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Magazin Mitbestimmung

Werkswohnungen: VW baut nicht nur Autos

Ausgabe 09/2013

Konzerne haben ihren Besitz an Werkswohnungen heruntergefahren oder ganz abgestoßen – VW dagegen baut den Bestand weiter aus, auch die IG BCE als großer Immobilienbesitzer will mit ihren Partnern den „dritten Weg“ gehen. Von Stefan Scheytt

Der Blick aus dem Bürofenster hatte für Ulrich Sörgel in den vergangenen Monaten etwas Erhebendes: Täglich konnte Sörgel verfolgen, wie der viergeschossige Anbau am Stammsitz der Volkswagen Immobilien GmbH (VWI) vorankam. „Trotz des harten und langen Winters sind Ende August 100 Kollegen in den Neubau eingezogen“, freut sich der Leiter für Wohnimmobilien, Marketing und Kommunikation bei VWI. Wie die Mutter VW ist auch die Immobilien-Tochter in den vergangenen Jahren stark gewachsen, inzwischen beschäftigt VWI rund 300 Mitarbeiter und setzt knapp 140 Millionen Euro um.  

Zwar beruht ein wachsender Teil des Erfolgs auf Spezialimmobilien wie der Volkswagen Arena in Wolfsburg oder dem Technologiezentrum Isenbüttel, auf Logistik- und Gewerbeimmobilien sowie auf Autohäusern verschiedener Konzernmarken auf der ganzen Welt, die VWI entwickelt und realisiert. Doch bis heute, 60 Jahre nach seiner Gründung als VW Wohnungsbau und später als VW Siedlungsgesellschaft, vermietet das Unternehmen Wohnungen in Wolfsburg. Die 9500 ehemaligen Werkswohnungen, die meisten in den 1950er und 1960er Jahren erbaut, werden noch zu jeweils einem Drittel von Konzernmitarbeitern und -rentnern bewohnt. „Bis Mitte der 1990er Jahre erfolgte die Wohnungsvergabe nur an Werksangehörige über eine innerbetriebliche, mitbestimmt zusammengesetzte Kommission. Inzwischen vermieten wir unsere Bestände als privatwirtschaftliches Wohnungsunternehmen frei am Markt“, erklärt Ulrich Sörgel. 

AUFSICHTSRAT BESCHLIEßT NEUBAUPROGRAMM

Ein ganz normales Wohnungsunternehmen ist VWI dennoch nicht. Mitte der 1990er Jahre gab es Stimmen im Konzern, man solle sich von VWI trennen und aufs Kerngeschäft konzentrieren. VW hat diesem Ansinnen widerstanden – auch mit den Stimmen der Arbeitnehmervertreter. Nach wie vor wirft der Konzernbetriebsrat im Aufsichtsrat der Volkswagen AG sein Gewicht beim Thema Wohnraum für Arbeitnehmer in die Waagschale – weshalb das Unternehmen heute über ein interessantes betriebspolitisches Instrument verfügt: „VWI hat die klare Aufgabe, Volkswagen dabei zu unterstützen, Top-Arbeitgeber zu sein – und dazu gehört auch die Versorgung mit Wohnraum in einer Stadt mit viel zu knappem Angebot“, befindet Bernd Osterloh, Vorsitzender des Konzernbetriebsrats. „Wer täglich zwei, drei Stunden Fahrtzeit zur Arbeit hat, weil es in der Stadt zu wenig vernünftige Wohnungen gibt, findet nicht mehr ausreichend Erholung.“  

Im Aufsichtsrat herrsche deshalb hohes Einvernehmen darüber, die rasante Entwicklung von VW mit einem „schnellstmöglichen Ausbau des Wohnungsangebots“ zu unterstützen. „Und das gelingt VWI sehr gut“, meint Osterloh. Jüngstes Beispiel: 200 portugiesische Kollegen, die wegen mangelnder Auslastung im VW-Werk in Palmela für ein Jahr nach Wolfsburg kamen, leben derzeit in VWI-Wohnungen. In der Autostadt, deren Einwohnerzahl vor allem dank Volkswagen seit zwei Jahren wieder wächst (aktuell hat die Stadt 125 000 Einwohner und 100 000 Arbeitsplätze), „wäre dies ohne eigenen Wohnungsbestand praktisch unmöglich gewesen“, sagt Osterloh. 

