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Magazin Mitbestimmung

Wahlfaktoren: Das Thema ist zweitrangig

Ausgabe 09/2013

Es gäbe für die Politik viel zu tun in Deutschland – und dennoch dominiert kein Thema den Wahlkampf. Deswegen kommt alles auf die Spitzenkandidaten an. Von Peter Lösche

Der Bundestagswahlkampf hat bisher kein Thema an die Oberfläche gespült, das zum Streit, zum Konflikt oder zur Auseinandersetzung zwischen den Parteien geführt hätte. Und das dürfte auch für die restlichen Tage bis zum 22. September, dem Wahltag, gelten. Was für ein Wahlkampf – der eigentlich gar kein richtiger ist. Die Republik liegt gleichsam unter einer bleiernen Decke, unter der kaum ein Mucks hervordringt. Woran liegt das? Natürlich, dahinter steckt die „Sozialdemokratisierung“ der Politik durch die Vorsitzende der CDU.  

Es gibt genug Themen für den Wahlkampf – aber genau das ist das Problem: Es sind zu viele. Es sind Themen, die zweit- oder drittklassig erscheinen, und keines ragt heraus. Weder die Energiewende noch die Eurokrise noch die Einführung des zweigliedrigen Schulsystems noch der Abhörskandal, der Mindestlohn, die Mietbremse oder die Familienpolitik. Die meisten Themen hat die CDU-Vorsitzende von der SPD übernommen. Da bleibt für die Sozialdemokratie kaum mehr als der Vorschlag, die Vermögenssteuer wieder einzuführen sowie die Erbschafts- und die Einkommenssteuer zu erhöhen. Aber diese Forderungen reißen bekanntlich niemanden vom Hocker. Im Hintergrund wabert das Megathema „soziale Gerechtigkeit“ – doch es ist ein Thema, das alle Parteien rhetorisch für sich reklamieren, selbst die FDP mit ihrem „mitfühlenden Liberalismus“. Die Verhältnisse drängen kein dominantes Thema auf – etwa eine so starke Zuspitzung der Eurokrise, dass jeder Bürger dies bereits in seiner Geldbörse fühlt. Warum dieser lautlose, ja stumme Wahlkampf? Warum die „schweigsamen“ Wähler?

Politikwissenschaftler heben – nach dem in den 1950er Jahren in den USA entwickelten Michigan-Modell – drei Faktoren hervor, die das Wahlverhalten wesentlich bestimmen. Der erste Faktor ist die traditionelle Parteiidentifikation: der berühmte rote Großvater, der immer SPD wählt, oder sein Enkel, der bei jeder Wahl eine andere Partei kürt, also Stammwähler im Unterschied zum Wechselwähler. Der zweite Faktor ist ein großes Konfliktthema, das die Wähler aufregt, emotionalisiert, mobilisiert, sodass sie an die Wahlurne gehen. Der dritte Faktor schließlich sind die Spitzenkandidaten selbst, die danach streben, als Charismatiker zu erscheinen und durch ihre Persönlichkeit und ihr Image die Wähler anzuziehen.

Die Stammwähler sind zu einer seltenen Spezies geworden. Nur etwa zwölf Prozent der Wahlberechtigten wählen stets und ständig jeweils CDU oder SPD. Die anderen Wähler wandern zwischen den Parteien oder wählen überhaupt nicht, sie werden zu Nichtwählern. Im sozialwissenschaftlichen Jargon: Die Volatiliät steigt. Die Ursache für diese Entwicklung: Die alten sozialmoralischen Milieus, das katholische und das gewerkschaftlich-facharbeiterliche, sind erodiert. Entscheidend für das tatsächliche Wahlverhalten sind mithin die Spitzenkandidaten oder das den Wahlkampf dominierende inhaltliche Thema. Da es dieses Thema nicht gibt und sich nicht einmal zwei oder drei Kontroversen herausgebildet haben, die im Vordergrund stünden, kommt alles auf die beiden Spitzenkandidaten an.

