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Magazin Mitbestimmung

Milieus: Die gespaltene Demokratie

Ausgabe 09/2013

Forscher erwarten, dass bei den Bundestagswahlen 2013 weniger Menschen mitmachen als jemals zuvor. Nichtwählen wird bei einem Teil der sozial Schwachen die neue Norm. Gegensteuern fällt den Parteien schwer. Von Andreas Molitor

Eigentlich bräuchte Swen Schulz bei seinem Spaziergang durch das Falkenhagener Feld nur den Leuten in den Mund zu schauen, die ihm entgegenkommen. Auffallend viele Menschen in dieser Wohnsiedlung ganz am Rand des Berliner Bezirks Spandau haben kaum noch Zähne im Mund, nur kümmerliche Fragmente sind geblieben. Selbst bei Kindern ragen mitunter schwarze Stümpfe aus dem Kiefer. Fehlt den Menschen hier tatsächlich das Geld für den Zahnarzt, fragt man sich unwillkürlich. Oder ist es ihnen einfach egal, wie es in ihrem Mund aussieht?

Swen Schulz, SPD-Bundestagsabgeordneter für Berlin-Spandau und den Charlottenburger Norden, hat keine Zeit für Gedankenspiele über Zahnhygiene. Der schlaksige, jungenhaft wirkende Politiker hat seine Umhängetasche voll mit SPD-Flyern, die er unters Volk bringen will. Bleierne Schwüle liegt über der Stadt, die Luft steht wie eine Mauer zwischen den Häusern. In einer kleinen Einkaufspassage im Schatten eines Elfgeschossers, wo das Schmatzen von Badelatschen durch die Häuserschlucht hallt, nähert Schulz sich dem Wahlvolk. „Schönen guten Tag, Schulz mein Name, eine kleine Info von mir?“ Die meisten nehmen das Faltblatt mit Schulz’ Konterfei kommentarlos, manche winken auch ab. Nur eine alte Frau, schwer gezeichnet von jahrzehntelanger Trunksucht, will Schulz in ein Gespräch verwickeln. Doch leider ist die über ihren Rollator gekrümmte Frau nachmittags um drei schon so betrunken, dass der Kandidat nicht mal in Ansätzen versteht, was sie ihm sagen will. Schulz bleibt höflich. Er ist froh, als er weitergehen kann.

Das Falkenhagener Feld, wo alt gewordener Beton das Bild dominiert, zählt zu jenen Berliner Vierteln, die auf dem abschüssigen Weg von der Muster-Sozialsiedlung zum Wohnquartier der Entbehrlichen weit vorangekommen sind. Die Arbeitslosenrate schätzt Schulz auf 30 Prozent, den Anteil der Hartz-IV-Empfänger noch höher. Hier wohnen Alte mit kleiner Rente, Russland-Aussiedler, junge türkische Männer, die viel Zeit im Fitnessstudio verbringen, und abgehängte Ur-Berliner, die von der Wucht der Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt aus der Bahn geworfen wurden. An den Rand der Stadt, an den Rand der Gesellschaft. Man sieht junge Mütter, die mit Anfang zwanzig schon so aussehen, als halte das Leben für sie nicht mehr allzu viel bereit. In den Einkaufswagen liegt viel billiger Schnaps.

„Hier leben Menschen, die sich daran gewöhnt haben, weniger zu besitzen, weniger zu tun und weniger zu erwarten, als bisher für die Existenz als notwendig angesehen worden ist.“ So steht es in der berühmten sozialwissenschaftlichen Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ aus den 30er Jahren, einer Chronik des wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Verfalls eines niederösterreichischen Dorfes nach der Schließung der ortsansässigen Textilfabrik. Es gibt Orte, da trifft der Satz auch 80 Jahre später noch zu. Schulz’ letzter Bundestagswahlkampf – der 45-Jährige tritt in diesem Jahr zum vierten Mal an – verlief wenig erfolgreich. Er verlor den Wahlkreis an den Konkurrenten von der CDU. Nur ein guter Platz auf der Landesliste rettete sein Mandat. Was ihn fast noch mehr ärgert: Sein Wahlkreis zählt mittlerweile zu den Niststätten der Wahlmüdigkeit. Im Falkenhagener Feld machten in manchen Stimmbezirken nicht mal 40 Prozent der Wahlberechtigten ihr Kreuz. In den 70er Jahren, als Brandt gegen Barzel antrat und Schmidt gegen Kohl, waren es noch weit über 80 Prozent.