Allein in den vergangenen fünf Jahren hat die VW-Immobilien-Tochter VWI 110 Millionen Euro in die Modernisierung und Instandhaltung ihrer Wohnungen investiert und will dies auch in Zukunft mit jährlich 25 Millionen Euro tun. Zum Teil bekommen die engen Altbauten komplett neue Zuschnitte – aus zwei Wohnungen wird eine, aus kleinen Dreizimmerwohnungen werden großzügige Zweizimmerwohnungen – und werden auf heutigen Neubaustandard modernisiert. Mehr noch: Weil sich die Leerstände früherer Jahre komplett auflösten (die Quote liegt derzeit bei 0,2 Prozent), beauftragte der Aufsichtsrat 2011 die Immobilien-Tochter mit einem Neubauprogramm – nach 30 Jahren Neubaupause: In den nächsten fünf Jahren will VWI rund 500 Wohnungen errichten. So war erst im Juni Spatenstich für einen Wohnpark, dem ein altes Hochhaus weichen musste. Bis zum Sommer 2014 enstehen dort für 15 Millionen Euro sieben „Stadtvillen“ mit 73 Ein- bis Vierzimmerwohnungen. Ihre hochwertige Ausstattung – die durchschnittliche Nettokaltmiete soll bei zirka zehn Euro pro Quadratmeter liegen – „dürfte auch potenzielle Fach- und Führungskräfte ansprechen“, hofft VWI-Manager Ulrich Sörgel. Er betont aber, dass die Mehrheit der VWI-Wohnungen mit Kaltmieten zwischen 4,30 und sieben Euro pro Quadratmeter deutlich günstiger sind, worauf auch Konzernbetriebsratschef Osterloh Wert legt: „Wir dürfen nicht nur an hochwertige Wohnungen für Fach- und Führungskräfte denken, sondern auch an Wohnraum, den sich Beschäftigte aus der Produktion oder Alleinerziehende leisten können.“ Im Aufsichtsrat sei vereinbart worden, dass neue oder sanierte Wohnungen vorrangig VW-Mitarbeitern angeboten werden. „Wichtig ist, dass zuerst unsere Beschäftigten profitieren“, sagt Osterloh. 

AUCH STADTWERKE MÜNCHEN BAUEN

Zu den wenigen Unternehmen, die im großen Stil in neue Wohnungen für ihre Mitarbeiter investieren, gehören auch die Stadtwerke München (SWM), die zu 100 Prozent der Landeshauptstadt gehören. Zumeist auf früheren Betriebsflächen will das kommunale Unternehmen (u.a. Energieversorgung und ÖPNV) bis 2021 für rund 80 Millionen Euro etwa 500 neue Werkswohnungen bauen zusätzlich zu den bestehenden 550 SWM-Wohnungen. Gebaut werden vor allem Zwei- bis Dreizimmerwohnungen, aber auch Einzimmerappartements und Wohnungen mit vier bis fünf Zimmern für Familien, außerdem Wohnheime für Wochenendheimfahrer, Diplomanden oder Praktikanten. „Es wird für uns immer schwieriger, Mitarbeiter außerhalb von München zu gewinnen. Wohnungsknappheit und hohe Mieten halten Bewerber von einem Wohnortwechsel ab“, begründet Reinhard Büttner, SWM-Geschäftsführer für Personal und Soziales.  

