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Magazin Mitbestimmung

Kampagnen: Gerechtigkeit à la INSM

Ausgabe 09/2013

Mit Plakaten im Retro-Look versucht die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die Bundestagswahlen zu beeinflussen. Und operiert dabei nicht ungeschickt mit einem Begriff, den bisher die politische Linke besetzt hat. Von Rudolph Speth

Ist es gerecht, dass die Verkäuferin das Studium ihres zukünftigen Chefs bezahlt?“ Diese und weitere sieben Fragen zur Gerechtigkeit werden uns auf einer Plakatserie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) gestellt. Die Antwort kommt sogleich: „Nein. Es ist ungerecht, wenn die Verkäuferin, die weniger als ihr künftiger Chef verdient, diesem auch noch das Studium bezahlt.“ Doch dann kommt das Kleingedruckte: Der künftige Chef müsste sein Studium eigentlich selbst bezahlen – mit Studiengebühren, die in allen Bundesländern wieder abgeschafft wurden. Die Anzeige fordert dazu auf, diese wieder einzuführen – aus Gründen der Gerechtigkeit. Im Kleingedruckten wird erklärt, warum das so sein soll: „Es ist nicht gerecht, dass die Allgemeinheit für die Bildung Einzelner zahlt.“ Das Plakat geht an den Diskussionen der letzten Jahre vorbei. Stipendien und Bildungskredite durch den Staat sollen helfen, damit sich alle ein Studium leisten können – und dann so etwas?

 

Das Plakat ist schlicht und bewusst unaufwendig gestaltet. Der Text in einer Schreibmaschinenschrift, die beiden Figuren, eine Verkäuferin und ihr künftiger Chef, sind im Reklamestil vergangener Jahrzehnte gezeichnet. Beide blicken uns freundlich als Figuren aus einer heilen Welt an. So geht es auch mit den anderen Fragen. Gerechtigkeit ist das zentrale Thema des Bundestagswahlkampfes 2013. SPD und Grüne versuchen damit zu punkten, das Thema Gerechtigkeit ist in der gesellschaftlichen Debatte gegenwärtig, doch wird das weit verbreitete Unbehagen, dass es nicht gerecht zugeht in Deutschland vor allem von linken, kirchlichen und gewerkschaftlichen Gruppen aufgegriffen. Umso bemerkenswerter, dass diese Anzeigenkampagne der INSM den Begriff Gerechtigkeit für sich nutzt. Konservative, Liberale und rechte Gruppen haben sich dieses Themas kaum angenommen, weil es nicht in ihr Weltbild passt. Denn wer Gerechtigkeit erstrebt, will oft Ungleichheit reduzieren. Für Liberale hingegen ist Ungleichheit ein wichtiges Moment der Gesellschaft. Wer mehr leistet, soll mehr verdienen, so das Credo.

 

Nur gut Informierten erschließt sich, wer hinter der INSM steckt: Sie wurde 1999 von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie gegründet und für die nächsten zehn Jahre mit je zehn Millionen Euro ausgestattet. Gesamtmetall ist der Dachverband dieser Verbände. Beraten wird die Initiative vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW), das von Verbänden und Unternehmen der privaten Wirtschaft finanziert wird. Das INSM-Konzept wurde als neuartige Form der politischen Werbung von der Werbeagentur Scholz+Friends entwickelt. Sie schlug auch deren Schlüsselbegriff der „Neuen Soziale Marktwirtschaft“ vor.