RÜCKGANG DER WAHLBETEILIGUNG STARKER TREND

Die 72er-„Willy-Wahl“ markiert eine Zäsur in der Geschichte der deutschen Wahlstatistik – nicht nur im Falkenhagener Feld. Damals schnellte die Wahlbeteiligung bundesweit auf den Rekordwert von 91,1 Prozent. Danach sank die Beteiligung peu à peu auf knapp unter 80 Prozent, erreichte bei der Kohl-Abwahl 1998 mit 82,2 Prozent ein kleines Zwischenhoch und sackte dann bis 2009 auf 70,8 Prozent – den niedrigsten Wert seit 1949.

Jahrzehntelang interpretierten Wahlforscher den Rückgang der Wahlbeteiligung als eine unbedenkliche Annäherung an „normale“ Verhältnisse in anderen Ländern. Erst jüngste Analysen legen nahe, dass die Erosion der Wahlbereitschaft eine bedenkliche soziale Schieflage aufweist. Denn sie geht vor allem auf das Konto der sozial schwachen Bevölkerungsschichten, in denen der Urnengang oft die einzige Form der politischen Partizipation war. So fanden die Allensbach-Demoskopen im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung heraus, dass der Abstand in der Wahlbeteiligung zwischen dem bestverdienenden Fünftel der Bevölkerung und dem Fünftel mit den niedrigsten Einkommen zwischen 1972 und 2009 dramatisch zugenommen hat – von fünf auf 19 Prozent. Nach ihrer Wahlabsicht für die kommende Bundestagswahl gefragt, gaben nur noch 31 Prozent der Wahlberechtigten aus der Unterschicht an, dass sie „bestimmt zur Wahl gehen“ – gegenüber 68 Prozent bei der oberen Mittelschicht und der Oberschicht. Fazit der Studie: „Menschen mit einem geringeren Bildungshintergrund, weniger Einkommen und insgesamt geringerem Sozialstatus gehen weitaus weniger zur Wahl, als dies Menschen mit höherer Bildung und besserem Einkommen tun.“ 

Der Befund lässt sich übertragen auf Wohngebiete wie das Falkenhagener Feld. Thorsten Faas, Professor für Methoden der empirischen Politikforschung an der Uni Mainz, hat Daten der amtlichen Statistik ausgewertet. Er sagt: „Je höher die Sozialhilfequote und Arbeitslosenquote in einer Gemeinde ist, desto niedriger liegt dort die Wahlbeteiligung.“ Zu fast gleichlautenden Resultaten kam Faas’ Kollege Armin Schäfer vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln nach einer Analyse der Wahldaten in 15 deutschen Städten. Schon ein Schnell-Check der Wahlkreise mit der niedrigsten Beteiligung an der Bundestagswahl 2009 zeigt deutliche Korrelationen: Die fünf Wahlreviere – Anhalt, Mansfeld, Burgenland-Saalekreis, Stralsund-Nordvorpommern-Rügen und Duisburg II – weisen allesamt eine weit über dem Schnitt ihres Bundeslandes liegende Arbeitslosen- und Hartz-IV-Quote sowie eine stark unterdurchschnittliche Kaufkraft auf.