In den vergangenen Jahren seien die Mieten regelrecht „explodiert“, beklagt Konzernbetriebsratsvorsitzender Reinhard Egger: „Ein Busfahrer mit einem normalen Gehalt kann in München seine Miete fast nicht mehr bezahlen. Ich kenne Mitarbeiter, die staatliches Wohngeld bekommen oder bis zu 100 Kilometer weit aus der Stadt ziehen. Für Kollegen im Schichtdienst und ältere Mitarbeiter ist das nicht zumutbar“, findet Egger. Mit Blick auf Wohnungen als wichtigen Faktor im Wettbewerb um Fachkräfte hatte Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) bereits vor anderthalb Jahren an große Münchner Unternehmen appelliert, künftig wieder Wohnungen für die eigenen Mitarbeiter zu bauen. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb, „verpuffte der Appell allerdings weitgehend“. 

AUSVERKAUF VON WERKSWOHNUNGEN

Den Zugriff auf eigene Wohnungen – ein Hebel, der für den VW-Konzern im Interesse der Mitarbeiter und der städtebaulichen Entwicklung wichtig ist – haben andere namhafte deutsche Unternehmen jedoch freiwillig aus der Hand gegeben. Dies teilweise mit den in den Medien vielfach beschriebenen negativen Folgen für die Mieter, wenn die Wohnungen an ausländische Finanzinvestoren oder Verwerter veräußert wurden. Schon 2006 prognostizierte eine Studie der HSH Nordbank bis zum Jahr 2015 die Veräußerung von 1,5 Millionen Wohnungen – vor allem von Kommunen – an Investoren, darunter auch nahezu alle bis dahin verbliebenen 340 000 Werkswohnungen.  

So ist zum Beispiel Deutschlands größter privater Wohnungskonzern mit heute 180 000 Wohnungen, die Deutsche Annington, die gerade an die Börse gegangen ist, durch die Übernahme von Wohnungen des Energie- und Wasserversorgers E.ON (138 000), der damaligen Reichsbahn (65 000) und von RWE (4500) entstanden. Bereits 2009 verkaufte Siemens die letzten 1100 seiner einst 4000 Werkswohnungen und begründete dies wie üblich: „Gehört nicht zu unserem Kerngeschäft.“ Gleichwohl zeigt der Konzern, dass er die Knappheit bezahlbaren Wohnraums im eigenen Interesse nicht ignorieren kann: In München verfügt das Unternehmen über Belegrechte für rund 1500 Wohnungen, deutschlandweit für rund 6500 Wohnungen; übers Intranet erfahren Siemensianer von frei werdenden Wohnungen und erhalten sie bevorzugt.  

Auch der Chemiekonzern Evonik, der aus dem weißen Bereich der Ruhrkohle AG, der RAG, hervorging, hat sich von Teilen seiner Immobilien-Tochter Vivawest getrennt. Schon Anfang 2012 hatte das Essener Unternehmen die 60 000 Wohnungen seiner Tochter Evonik Wohnen mit den 70 000 Wohnungen der bergbauverbundenen THS Wohnen, die je zur Hälfte der IG BCE und Evonik gehörte, zum drittgrößten Wohnungsunternehmen Deutschlands unter dem Namen Vivawest zusammengeführt. In diesem Frühjahr nun bekam das Gelsenkirchener Unternehmen eine neue Eigentümerstruktur: Neuer Haupteigentümer von Vivawest ist mit 30 Prozent die RAG-Stiftung, die die Ewigkeitskosten aus dem Bergbau aufbringen muss; zweitgrößter Anteilseigner ist die IG BCE mit knapp 27 Prozent, 25 Prozent hält der Evonik-Pensionsfonds zur Absicherung von Firmenrenten; die verbleibenden Anteile sollen an Investoren veräußert werden. Gemeinsam verfügen die Eigentümer über rund 500 ehemalige Bergmannssiedlungen in 76 Kommunen von Aachen bis Ahlen mit Schwerpunkt Ruhrgebiet, darunter auch die berühmte, denkmalgeschützte, zur Internationalen Bauausstellung modernisierte Zechensiedlung auf dem Schüngelberg. 