 

Mit dieser Formel versuchte das Arbeitgeberlager, sich von dem Klassenkompromiss der alten Bundesrepublik in Gestalt der Sozialen Marktwirtschaft zu distanzieren. Was inhaltlich und politisch damit gemeint war, kam in den folgenden Jahren zu Ausdruck: Die INSM war eine Gründung, die das wirtschaftsliberale politische Klima beförderte. Ziel des Unternehmenslagers war es, die Stimmung in der Bevölkerung, die (aus dessen Sicht) allzu pessimistisch und sozialstaatsorientiert war, zu verändern. Deshalb sollten die marktwirtschaftlichen Elemente gestärkt und die sozialen Elemente zurückgedrängt werden. Mehr Eigenverantwortung, weniger Kündigungsschutz, niedrigere Steuern, flexiblere Arbeitsmärkte und insgesamt mehr Marktmechanismen als Steuerungsinstrumente und weniger Dirigismus waren die Slogans, mit denen die INSM versuchte, die politische und soziale Ordnung neu zu interpretieren.

 

Neu und provozierend waren die kommunikativen Methoden der INSM. Diese nutzte die Instrumente der Werbung und die Möglichkeiten der Mediengesellschaft für politische Ziele. Prominente Personen wie der damalige Präsident der Deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer, traten als Multiplikatoren auf. Die Inhalte der INSM wurden für Journalisten bedarfsgerecht aufbereitet, sodass die Grenzen zwischen PR und Journalismus zu verschwimmen drohten. Dringende Reformen der politischen und sozialen Ordnung wurden reklamiert und kampagnenmäßig aufbereitet. Die INSM betrat mit dieser Kampagnenorientierung Neuland und fand zahlreiche Nachahmer. Im Kern wurde dieser Kommunikationsstil beibehalten, wenn auch die Themen heute etwas moderater angepackt werden und die INSM nicht mehr zu provozieren vermag.

 

Und nun Gerechtigkeit? Warum entdeckt gerade jetzt eine Initiative aus dem Lager der Arbeitgeberverbände ein Thema, das sonst eher im Lager der Linken, der Kritiker der Marktwirtschaft und des Kapitalismus zu Hause ist? Offensichtlich versucht die INSM, den großen Oppositionsparteien, der SPD und den Grünen, das Thema Gerechtigkeit streitig zu machen und deren Interpretationshoheit in­frage zu stellen. Die INSM greift damit massiv in den Wahlkampf zur Bundestagswahl ein – zugunsten der Regierung. Von der Seite der Unternehmen ist dies ein gelungener kommunikativer Schachzug, weil sie auf den ersten Blick nicht als Auftraggeber zu erkennen sind. Zum Zweiten wird das Hauptthema der Oppositionsparteien aufgenommen und mit anderen Akzenten versehen.

 

Die Wahl des Themas Gerechtigkeit als Kampagneninhalt durch die INSM kann gut begründet werden. Verschiedene empirische Erhebungen belegen, dass sich die Verteilung von Einkommen und Vermögen weiter auseinanderentwickelt hat. Ein gängiges Maß für Ungleichheit in einer Gesellschaft ist der Gini-Koeffizient, der die Einkommensverteilung in einer Gesellschaft misst. Dieser hat sich in Deutschland laut EU-Statistik von 0,26 (2005) auf 0,29 (2011) verändert, was indiziert, dass die Einkommen ungleicher verteilt sind als noch 2005. Die größere Ungleichheit wird von den Bürgerinnen und Bürgern als drängendes Problem wahrgenommen, weil sie unmittelbar die Lebenschancen und die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe betrifft. Gerechtigkeit ist der Gegenbegriff zu Ungleichheit, und eine Politik, die eine gerechtere Gesellschaft erstrebt, versucht, die Ungleichheit zu bekämpfen. Hier setzt nun die INSM mit ihrer Gegeninterpretation an, indem sie die Differenzierungen im Gerechtigkeitsbegriff benutzt. Es gibt nicht die eine Gerechtigkeit, sondern Chancengerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit. Gerade mit den Begriffen Chancen- und Leistungsgerechtigkeit lässt sich eine Ungleichverteilung begründen. Die Bildungschancen müssen zwar gleich verteilt sein, doch was der Einzelne daraus macht, bleibt ihm überlassen. Studiengebühren können in dieser Logik durchaus mit Argumenten der Gerechtigkeit begründet werden.

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