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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Die Lücke ist kaum zu schließen"

Ausgabe 01+02/2014

Rentenexpertin Ute Klammer zur Notwendigkeit, die gesetzliche Alterssicherung wieder zu stärken und ein soziales Sicherungsnetz für schwächere und benachteiligte Beschäftigtengruppen einzuziehen. Das Gespräch führten Margarete Hasel und Carmen Molitor.

Immer weniger Beschäftigte haben die Chance auf einen flexiblen, vorzeitigen Übergang in eine auskömmliche Rente. Ist das, angesichts der demografischen Entwicklung, eine gute oder eine schlechte Nachricht für Deutschland?

Es ist insgesamt eine schlechte Nachricht. Es ist zwar richtig, das längere Verbleiben von Menschen in der Erwerbstätigkeit zu fördern, und es ist auch wichtig, Unternehmen aufzufordern, etwas dafür zu tun, dass Beschäftigte länger im Erwerbsleben bleiben können. Aber insgesamt sehe ich einige bedenkliche Entwicklungen.

Welche sind das?

Es ist ein großes Geschenk, wenn man Menschen Möglichkeiten gibt, ihren eigenen Präferenzen oder gesundheitlichen Notwendigkeiten gemäß zu unterschiedlichen Zeiten in den Ruhestand zu gehen. Aber der Staat hat die gesetzliche Bandbreite dafür immer mehr eingeschränkt und an die Betriebs- und Tarifpartner delegiert. Die können das jedoch nicht im nötigen Maße leisten. Das kann zu einer stärkeren sozialen Polarisierung zwischen denen führen, die bis zum gesetzlichen Rentenalter arbeiten, und jenen, die das nicht können und mit sehr schlechten Bedingungen ihr Alter verleben müssen.

Welche Instrumente für den flexiblen Übergang nutzen Tarifpartner und Betriebe am häufigsten?

Die Altersteilzeit ist mit großem Abstand das beliebteste Instrument. Das ist auch so geblieben, nachdem die Bundesagentur für Arbeit ihre Förderung dafür eingestellt hat und sich die Bedingungen für die Altersteilzeit aus der Sicht der Betriebe verschlechterte. Auch Langzeitkonten beziehungsweise Lebensarbeitszeitkonten werden genutzt. Aber sie sind auf wenige Branchen beschränkt. Man muss sich klarmachen, dass es kaum noch Beschäftigte gibt, die ihr Leben lang bei einem Unternehmen bleiben. Bei einem Wechsel des Betriebes stellen sich bei den Langzeitkonten Fragen der Übertragbarkeit, die noch nicht gelöst sind. Das ist deshalb eher etwas für Großunternehmen oder für bestimmte Branchen wie den Chemie- oder Metallbereich.

Sind in der Wissenschaft Instrumente in der Diskussion, die in der Praxis nicht ankommen?

Ja. Eine deutliche Diskrepanz zwischen der wissenschaftlichen Diskussion und der praktischen Umsetzung gibt es bei den Altersteilzeitmodellen, die an einem sukzessiven Ausstieg aus der Erwerbsarbeit und nicht an einer Blocklösung orientiert sind. Gerontologen und Arbeitswissenschaftler bestätigen, dass es sinnvoll ist, über Teilzeitmodelle in Stufen in den Ruhestand zu gehen. Aber in der Praxis ist fast nur die Altersteilzeit über das Blockmodell gebräuchlich: Man spart erst mal an und geht dann auf einen Schlag raus.

Dass sich das Blockmodell so stark durchsetzt, war ursprünglich weder vorgesehen noch erwartet.

So ist es. Bei der Einführung der Altersteilzeit 1996 waren beide Varianten vorgesehen. Es hat sich aber sehr schnell herausgestellt, dass von den Tarifparteien und in den Betrieben fast nur das Blockmodell benutzt wird.

Sie haben in einer Studie zum flexiblen Übergang in die Rente herausgefunden, dass eine Kompensation der gesetzlichen Regelungen durch tarifliche und betriebliche Regelungen keine grundsätzliche Lösung des Problems bietet. Warum?

