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Soziologin Stichs in der Stadtbibliothek Nürnberg: „Unsere Analysen zur Migration müssen auch für Sozialarbeiter und Ministerialbeamte verständlich sein.“ Magazin Mitbestimmung

Altstipendiatin: Die Integrationsforscherin

Ausgabe 03/2014

Am Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erforscht die ehemalige Böckler-Promotionsstipendiatin Anja Stichs, unter welchen Bedingungen Eingliederung gelingen kann.

Von Stefan Scheytt

Jetzt haben wir uns ein bisschen verzettelt“, sagt sie einmal, als ihr das Gespräch zu sehr von einem Thema zum anderen springt. Die promovierte Soziologin Anja Stichs, 50, ist Wissenschaftlerin durch und durch und geht die Dinge gern systematisch an. „Einen Gegenstand analytisch zu durchdringen ist intellektuell und handwerklich sehr anspruchsvoll. Forschung liegt mir, mir macht das großen Spaß “, sagt Anja Stichs, die seit 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg ist. Als eine von rund 20 Wissenschaftlern ist ihr Forschungsgegenstand vor allem die Integration von Zuwanderern in Deutschland, also die Frage, unter welchen Bedingungen Eingliederungsprozesse gelingen oder misslingen, was Sprachkurse leisten können, warum manche Gruppen mehr Schwierigkeiten haben als andere oder welche Berufsabschlüsse Migranten mitbringen und ob die ihnen hierzulande helfen.

Anja Stichs’ Studien, die sie meist mit Kollegen erarbeitet, sind in der Regel umfangreiche Projekte, für die manchmal Tausende von Menschen befragt werden. Während externe Institute die Interviews führen, bestimmt Stichs das Studiendesign, wie Stichprobenauswahl, Fragebogen etc., und leistet vor allem mithilfe von Softwareprogrammen die Auswertung der Daten. Derzeit schließt sie einen Bericht über den Ehegatten-Nachzug ab, andere empirische Studien beschäftigten sich mit dem muslimischen Leben oder mit dem islamischen Gemeindeleben hierzulande. Anja Stichs selbst kann sich dafür einsetzen, dass Themen auf die Forschungsagenda des Bundesamts gesetzt werden (wie im Fall der Heiratsmigration), meist jedoch sind sie vorgegeben durch das Bundesinnenministerium, dem das Amt unterstellt ist, oder durch andere Bundes- und Landesministerien oder Institutionen wie die Islamkonferenz. „Angewandte Forschung ist genau das, was ich immer machen wollte“, sagt Stichs. „Im Unterschied zur universitären Forschung müssen unsere Analysen nicht nur für Soziologen verständlich sein, sondern auch für die Praktiker der Integrationsarbeit, für Sozialarbeiter, Ministerialbeamte, Politiker.“ Ihre Studien stellt sie deshalb regelmäßig auf Tagungen für Soziologen, in Ministerien, vor Studenten, bei interkulturellen Veranstaltungen oder Ausländerbeiräten vor.

„Soziale Ungleichheit hat mich immer beschäftigt“, sagt Anja Stichs, die in den 1960ern in einem studentenbewegten Milieu in Heidelberg aufwächst und sich während des Soziologiestudiums in Berlin in der autonomen Frauenbewegung engagiert. Eigentlich ist die Entwicklungshilfe ihr Ziel, doch ein Studienaufenthalt in der Dominikanischen Republik lässt sie desillusioniert zurückkehren. Nach dem Studium arbeitet sie in Berlin viele Jahre in der angewandten Stadtforschung und promoviert dann mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung über ein Ostberliner Sanierungsgebiet, in dem sie die Wirkung sozialer Stadterneuerungsprogramme evaluiert. Auf das Thema Integration stößt sie als langjährige Mitarbeiterin am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld, wo sie unter anderem über Lebensverläufe von Migranten der ersten Generation forscht und das Projekt „Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“ betreut.

Als Integrationsforscherin ist Anja Stichs quasi eine natürliche Gegenspielerin aller Vereinfacher – vom gerade wieder auftauchenden Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“) bis zu Menschen, die mit Ressentiments gegen Zuwanderung agieren. „Sarrazin hat nur Zahlen benutzt, die in seine Argumentation passen. Unsere Zahlen, die damals schon vorlagen, hat er ignoriert. So etwas ist unwissenschaftlich.“ Und das jüngste Referendum in der Schweiz kommentiert sie so: „Ich befürchte, in Deutschland würde eine solche Volksabstimmung kaum anders ausgehen.“ Natürlich mache es sie wütend, wie stark Schwarz-Weiß-Denken immer noch das Reden über Zuwanderer bestimmt, während die Wissenschaft gleichzeitig sehr heterogene Bilder zeichnet, etwa von den Muslimen in Deutschland. „Es stimmt zum Beispiel einfach nicht, dass die Religion der Muslime ihr Bildungsniveau beinträchtigt. Da werden soziale und religiöse Aspekte unzulässig vermischt.“

Wer populistisch argumentieren wolle, könne Forschungsergebnisse jederzeit außer Acht lassen: „Wir Wissenschaftler verändern nicht die Welt. Unsere Studien liefern zwar Daten und Argumentationshilfen, aber sie haben keinen direkten Effekt auf die Politik“, glaubt Anja Stichs. Gleichwohl nimmt sie wahr, dass die Politik – im Unterschied zur Volksmeinung – Fehler in der Integrationspolitik der Vergangenheit eher einräumt und Zuwanderung heute positiver beurteilt. „Viele Politiker erkennen inzwischen an, dass Zuwanderung in unserem eigenen Interesse ist.“ Ihre eigene Rolle in diesem Prozess sieht sie eher im Hintergrund: „Ich bin auch schon mal für eine ‚kleinere‘ Talkshow angefragt worden, aber ich bin nicht der Mensch für so etwas. Ich bin forschende Wissenschaftlerin, das ist meine Aufgabe.“

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