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Magazin Mitbestimmung

Mein Arbeitsplatz: Der virtuelle Reporter

Ausgabe 09/2013

Matthias Helmer, 47, Journalist und Sozialwissenschaftler, schreibt seit zwölf Jahren für das Magazin Mitbestimmung, wo er 2008 ein Jahr vertretungsweise als Redakteur tätig war. Zuvor war Helmer wissenschaftlicher Mitarbeiter am SOFI in Göttingen.

Göttingen, Windausweg 28 „Früher war mein Arbeitsplatz die Welt, ich war viel unterwegs. Heute reise ich nur noch virtuell. Vor vier Jahren ging es los mit meiner Erkrankung, mit Zittern in den Armen und Humpeln. Seither verlieren immer mehr Muskeln ihre Funktion, sie bekommen vom Gehirn die falschen Signale. Arme und Hände kann ich mittlerweile gar nicht mehr bewegen, die Beine kaum noch. Seit drei Jahren sitze ich nunmehr im Rollstuhl. Am schlimmsten ist jedoch, dass ich nicht mehr sprechen kann. Ohne die Technik wäre ich aufgeschmissen, ich mag mir gar nicht ausmalen, was noch vor 15 Jahren gewesen wäre. Den Computer bediene ich mit einer Kopfmaus. Auf dem Bildschirm ist eine Tastatur, die über die Kamera oben am Monitor und einen Reflektor am Stirnband gesteuert wird, per Kopfbewegung. So kann ich kommunizieren. Und alle normalen Programme nutzen. Es gibt auch eine Augensteuerung. Beides ist sehr lichtempfindlich, dadurch kann ich nicht draußen arbeiten. Von meinem Schreibtisch blicke ich auf eine Kleingartenanlage. Nebenan sind außerdem ein Freibad und ein griechisches Restaurant. Das sorgt im Sommer für eine Geräusch- und Geruchskulisse wie am Mittelmeer, irgendwo zwischen Athen und Zypern. Auch die Sonnenuntergänge sind spektakulär.

Mein Tagesablauf ist straff organisiert durch Termine mit Pflegekräften oder Therapeuten. Vormittags bin ich für gewöhnlich produktiver, dann schreibe ich. Am Nachmittag ist eher Lesen und Recherchieren dran, wenn meine Kräfte es zulassen. Ich darf mich nicht überanstrengen – und will natürlich auch Zeit mit meiner Familie oder Freunden verbringen. Sie geben mir Halt. Und auch die Arbeit, obwohl ich nur noch einen Bruchteil von dem schaffe wie früher. Ich kann ja noch froh sein, auch wenn sich das komisch anhört. Aber jeder andere Job wäre in meiner Situation nicht leistbar. Ich kann noch schreiben, immerhin. Mein letztes Interview vor Ort habe ich im Frühjahr 2010 geführt. Ein anderes Thema ist die materielle Absicherung: Zum Glück hatte ich eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen. Mit meinen bis dato erworbenen Rentenansprüchen kämen wir nicht weit – die Kehrseite der Selbstständigkeit. Und barrierefreie Wohnungen sind rar und teuer. Hier hat die Politik noch viel zu tun.“

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