Erstens engte man die Rentenzugangsmöglichkeiten sehr ein und setzte die gesetzliche Regelaltersgrenze herauf. Völlig unabhängig davon wurden zweitens deutliche Kürzungen in der Rentenversicherung vorgenommen. Die Kombination dieser beiden Entwicklungen führt dazu, dass die Löcher, die die tarifliche und betriebliche Ebene überbrücken soll, sehr groß sind.

Hinzu kommt, dass eine durchgängige Vollzeitbeschäftigung für viele, die jetzt ins Rentenalter kommen, nicht mehr die Norm ist.

Eben! Wer jetzt in Rente geht, ist oft erst spät in das Erwerbsleben eingestiegen und hat teilweise Lücken und Zeiten der Arbeitslosigkeit gehabt. Das verstärkt noch mal die Kluft, die von den Betriebsparteien zu schließen wäre. Das ist kaum zu schaffen. Natürlich können sich Tarifverträge künftig stärker auf die Gestaltung und Finanzierung von Rentenübergängen orientieren. Aber weil die Verteilungsmasse insgesamt vermutlich nicht größer wird, müsste man dann unter Umständen in Kauf nehmen, dass zugunsten der Rente eben nicht mehr so viel am Lohnniveau zu verhandeln ist.

Wenn betriebliche und tarifliche Instrumente das Problem eines flexiblen Renteneintritts nicht lösen können, wie dann?

Man muss sich mit allen Mitteln für eine leistungsfähige gesetzliche Alterssicherung starkmachen, denn viele Umverteilungselemente sind nur im Rahmen der ersten Säule des Alterssicherungssystems denkbar. Das ist das oberste Credo! Der Staat darf nicht zu viel abbauen und erwarten, dass die Betriebe und Branchen das auffangen. Gerade für Personen mit diskontinuierlichen Erwerbsbiografien, die mal hier arbeiten und mal da, brauchen wir Systeme, die vor Altersarmut schützen und in denen die Ansprüche über Branchen- und Betriebsgrenzen hinweg aufgebaut werden.

An was denken Sie konkret?

Bei Arbeitszeitkonten und bei betrieblichen Alterssicherungsansprüchen gibt es zwar Unverfallbarkeitsgrenzen, aber wenn man zu schnell den Betrieb wechselt, können in arbeitgeberfinanzierten Systemen die Ansprüche verloren gehen. Deshalb muss sichergestellt werden, dass auch in der zweiten und dritten Säule eine Art Altersvorsorgekonto erstellt wird. Auf diesem könnten Beschäftigte ihre Ansprüche über die ganze Erwerbsbiografie hinweg ansammeln.

Es hängt stark von der Branche, der praktizierten Mitbestimmung und sogar dem Geschlecht ab, ob man früher in den Ruhestand gehen kann. Wie kann man dieses Gerechtigkeitsproblem lösen?

Meiner Meinung nach hat der Gesetzgeber die Aufgabe, für ein Mindestsicherungsnetz zu sorgen. Man muss überlegen, ob niedrige Rentenbeiträge einfach höher bewertet werden und ob flexible Anwartschaftszeiten gewisse Ausfallphasen abfedern können. Die Frage ist auch, wie man für Menschen, die nicht mehr erwerbsfähig sind, zu Regelungen kommt, die unseres Landes würdig sind, Stichwort Erwerbsminderungsrente und der ganze Bereich der Invalidität. Der Staat muss auch für Menschen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien und geringer Vorsorgefähigkeit Möglichkeiten für ein armutsfreies Alter schaffen.

Helfen die „solidarische Lebensleistungsrente“ und die „Mütterrente“ der großen Koalition den schwächeren Beschäftigtengruppen?

Das tun sie nur bedingt. Ein größerer Teil vor allem der Frauen wird die bei der solidarischen Lebensleistungsrente geforderte Mindestversicherungspflicht von 35 beziehungsweise 40 Jahren eben nicht erreichen. Das heißt, die einen werden noch mal begünstigt und die anderen, von denen man sagt: „Die waren so lange nicht im System und haben offensichtlich andere Ressourcen gehabt“, werden noch weiter abgehängt. Es zeigt sich mir nicht, welche Lösungen für Letztere im Köcher sind. Dagegen beseitigt die Mütterrente, die ältere Frauen für ihre Erziehungszeiten stärker begünstigt, eine schon lange monierte Ungerechtigkeit zwischen verschiedenen Generationen von Müttern. Das halte ich für richtig.