Angela Merkel führt einen geschickt-schlitzohrigen Wahlkampf angesichts einer Situation, die sie wesentlich selbst geschaffen hat. Sie schwebt gleichsam über den rauen Wassern der Parteipolitik und der internationalen Politik, sie wirkt präsidial, lässt sich auf allen Gipfeln inszenieren, achtet darauf, in keinen Konflikt hineingelockt zu werden, und meidet kontroverse Inhalte. Eine inhaltlich-thematische Auseinandersetzung würde die Bürger polarisieren, sie würde viele potenziell sozialdemokratische und grüne Wähler an die Wahlurne treiben. Gleichwohl vermag Merkel Führungskraft zu dokumentieren, hat sozialdemokratische und grüne Positionen gegen ihre eigene Partei durchgesetzt, so die Energiewende, den (modifizierten) Mindestlohn, die Familienpolitik, die Mietbremse. Ironisch zugespitzt: Merkels Verhalten erinnert an Reichskanzler Otto von Bismarck. Der nämlich hatte seine Sozialpolitik konzipiert, um den bei Wahlen erfolgreichen Sozialdemokraten den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Merkel wiederum kapert alle für den Wahlkampf der Sozialdemokratie relevanten politischen Themen, um den oppositionellen Gegner dann in der Flaute stehen zu lassen. Da kann Peer Steinbrück sich noch so abstrampeln – und neuerdings auch die einschlägigen Fettnäpfchen umschiffen. Er mag in der Finanz- und Wirtschaftspolitik kompetenter sein als das schwarz-gelbe Kabinett zusammengenommen: Gegen die allgegenwärtige Übermutter vermag er nicht viel auszurichten. Und er wird in der Öffentlichkeit auch nicht mit einem knalligen Thema identifiziert, mit dem er der Kanzlerin Schach bieten und die eigenen Parteigenossen mobilisieren könnte. 

Die Wahlkämpfe der Jahre 1969 und 1972 waren für das Michigan-Modell wie aus dem Bilderbuch geschnitten. Ein Thema beherrschte damals die Auseinandersetzung zwischen CDU und SPD, die beide gerade noch in einer großen Koalition miteinander verbunden waren: die Ostpolitik. Zwei prominente, bundesweit bekannte und bewunderte Spitzenkandidaten standen sich jeweils gegenüber: im Jahr 1969 der amtierende Kanzler Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt, danach dann Rainer Barzel und noch einmal Brandt. Das katholische und das sozialdemokratische Milieu waren damals relativ intakt, Parteiidentifikation funktionierte noch, von der Erosion der Stammwählerschaft und von Volatilität war noch nicht die Rede. 

So unterschiedlich damals die drei Faktoren des Michigan-Modells von den verschiedenen Demoskopie-Instituten und von Wahlforschern auch gewichtet wurden, klar war, dass das die deutsche Politik beherrschende Konfliktthema die Wahl entschied. Eben die Ostpolitik. Die Wahlen kamen damals einer Volksabstimmung über die zentrale politische Frage ziemlich nahe. Die Wahlbeteiligung betrug mehr als 90 Prozent. Fast jeder fühlte sich angesprochen, hatte seine eigene Meinung, erregte sich. Die Gefühle schlugen hoch. Nichts davon ist heute zu spüren, kein Thema ist in Sicht, das die Wähler elektrisieren, mobilisieren würde. 

Wir dürfen uns nicht wundern, wenn wir am Abend des 22. Septembers 2013 wieder einmal feststellen: Die Wahlbeteiligung ist gesunken, dieses Mal liegt sie gar deutlich unter 70 Prozent. Und es dürften nicht die Themen sein, die die Bundestagswahl entscheiden, sondern das Vermeiden inhaltlicher Auseinandersetzung. Und ganz wichtig: Die Spitzenkandidaten – mit dem Amtsbonus für Angela Merkel und dem Oppositionsmalus gegen Peer Steinbrück.

Peter Lösche ist Parteienforscher und emeritierter Professor an der Universität Göttingen

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