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HBS Böckler Impuls

Lohnpolitik: Deutsches Lohngefüge außer Balance

Ausgabe 14/2013

In vielen europäischen Ländern begrenzen eine hohe Tarifbindung oder das Zusammenspiel zwischen Tarif- und Mindestlöhnen die Lohnun­gleich­heit. In Deutschland gibt es erhebliche Lücken.

Bei der Verbreitung von Niedriglöhnen sind in Europa die Unterschiede groß: In Schweden verdienen unter 3 Prozent der Beschäftigten weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns, in Frankreich 6, in Spanien 15 und in Deutschland 22 Prozent. Gerhard Bosch und Claudia Weinkopf vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen haben untersucht, wie diese Differenzen zu erklären sind. Ihrer Analyse zufolge sind die nationalen Institutionen der Lohnfindung maßgeblich. Dabei beobachten die Forscher eine Wechselwirkung zwischen gesetzlichen Lohnuntergrenzen und dem Tarifsystem.

In Großbritannien etwa seien die Betriebe zwar nur zu einem Drittel tarifgebunden. Immerhin gebe es aber einen nationalen Mindestlohn, also eine verbindliche Lohnuntergrenze für alle Arbeitgeber. In Frankreich sei der Organisationsgrad der Arbeitnehmer gering. Neben einem relativ hohen Mindestlohn von 9,43 Euro wirke sich aber positiv auf das gesamte Lohngefüge aus, dass viele Tarifverträge per Allgemeinverbindlicherklärung für alle Unternehmen einer Branche gelten. Die Gewerkschaften in Belgien, den Niederlanden und Spanien könnten oberhalb der gesetzlichen Mindestlöhne Tariflöhne durchsetzen, die ebenfalls oft allgemeinverbindlich sind. Dänemark, Schweden und Österreich kämen aufgrund der fast lückenlosen Tarifbindung völlig ohne gesetzliche Lohnuntergrenze aus.

Die Situation in Deutschland halten die IAQ-Forscher in mehrfacher Hinsicht für problematisch: Die Tarifbindung sank rapide. Wurden 1998 noch deutlich mehr als 70 Prozent aller Beschäftigten nach Tarif bezahlt, waren es 2012 nur noch 59 Prozent. Wo die Gewerkschaften schwach sind, würden teilweise Tariflöhne unter der Niedriglohnschwelle vereinbart, so Bosch und Weinkopf. In vielen kleinen Unternehmen gebe es zudem keinen Betriebsrat, der die Einhaltung tariflicher Mindeststandards kontrollieren könnte. Ohne einen generellen Mindestlohn seien so neben dem klassischen deutschen Tarifmodell „große weiße Zonen eines unregulierten Arbeitsmarktes“ entstanden. Darüber hinaus verweigerten die Arbeitgeberverbände seit mehreren Jahren die Zustimmung zu Allgemeinverbindlicherklärungen. Die Folge: Der Niedriglohnsektor ist in Deutschland größer als in den meisten europäischen Staaten.

  • Die Größe des Niedriglohnsektors variiert mit den nationalen Institutionen der Lohnfindung. Wichtig ist das Zusammenspiel von Mindestlöhnen und Tarifbindung. Zur Grafik

Gerhard Bosch, Claudia Weinkopf: Wechselwirkungen zwischen Mindest- und Tariflöhnen, in: WSI-Mitteilungen 6/2013.

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