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Magazin Mitbestimmung

Neupack: Folgenreicher Streik

Ausgabe 03/2014

Leiharbeiter sollen nicht als Streikbrecher eingesetzt werden, steht im Koalitionsvertrag, ein entsprechendes Verbot hat die IG BCE angeregt. Es ist eine Konsequenz aus dem Streik beim Hamburger Verpackungshersteller Neupack, wo polnische Leiharbeiter eingesetzt wurden. Von Sigrid Thomsen

Im September 2013 ging der neun Monate dauernde Streik um einen Tarifvertrag in den Neupack-Werken in Hamburg und Rotenburg an der Wümme gerade zu Ende. Vorausgegangen war, dass der Betriebsrat von Neupack, der die Arbeitsbedingungen für die rund 200 Produk­tionsarbeiter und Packerinnen verbessern wollte, ständig mit juristischen Auseinandersetzungen beschäftigt war. „Wir durften nicht während der Arbeitszeit tagen, fanden das Betriebsratsbüro mit einer Eisenkette verschlossen“, berichtet Betriebsratsvorsitzender Murat Güneş. Jedes einzelne Recht mussten er und seine Kollegen vor Gericht erstreiten. Dazu kamen Herabsetzungen: „Wir wurden als Penner, Hampelmänner und Faulpelze beschimpft“, erzählt der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Claus-Dieter Thiele. „Die Geschäftsführung sagte dem Betriebsrat nach, er behindere den Fortschritt, koste nur Geld.“ 

Seit 2010 bei den Betriebsratswahlen alternative Listen mit Kandidaten aufgetaucht waren, die der Arbeitgeberseite lieb waren, waren die IG-BCEler im Betriebsrat eine Zeitlang in der Minderheit. Die Unzufriedenheit der Belegschaft brachten sie trotzdem zur Sprache. Das war vor allem eine völlig willkürliche Entlohnung je nach Wohlverhalten, für die meisten weit unter dem Tariflohn der chemischen Industrie, für einige aber auch um ein Viertel darüber. Es hatte jahrelang keine Gehaltserhöhungen gegeben, dafür Abzüge vom Weihnachtsgeld bei Krankheit, keine Regelung über Urlaubsgeld, Überstunden, Versetzungen. Das sollte ein Tarifvertrag ändern. 2011 wählten die gewerkschaftlich Organisierten beim eigentümergeführten Familienbetrieb Neupack mithilfe der IG BCE eine Tarifkommission und verlangten einen Haustarifvertrag. Nach vielen abgesagten Gesprächsterminen und zähem Hinhalten gingen sie dafür Ende 2012 in den Streik. Es ging nie „nur“ um Geld: Gerade die ungelernten, teils unter acht Euro pro Stunde bezahlten Kolleginnen und Kollegen litten auch unter der Geringschätzung, mit der sie von Vorgesetzten behandelt wurden. Die sich da im norddeutschen Winterwetter in drei Schichten rund um die Uhr vor die Werkstore stellten, trugen die Köpfe höher. Sie genossen die Solidarität und Aufmerksamkeit, die ihnen von Anfang an aus Gewerkschaften und Bevölkerung entgegengebracht wurden. Was ihnen ihr Arbeitgeber bei jeder Gelegenheit streitig machte, wurde jetzt von außen bestätigt: Sie hatten recht, hatten Rechte.

Vor dem Werkstor wärmten sie sich am Feuer. Und lernten einander kennen, mehr als jemals am Band. Treffpunkt war eine schwarze Jurte. Die IG BCE sorgte für warme Mahlzeiten und setzte alle Mitarbeiter des Bezirks zur Unterstützung ein. Sie organisierte Beratung in einem Wohnwagen, dem Neupack-Streikbüro. Dort verbrachte Murat Güneş am Anfang auch die Nächte. Um die Lage zu beobachten, um womöglich die Kollegen zu schützen. 

Denn gleich zu Beginn des Streiks hatte es gewaltsame Rangeleien an den Werkstoren gegeben. Einer der Streikenden wurde von einem Angestellten, der auf den Hof wollte, angefahren. Die Geschäftsführung ihrerseits warf den Streikenden gewaltsames Blockieren der Einfahrten vor und erwirkte sofort eine einstweilige Verfügung dagegen. Es war das erste von zig Verfahren und Unterlassungsklagen, mit denen die Eigentümerfamilie Krüger die Streikenden überzog, bis hin zum Versuch, den Streik selbst verbieten zu lassen. 

LEIHARBEITER ALS STREIKBRECHER

Es dauerte drei Monate bis das Hamburger Landesarbeitsgericht entschied, dass Streikende eine Viertelstunde lang versuchen dürfen, Streik­brecher umzustimmen. Der Hintergrund war: An den Streikenden vorbei passierten Arbeiter aus Polen in Kleinbussen das Tor, um im Werk die Arbeit zu übernehmen. Das Familienunternehmen Neupack hatte Leiharbeiter als Streikbrecher engagiert. Als die polnische Verleihfirma Work Express das realisierte, nahm sie die Überlassung zurück. Doch Neupack konterte und stellte gut 50 Streikbrecher befristet ein. Daraufhin brachte die IG BCE ihre Streikzeitung auch auf Polnisch heraus. 