Der Rückzug von der Politik birgt ein hohes Ansteckungspotenzial. „Wenn man in einer höchstens durchschnittlichen Wohngegend oder in einem Viertel mit hohem Nichtwähleranteil wohnt“, schreibt Armin Schäfer, „dann verringert sich – unabhängig von anderen individuellen Merkmalen – die Bereitschaft, wählen zu gehen.“ Damit verabschieden sich ganze Wohnquartiere mehrheitlich aus der Teilhabe am politischen Leben; ihre Bewohner werden mit ihren Interessen nach und nach unsichtbar. Wie hieß es in der Marienthal-Studie über die „müde Gemeinschaft“: „Der Eindruck, den wir gewinnen, ist der einer abgestumpften Gleichmäßigkeit.“

NICHTWÄHLEN ALS NEUE SOZIALE NORM

Doch damals blieb die Wahlbeteiligung stabil bei über 90 Prozent. In den 30er Jahren galt der Urnengang noch als staatsbürgerliche Pflicht. Diese „Wahlnorm“, nach der es in einer Demokratie zu den Bürgerpflichten gehört, regelmäßig zur Wahl zu gehen, hat vor allem am unteren Rand der Gesellschaft deutlich an Bindungskraft verloren. Nach der aktuellen Bertelsmann-Studie sehen nur noch 55 Prozent der Angehörigen der Unterschicht im Wählen eine Bürgerpflicht; in der Mittel- und Oberschicht sind es 82 Prozent. „Wahlen spielen für diese Menschen keine Rolle mehr, sie sind ihnen egal“, urteilt Johanna Klatt, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung, die gemeinsam mit Institutschef Franz Walter das Engagement sozial Benachteiligter erforscht. „Warum sollte jemand wählen, wenn er weiß, dass er auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance hat oder dass er ohne Schulabschluss niemals einen Ausbildungsplatz bekommt?“ In der Nichtwahl sieht Franz Walter eine der neuen Normen, „die sich auf diese Weise quartiersbezogen entwickelt haben. Man fühlt sich vom dominanten Teil der Gesellschaft verlassen und sieht infolgedessen auch keinen Grund, an deren Vereinbarungen und Verständigungsmustern mitzuwirken.“ Wenn ein Mensch aus freiem Willen entscheidet, der Wahl fernzubleiben, ist das demokratietheoretisch maximal ein Schönheitsfehler, aber kein ernstes Problem. Aber geht es hier noch ums Wollen? Oder geht es vielmehr ums Können?

Politikforscher Thorsten Faas hegt erhebliche Zweifel, ob in der zunehmend wahlabstinenten Unterschicht „individuelle Eigenschaften, die als notwendige Bedingung für politische Partizipation gegeben sein müssen“, noch ausreichend vorhanden sind. Mit dem Räsonieren der bildungsbürgerlichen Wahlverweigerer, die dem Wahllokal fernbleiben, weil das politische Angebot ihnen intellektuell zu armselig erscheint, hat das nichts gemein. „Wenn die Wahlen so erhebend sind wie ein Sonntag bei der Schwiegermutter mit zu viel Bienenstich, dann stimmt etwas nicht“, begründet etwa der philosophisch vorgebildete „Spiegel“-Autor Georg Diez seine Wahlabstinenz. Im Falkenhagener Feld gibt es sonntags keinen Bienenstich.

Mit Blick auf solche Wohnquartiere sieht die Bertelsmann-Stiftung die Gefahr einer „gespaltenen Demokratie“ heraufziehen. Wenn die Entbehrlichen als Wähler immer weniger in Betracht kommen, warum sollten die Parteien dann auf sie noch besondere Rücksicht nehmen? Warum sollten Politiker, wie SPD-Chef Sigmar Gabriel es vor einigen Jahren gefordert hat, „raus ins Leben; da, wo es laut ist; da, wo es brodelt; da wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt“? Wenn es doch ertragreicher erscheint, sich an den Präferenzen derer zu orientieren, die mit einiger Wahrscheinlichkeit zur Wahl gehen. Die Interessen derjenigen, die zur Unterschicht gehören, fallen dann schnell unter den Tisch.

