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Magazin Mitbestimmung

Euro-Debatte: Europa braucht Weitblick

Ausgabe 09/2013

Mehr Kooperation will Gesine Schwan für Europa. Man müsse „so viele Kräfte wie möglich mobilisieren, um Europa politisch und sozial besser zu einigen“ und gemeinsam lernen – auf Augenhöhe und nicht so, dass Deutschland das Sagen hat. Von Gesine Schwan

Ja klar, alle Optionen müssen auf den Tisch! Eine Wissenschaft, die etwas auf sich hält, muss das fordern. Sie muss übrigens dabei auch alle denkbaren Implikationen der jeweiligen Optionen – zum Beispiel mögliche „Kollateralschäden“ – in den Blick nehmen. Mit seinem Plädoyer, den Euro wieder aufzugeben und zurückzukehren zu einem „System fester, aber koordinierter Währungskurse“, hat sich Martin Höpner zunächst einmal sehr verdient gemacht. Denn er legt den Finger auf zwei Probleme, die in der öffentlichen Diskussion nicht zureichend beachtet werden: zum einen auf die Unterschiedlichkeit der Gewerkschafts- und Lohnfindungstraditionen in der Europäischen Union und deren erheblichen Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklungen in den jeweiligen Ländern. Dabei kommt auch heraus, dass viel zu kurz greift, wer die Produktivitäts- und Wachstumsunterschiede immer nur auf „angebotstheoretisch“ begründete Reformen wie Lohn- und Sozialleistungskürzungen, Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Verschlankung des „Staatsapparats“, Flexibilisierung des Kündigungsschutzes zurückführt.  

Zu dieser kurzschlüssigen Erklärung gehört auch die häufig geäußerte Annahme, die Agenda 2010 sollte für die europäischen Nachbarn ein Modell sein und von ihnen nachgeahmt werden. Nach dem Motto: „Sie haben noch vor sich, was wir schon geschafft haben.“ Es ist wirklich sehr verdienstvoll, dass Martin Höpner dagegen auf die Bedeutung der Gewerkschaftssysteme und überhaupt der Arbeits- und Sozialbeziehungen hinweist. Dabei erkennt man schnell, dass der Kern der deutschen (auch der österreichischen und der skandinavischen) Wirtschaftskraft zu einem großen Teil bei den Arbeitnehmern, den Gewerkschaften (die vor der Krise in Deutschland noch als störender Sand im Getriebe kleingemacht werden sollten) und der Tradition der Sozialpartnerschaft liegt, einer Konstellation, die nun nicht einfach mal schnell woanders nachgeahmt werden kann.

Zum Zweiten weist Martin Höpner zu Recht auf die oft leere Rhetorik hin, mit der die Ergänzung der Währungsunion durch eine politische Union gefordert wird, wobei völlig offenbleibt, wie diese aussehen sollte. Dabei ist die zentrale Frage: Kann Europa aus der unfruchtbaren Gegenüberstellung zwischen Rückkehr zum Staatenverbund einerseits und einem starken und notwendig zentralistischen Bundesstaat andererseits einen fruchtbaren und demokratisch legitimen Ausweg finden?

Martin Höpner hat auch recht, wenn er auf die Schwierigkeiten hinweist, die die europäischen Gewerkschaften mit langem Atem überwinden müssen, wenn sie ihre historisch gewachsenen und kulturell tief verwurzelten ganz unterschiedlichen Politiken zugunsten einer mehr koordinierten und stabileren Lohnfindung und Tarifpartnerschaft in der gesamten Europäischen Union weiterentwickeln wollen. Und nicht nur die Gewerkschaften: Auch die Arbeitgeber und ihre Verbände müssten ihrerseits zu einer neuen Einstellung gegenüber Arbeitnehmern sowie Gewerkschaften und ihrem unverzichtbaren Beitrag für eine produktive Wirtschaft finden. Sie müssten bereit sein, Vertrauensverhältnisse zwischen den „Sozialpartnern“ aufzubauen, die letztlich der Grund für die Produktivität der deutschen, österreichischen und skandinavischen Wirtschaft sind, nicht niedrige Löhne, die in Deutschland, wie wir sehen, für 20 Prozent der Vollzeit Arbeitenden zum Leben nicht ausreichen. Das über lange Zeit aufgebaute Vertrauen, das gemäß vielen politik- aber auch wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen „Transaktionskosten reduziert“, ist es vor allem, was wir sowohl für einen Aufschwung der europäischen Wirtschaft als auch für eine gelungene, Legitimation schaffende politische Union brauchen. Freilich: Wenn Höpner wegen der Schwierigkeit, solche sozialpartnerschaftlichen Beziehungen auch im übrigen Europa aufzubauen, dafür plädiert, derartige politische Koordinationsbemühungen von vornherein als aussichtslos aufzugeben, dann liegt die Logik seines Arguments darin, überhaupt zum System der großen innereuropäischen Unterschiede und der Nationalstaaten zurückzukehren, sie vielleicht sogar zu verstärken.