Was hier in Hamburg und Rotenburg im Unternehmen der Familie Krüger geschah, unterhöhlt das verfasste Recht auf Arbeitskampf, sagt die Arbeitsrechtlerin Mechthild Garweg. Der Fall zeige, wie die Freizügigkeit auf dem erweiterten europäischen Arbeitsmarkt die Kräfteverhältnisse zugunsten der Arbeitgeber verschoben habe: „Neupack konnte den Druck des Streiks mit einer B-Belegschaft unterlaufen, die geringer bezahlt wurde, aber immer noch besser als in ihrer Heimat.“ Ein Verbot im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, Leiharbeiter als Streikbrecher einzusetzen, mache deshalb Sinn, meint die Arbeitsrechtlerin. Ganz im Sinne eines Beschlusses der IG BCE auf ihrem Kongress im Oktober, der auch den Fall Neupack aufgriff. 

Danach will sich die Gewerkschaft für die Überprüfung einiger Gesetze starkmachen, „damit Streikmaßnahmen in der Tarifpolitik auch eine angemessene Wirkung haben“. Das berührt das Tarifvertragsgesetz, das Teilzeit- und Befristungsgesetz, das Betriebsverfassungsgesetz und das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Im Koalitionsvertrag der Großen Koalition vom November findet sich diese Initiative im Kapitel über „gute Arbeit“ bereits wieder: „Die Koalition will die Leiharbeit auf ihre Kernfunktion hin orientieren“, heißt es dort. Einer der drei Reformpunkte für das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz lautet: „Kein Einsatz von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern als Streikbrecher“.

Den Gesetzgeber werden die Konsequenzen nicht nur dieses Arbeitskampfes weiter beschäftigen. Für wichtiger noch hält die Anwältin den Erhalt der Mitbestimmung während eines Streiks. Nach der derzeitigen Rechtsprechung dürfen Betriebsräte während eines Arbeitskampfes keinen Einspruch erheben bei Leiharbeitsein­satz, Überstunden oder Fristverträgen. Das wird als Eingriff in den Konflikt zwischen Gewerkschaft und Unternehmen bewertet, als Verschieben des Gleichgewichts der Kräfte. Etwas anderes konnte die IG BCE auch für den Neupack-Betriebsrat nicht vor Gericht erwirken. Wodurch das Gleichgewicht gestört wird, stellt sich aus ihrer Sicht allerdings anders dar. Gewerkschaftssekretär Rajko Pientka hat bei Neupack miterlebt, wie die Betriebsräte das Unterlaufen des Streiks durch Leih- und Fristarbeit nicht verhindern konnten: „Dies war vor allem ein Streik von Kolleginnen und Kollegen mit niedrigen Qualifikationsanforderungen im Job. Sie haben wenig Macht, sind leicht auszutauschen. Dass Mitbestimmungsrechte im Arbeitskampf zu ihrem Nachteil eingeschränkt werden, können wir nicht hinnehmen!“ Deshalb regt der IG-BCE-Kongress eine entsprechende Änderung im Betriebsverfassungsgesetz an.

FLEXI-STREIK

Wie ging es bei Neupack weiter? Vor Ort hatte die IG BCE die Taktik geändert: Von Ende Januar 2013 an galt der „Flexi-Streik“. Unberechenbar erschienen die Streikenden mal zur Arbeit und mal nicht. Währenddessen führte der Leiter des IG-BCE-Landesbezirks Nord, Ralf Becker, Gespräche mit der Arbeitgeberseite. Die Devise war: Raus vors Werkstor bei Stillstand der Verhandlungen, rein bei Fortschritt. Vielen Streikenden fiel dieses Hin und Her schwer. Denn im Werk erwarteten sie erneut Schikanen. Während die Zuversicht schwand, erlebte Ralf Becker „die härtesten Verhandlungen, die ich jemals geführt habe“. 

Die Eigentümerfamilie Krüger verweigerte kategorisch einen Tarifvertrag, „aus ideologischen Gründen und Angst vor Kontrollverlust“, sagt Ralf Becker im Rückblick. „Sie haben als Unternehmer gegen jede betriebswirtschaftliche Vernunft gehandelt.“ Haben lieber viel Geld verloren, als einen Haustarifvertrag abzuschließen. Über Dinge, die ein Tarifvertrag regelt, wurde dennoch geredet: Arbeitsplatzbeschreibungen, Lohngruppen, Urlaubsgeld, Arbeitszeit. 

Das steht nun in einer Betriebsvereinbarung und auch in den Arbeitsverträgen. Und es gilt jetzt die 38-Stunden-Woche in beiden Werken, es gibt einen Mindestlohn von neun Euro anstelle von 7,80 Euro, gleiches Geld für gleiche Arbeit und Regelungsabreden zum Urlaubsgeld. Die finanziellen Verhältnisse sind für die Beschäftigten gerechter und transparenter geworden. Die Arbeitsbeziehungen nicht: 20 am Streik beteiligte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen waren Ende Januar nicht mehr im Werk. „Der massive Angriff auf einzelne Streikende während des Ausstands, der systematische Versuch, sie loszuwerden, setzt sich fort“, berichtet Rechtsanwalt Harald Humburg, der den Betriebsrat seit Jahren begleitet. „Neupack hat erfolglos versucht, den Streik verbieten zu lassen. Aber jetzt werden am Streik Beteiligte aus oftmals fadenscheinigen Gründen abgemahnt und gekündigt. Es sieht aus wie ein Rachefeldzug.“

Nachtrag: Der Kampf um einen Tarifvertrag geht weiter: Vor Kurzem hat die IG BCE erstmals Vertrauensleute gewählt. Der Betriebsrat stellt sich für die anstehenden Wahlen auf konkurrierende Listen ein. Die Mitglieder einer Unterstützergruppe, die den Streik begleitet hatten, arbeiten an einer Filmdokumentation.

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