Wie kann man gestrauchelte Menschen, gestrauchelte Wohnquartiere wieder zurückholen ins Gemeinwesen? Wie könnte die demokratische Re-Integration derer funktionieren, deren Leben letztlich am stärksten von politischen Entscheidungen betroffen ist? Faas hält die Diskussion über die Einführung einer Wahlpflicht für überfällig. „Das würde zumindest die Rationalität des Kalküls der Parteien durchbrechen, dass es sich nicht lohnt, sich um die Interessen von Menschen zu kümmern, die ohnehin nicht wählen“, hofft er, wohl wissend, dass eine Wahlpflicht in Deutschland kaum mehrheitsfähig ist.

SCHULZ SAGT NICHT „WAHLKAMPF“, SONDERN „KÜMMERTOUR“

Doch es muss auch andere Wege geben. Nach einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung glauben 87 Prozent der Nichtwähler, ihre Wahlbereitschaft könne dadurch erhöht werden, „dass die Politiker wieder ein Ohr für die wirklichen Sorgen und Nöte der Menschen haben“. Gesucht werden nicht Lautsprecher, sondern Kümmerer. Das ist das Stichwort für Swen Schulz. Der SPD-Mann sagt bewusst nicht „Wahlkampf“, sondern geht schon seit Jahren „auf Kümmertour“. Der Schulz, der kümmert sich, soll bei den Leuten haften bleiben, den Schulz kannste wählen. Hin und wieder kann er tatsächlich etwas bewegen: dafür sorgen, dass eine Sozialarbeiterin an einer Schule bleiben kann oder dass ein Mann, der nicht mal mehr genug Geld für eine Büchse Ravioli hat, weil ihm die Stütze gestrichen wurde, beim Jobcenter zum richtigen Sachbearbeiter vorgelassen wird. Geholfen hat es dem SPD-Mann bei der letzten Wahl aber nicht.

Es gibt noch etwas anderes im Kiez. Eine Ebene des bürgerschaftlichen Engagements, die sich zwischen Politik und Kiezbewohnern, zwischenLeuten wie Schulz und den Menschen in Jogginghosen und Badeschlappen formiert hat. „Viertelgestalter“ nennen Franz Walter und Johanna Klatt jene, die im Viertel leben, sich für das Viertel engagieren und dadurch den einen oder anderen aus der Apathie reißen. Auch im Falkenhagener Feld gibt es sie. Die „Nachbarn im Kiez“ organisieren kostenlose Nachhilfe für Grundschüler; die Eltern aus der Initiative „Stark für die Zukunft“ geben Kindern Unterricht in Gitarre, trommeln und Keyboard; es gibt eine Stadtteilzeitung, Stadtteilfeste und eine Ehrenamtsbörse. Schulz könnte auch mit den Viertelgestaltern durch die sommerliche Gluthitze ziehen statt mit seinen beiden Praktikanten, die eifrig Flyer unters Volk bringen. 

Doch wie unendlich lang sind die Aktivierungsketten, die sich – vielleicht – irgendwann einmal in zählbaren Wählerstimmen niederschlagen? Schulz will Kümmerer sein; er sagt aber auch: „Ich renne hier nicht als Aktivator für den Kiez rum.“ Stattdessen muss er sich in den Haustürwahlkampf stürzen, obwohl er das Hausieren an Wohnungstüren „tendenziell übergriffig“ findet. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles hat vorgegeben, dass die Partei-Companeros in diesen Wochen an fünf Millionen Wohnungstüren klingeln sollen. „Ich weiß nicht, ob das in einem Viertel wie dem Falkenhagener Feld der Knaller ist“, sagt Schulz und denkt wohl schon an die vielen Türen, die sich nicht öffnen. Länger als zwei, drei Minuten sollten die Gespräche ohnehin nicht dauern, heißt es in einer Handreichung aus dem Willy-Brandt-Haus. Wörtlich steht in dem Papier: „Ausführliche Diskussionen sollten an der Tür vermieden werden.“

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