WELCHE RENDITE ERWARTET VIVAWEST?

Im Vorfeld der Gründung von Vivawest hatten Mieterverbände im Westen Schlimmes für die 300 000 Mieter befürchtet. Wegen des geplanten Börsengangs von Evonik hatten sie Sorge, dass auch der Wohnungsbestand an die Börse gehen oder an einen Finanzinvestor verkauft werden könnte. „Das erschien uns wie die Wahl zwischen Pest und Cholera“, sagt Tobias Scholz vom Mieterverein Dortmund. Alarmiert waren die Mietervereine auch durch den Verkauf einiger Hundert THS-Wohnungen an einen „Häuserverwerter“, der die Wohnungen anschließend privatisierte und „dafür bekannt war, dass er dabei keine Samthandschuhe trug“, wie Scholz sagt. „Da hat uns die Politik der THS als gewerkschaftsverbundenes Unternehmen enttäuscht.“ 

Durch die neue Eigentümerstruktur von Vivawest sei nun aber das Schlimmste abgewendet, meint Mietervertreter Scholz, die neuen Vivawest-Besitzer verdienten Vertrauen: „Sowohl die RAG-Stiftung als auch der Evonik-Pensionsfonds und die IG BCE haben – im Gegensatz zu Finanzinvestoren – langfristige Interessen.“ Auch die Investitionen von Vivawest in Instandhaltung und Modernisierung im vergangenen und in diesem Jahr seien zu begrüßen, auch wenn ihre Höhe in Relation zu den Quadratmetern an Wohnfläche „nicht überragend, sondern nur ordentlich“ seien. „Vivawest steht unter dem Druck, eine gewisse Rendite erbringen zu müssen. Das Unternehmen wird sich sicher nicht wie ein kommunales Wohnungsunternehmen verhalten und mit einem oder zwei Prozent zufriedengeben können.“ Auch die 650 Millionen Euro, die Vivawest an die Ex-Mutter Evonik bezahlen muss, seien nicht zu unterschätzen: „Das ist eine Menge Geld, das hoffentlich nicht die Investitionsfähigkeit in den Bestand schmälert“, meint Scholz. 

Für eine mieterfreundliche Politik von Vivawest sprechen indes die Aussagen vieler prominenter Verantwortlicher. So gab Evonik-Chef Klaus Engel das „konkrete Versprechen“ ab, dass „der nachhaltige Ansatz von Vivawest nicht vereinbar ist mit den überzogenen kurzfristigen Renditeanforderungen rein finanzgetriebener Investoren“. Und IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis sagt: „Vivawest steht ohne Wenn und Aber zu seiner sozialen Verantwortung. Dies unterscheidet uns von den durch Finanzinvestoren geführten Unternehmen.“ IG-BCE-Sprecher Christian Hülsmeier ergänzt: „Die Wohnungen von Vivawest sind eine vernünftige Anlage gewerkschaftlichen Vermögens. Aber wir sind nicht darauf angewiesen, eine maximale Rendite zu erwirtschaften. Wir haben ein langfristiges Interesse an den Wohnungen und können nur erfolgreich sein, wenn wir auch zufriedene Mieter haben – und darunter sind auch viele Gewerkschaftsmitglieder.“ Es ist dies der „dritte Weg“ zwischen „den berechtigten Interessen von Mietern und solidem Wirtschaften“, den Vivawest mit seinen 130 000 Wohnungen antritt. „Es wird sich zeigen, wie dieser ‚dritte Weg‘ ausgestaltet wird“, sagt Mietervereins-Sprecher Tobias Scholz. „Wir werden das Unternehmen auch in Zukunft sehr aufmerksam begleiten.“

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