetzen sein wird. Umso wichtiger wäre es, Mindestkriterien der Anpassung in das Gesetz zu schreiben. Dazu sollten der Ausgleich der Preissteigerungsrate und die Berücksichtigung der allgemeinen Lohnentwicklung gehören. Außerdem sollte der Mindestlohn einen strukturellen Beitrag zur Anhebung der Niedriglöhne leisten. 

Die Wirkung eines gesetzlichen Mindestlohnes steht und fällt mit der effektiven Kontrolle seiner betrieblichen Umsetzung. Für die Überwachung bereits bestehender Branchenmindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz sind die Zollbehörden zuständig. Die dort gemachten Erfahrungen zeigen, dass es ganz wesentlich auf eine ausreichende Personalstärke ankommt. Das Beispiel Großbritannien zeigt, dass eine für die Beschäftigten permanent erreichbare Hotline ein wirkungsvolles Instrument darstellen kann. Hilfreich wäre auch ein Verbandsklagerecht, das es den Gewerkschaften ermöglicht, selbst gegen Gesetz- und Tarifverstöße aktiv zu werden.

Lohnuntergrenze: Per Tarifvertrag zum Mindestlohn

Im Friseurgewerbe steigt der allgemeinverbindliche Mindestlohn von zurzeit 7,50 Euro (West)/6,50 (Ost) bis August 2015 auf einheitliche 8,50 Euro.

In der Leih-/Zeitarbeit wird der aktuelle Mindestlohn von 8,50 Euro (West)/7,86 (Ost) bis Juni 2016 in zwei Stufen auf 9,00 Euro (West)/8,50 (Ost) angehoben.

In der Fleischindustrie sieht der im Januar erstmals vereinbarte Mindestlohntarifvertrag einheitlich 7,75 Euro ab Juli 2014 vor. Er wird in drei Stufen auf 8,00 Euro (Dezember 2014), 8,60 Euro (Oktober 2015) und schließlich auf 8,75 Euro (Dezember 2016) angehoben. 

In der Landwirtschaft sollen die in einigen Regionen bestehenden Tarifverträge für Saisonarbeitskräfte künftig entfallen, stattdessen erfolgt eine Eingruppierung in die regulären Tarifverträge. Bis Ende 2017 sollen die untersten Stundenlöhne schrittweise auf 8,50 Euro angehoben werden.

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