Für die neue „Rente mit 63“ muss Sozialministerin Andrea Nahles viel Kritik einstecken, vor allem wegen der finanziellen Belastung der nachfolgenden Generationen. Sie hält es für gerecht, eben jene Gruppen zu stärken, die das Rentensystem durch ihre Beiträge über Jahre stabil gehalten haben. Hat sie recht?

Den Wunsch vieler langjährig Beschäftigter, früher in Rente zu gehen, kann ich gut nachempfinden. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht würde ich die Beitragsäquivalenz aber eher an anderen Stellen abschwächen. Nämlich zugunsten von Personen, die gesundheitlich nicht in der Lage sind, bis zum gesetzlichen Rentenalter zu arbeiten, und von Personen, die aufgrund ihres niedrigen Einkommens nur geringe Beiträge in die Rentenkassen zahlen konnten.

Ihre Vorschläge klingen nach Auflösung des beitragsfinanzierten Systems und Aufbau einer Grundsicherung.

Nur zum Teil. Man kann sich durchaus ein beitragsfinanziertes System mit einer Teilhabeäquivalenz vorstellen. Sie ist nicht so stark äquivalent ausgestaltet wie unsere jetzige gesetzliche Rentenversicherung, wo es eine sehr starke Abhängigkeit zwischen den eingezahlten Beiträgen und den späteren Leistungen gibt. Es müsste also keine allgemeine Grundrente sein. In der Schweiz gibt es das schon, da gilt eine abgeschwächte Äquivalenz zwischen Beiträgen und Leistung, aber es ist ein Bezug zwischen beidem da. Voraussetzung für ein solches System ist, dass es eine allgemeine Versicherungspflicht über das gesamte Erwerbsleben gibt. Denn es ist nicht einsichtig, dass manche Gruppen lange nicht einzahlen und dann über die Versichertengemeinschaft Ausgleichsleistungen bekommen.

Welche Rolle spielen gesetzliche Mindestlöhne?

Die Frage der Arbeitsmarktregulierung ist zentral, dabei spielen gesetzliche Mindestlöhne eine ganz erhebliche Rolle. Die Zukunftsfähigkeit des Rentensystems ist direkt mit dem Arbeitsmarkt verkoppelt: Mindestlöhne, eine allgemeine Versicherungspflicht und eine starke ersten Säule, die zumindest eine Art Mindestsicherungsnetz schafft, müssen sich ergänzen. Wir müssen uns klar machen: Es gibt eine Primär- und eine Sekundärverteilung. Das Rentensystem und die tariflichen und betrieblichen Systeme für die Alterssicherung müssen immer mehr leisten, wenn die Primärverteilung so ungleich wird, dass man alles der Sekundärverteilung über Beitrags- oder Steuersysteme aufbürdet. Deshalb kann man die Frage der Alterssicherung nicht ohne den Arbeitsmarkt denken und auch nicht von einer vernünftigen Entlohnung abkoppeln.

ZUR PERSON

UTE KLAMMER, 50, beschäftigt sich als Professorin für Sozialpolitik an der Universität Duisburg-Essen mit den Grundsatzfragen der sozialen Sicherung und mit der Wohlfahrtsstaatsforschung. Die Expertise der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin und Prorektorin für Diversity Management ist auf höchster politischer Ebene in zahlreichen Kommissionen gefragt. Klammer arbeitet zudem im Forschungsnetzwerk Alterssicherung (FNA) der Deutschen Rentenversicherung mit und ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA). Auch der Hans-Böckler-Stiftung ist sie verbunden: Von 1996 bis 2004 war Ute Klammer Referatsleiterin für Sozialpolitik am WSI. Die von der Stiftung geförderte Studie „Flexibel in die Rente“ wurde von ihr geleitet.


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