Die Produktivitätsunterschiede, die immer wieder durch Wechselkursänderungen ausgeglichen werden können, würden durch Renationalisierung von Währungen, Gewerkschaftssystemen, Sozialbeziehungen, in denen sie begründet sind, ja nur fortgesetzt. Dabei scheint Höpner auch den „Standortwettbewerb“ (um die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit) innerhalb Europas zu akzeptieren und festschreiben zu wollen. Seit Maastricht war der ja gerade ein wesentlicher Faktor dafür, warum es nicht zu einer engeren wirtschafts-, steuer- und finanzpolitischen Zusammenarbeit kam. Denn Staaten und deren Gewerkschaften, die im Wettbewerb zueinander stehen, werden sich ihrer Hebel, mit denen sie sich gegen die anderen durchsetzen können, nicht begeben. Zugleich hat der Standortwettbewerb die Diskrepanzen zwischen Arm und Reich innerhalb und zwischen den nationalen Gesellschaften verschärft.

Wenn Höpner die koordinierten Lohnfindungssysteme als eine ausschlaggebende Ursache für die Verringerung der Lohnstückkosten in den prosperierenden europäischen Ländern ansieht; wenn er zugleich einem großen Teil der Länder in der Europäischen Union eine Reform ihrer Gewerkschaftssysteme zugunsten der Senkung der Lohnstückkosten nicht zutraut, will er es bei der Fortsetzung der inneren Teilungen und der zunehmenden Diskrepanzen zwischen Arm und Reich in Europa belassen. Im Klartext heißt dies: im globalen Wettbewerb Europa nicht gemeinsam zu stärken, sondern die Zukunft in nationalen Alleingängen zu suchen. Was übrigens rund 80 Prozent der Europäer, auch der Deutschen, nicht wollen.

Wenn man sich dann noch die völlig unberechenbaren politischen und psychologischen Folgen eines Aufbrechens der gemeinsamen Währung (nachdem sie einmal eingeführt worden ist) vorzustellen versucht und dazu die Währungsspekulationen der Finanzmärkte, für die es ein Leichtes ist, die Nationalstaaten gegeneinander auszuspielen, dann sieht die Bilanz zwischen Renationalisierung einerseits und in der Tat mühsamer Arbeit an freiwilliger Koordination in Europa schon anders aus.

Denn darauf läuft die Alternative hinaus: Wenn wir weder zurückkehren wollen zu untereinander vertraglich verbundenen Nationalstaaten noch einen zentralistischen europäischen Bundestaat anstreben – und hier bin ich ganz bei Martin Höpner –, dann müssen wir auf allen Ebenen zu mehr geduldiger, respektvoller und solidarischer Kooperation statt Konkurrenz gelangen. Dazu gehört vor allem, den „Standortwettbewerb“ zwischen den europäischen Staaten entschieden zu verabschieden und stattdessen systematisch gemeinsam zu lernen – auf Augenhöhe und nicht so, dass Deutschland ausdrücklich oder unter der Hand das Sagen hat.

Man könnte auch als Strategie einer demokratisch legitimen politischen Union das „Europäische Semester für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik“, das die frühzeitige Überprüfung der nationalen Haushalts- und Reformentwürfe erlaubt, parlamentarisieren und damit demokratisieren. Indem man bei der europäischen Vorbereitung der nationalen Budgetrichtlinien – was faktisch auf eine gemeinsame europäische Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik hinausläuft – öffentliche Stellungnahmen des Europäischen Parlaments zusammen mit nationalen Parlamentariern in allen Ländern gleichzeitig debattiert und damit in dieser Entscheidungsphase den Europäischen Rat und die Kommission konfrontiert.

Auf diese Weise kann es gelingen, durch eine synchrone Diskussion gemeinsamer Themen jene europäische Öffentlichkeit herzustellen, die es den Bürgern Europas ermöglichen würde, durch gegenseitig interessierende Kommunikation ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen und sich mit dem gesamten europäischen Gemeinwesen so zu identifizieren, wie das im 19. Jahrhundert in den Nationalstaaten gelungen ist.

Ein solches Europa wäre auch in der Lage, eine gewichtige Rolle nach innen und nach außen zugunsten von gleicher Freiheit und Solidarität in einer globalisierten Wirtschaft zu spielen. Damit könnte man die „Spirale nach unten“, die das Zeitalter der Deregulierung ausgelöst hat und die überall auf der Welt die Arbeitnehmer zu Verlierern macht, zugunsten einer weltweiten „Spirale nach oben“ umkehren. Das ist anstrengend, das verlangt Beharrlichkeit und das berühmte Max Weber’sche Bohren harter Bretter. Aber damit setzen wir uns doch ein stimulierendes, kein resignativ rückwärtsgewandtes Ziel!

Man kann den immer wieder beschworenen Mangel, dass die Währungsunion ohne den Unterbau einer politischen Union in Europa eingeführt worden ist, dadurch zu beheben versuchen, dass man die Geschichte wieder zurückdreht. Man kann in der damaligen Entscheidung für den Euro aber auch einen klugen Schritt oder zumindest die Chance sehen, im weiteren Horizont der weltpolitischen Entwicklung so viele Kräfte wie möglich zu mobilisieren, um Europa politisch und sozial besser zu einigen.

Schon jetzt haben erhebliche Teile der Wirtschaft ein großes Interesse an der Erhaltung des Euro, weil er ihnen hinderliche Unsicherheiten und Transaktionskosten unterschiedlicher Wechselkurse erspart. Weitsichtige politische Führung läge darin, diese Kräfte über ihre engeren betriebswirtschaftlichen Interessen hinaus auf eine europäische Einigung zu lenken, die allen, gerade auch den Arbeitnehmern, überhaupt den europäischen Bürgern zugutekommt. Niemand kann erwarten, dass uns das in den Schoß fällt!

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