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Magazin Mitbestimmung

EU-Einwanderung: Neue Gesichter im Ruhrpott

Ausgabe 07+08/2013

Immer mehr Rumänen und Bulgaren suchen in Deutschland ein besseres Leben. Städte wie Duisburg oder Dortmund sehen sich mit den Armutsflüchtlingen alleingelassen. Ein Besuch im Ruhrgebiet. Von Silviu Mihai

Auf dem kleinen Platz vor der Pauliskirche sitzen zwei Männer auf einer Bank im Schatten. Direkt gegenüber, im Kiosk Europa, haben sie Kaffee in Plastikbechern bekommen. Es ist ein heißer Sommertag in Duisburg-Hochfeld, der blaue Himmel und der Duft aus dem Grillrestaurant nebenan erinnern an den Balkan. Männer in Trainingshosen und Schlappen trinken Kaffee aus Plastikbechern. Sie sprechen Rumänisch. Man hört es immer öfter, nicht nur im Ruhrgebiet. Im Bundesgebiet lebten 2012 rund 75 000 mehr Menschen aus Rumänien und Bulgarien als im Jahr zuvor. Doch hier, in Städten wie Duisburg oder Dortmund, fallen die neuen Gesichter mehr auf, weil die meisten in bestimmte Viertel ziehen, in denen bereits Landsleute leben.

DAS WOHLSTANDSGEFÄLLE

In Duisburg-Hochfeld genauso wie in der Dortmunder Nordstadt ist man an Migration gewöhnt. „In den frühen 60er Jahren haben sich hier die ersten Italiener niedergelassen“, erzählt Rolf Karling vom Duisburger Verein Bürger für Bürger. „Dann kamen die Türken, die Araber, danach die aus dem ehemaligen Jugoslawien.“ Die meisten damaligen Gastarbeiter sind nie in ihre Ursprungsländer zurückgekehrt. „Auch die Rumänen und Bulgaren kommen her, um zu bleiben. Da müssen wir uns keine Illusionen machen.“ Das Wohlstandsgefälle, das damals viele Südeuropäer nach Deutschland zog, zieht heute Menschen aus den beiden Balkanländern an, die 2007 der EU beigetreten sind. Der durchschnittliche Bruttolohn liegt im Moment bei knapp 400 Euro in Bulgarien.

Doch auch in Deutschland hat sich die politische und soziale Realität geändert. In den 60er Jahren galt das Wirtschaftswachstum als eine Selbstverständlichkeit, der Sozialstaat begleitete die Menschen in allen Lebensphasen und sorgte für ein Gefühl der Sicherheit und Gerechtigkeit. Das Ruhrgebiet lebte noch von seiner Industrie. Inzwischen prägt Einwanderung das Straßenbild, das Leben in Deutschland ist bunter geworden. Aber die Industrie ist nicht mehr da, und der Glaube an Fortschritt und Wohlstand für alle ist brüchig geworden.

Ibrahim Ahmed ist einer, der den Begriff „Strukturwandel“ nicht kennt. Doch darüber, wie sich das anfühlt, kann er in seiner Muttersprache Bände erzählen. Der 46-Jährige ist in Bulgarien geboren, in der kleinen Stadt Razgrad, unweit der Donau. „Vor der Wende habe ich in der Bauindustrie gearbeitet“, erinnert er sich. „Der Staat sorgte dafür, dass die Arbeiter günstige Wohnungen bekamen. Wir fühlten uns gut versorgt, auch wenn wir nicht ausreisen durften.“ Dann kamen die 90er Jahre, und die Planwirtschaft Bulgariens kollabierte. Ahmed, der als Roma und Türkischsprachiger zweifach zu einer Minderheit gehört, fand sich sehr früh auf der Liste der Entlassenen.

Es folgten lange Jahre in bitterer Armut und prekärer Tagelöhnerei. Ahmeds Eltern versorgten die Familie mit Paprika und Zwiebeln aus ihrem kleinen Garten. Auf Industriebrachen sammelte Ahmed Schrott, um über die Runden zu kommen. So sind die drei Kinder groß geworden: Jetzt studiert die älteste Tochter Medizin in Großbritannien, die beiden anderen leben in Belgien.

Erst 2005, kurz vor dem EU-Beitritt des Landes, ging es wieder besser. „Es wurden Wohnungen gebaut und Einkaufszentren. Es gab genug Arbeit, aber alles wurde auch viel teurer“, erzählt Ahmed. Dann platzte die Immobilien- und Konsumblase und setzte dem kurzen Aufschwung ein abruptes Ende. Bulgarien war jetzt in der EU, doch die Hoffnung auf eine schnelle Annäherung an die westeuropäischen Lebensstandards erwies sich als Illusion. Ahmed verlor wieder seine Stelle. Er beschloss, zusammen mit seiner Lebensgefährtin seine Heimat zu verlassen.

DAS POLITIKVERSAGEN

Ibrahim Ahmed sitzt auf seinem Sofa, das er auf der Straße gefunden hat, als er vor vier Jahren nach Duisburg-Hochfeld zog. Er war sich nicht sicher, ob er das alte Möbelstück mitnehmen darf. Dass man Sperrmüll einfach so auf die Straße stellt, damit er abgeholt wird, kannte er aus Bulgarien nicht. „Bei uns finden sich immer Familienangehörige oder Freunde, die so etwas gebrauchen können“, sagt er. Aber Landsleute, die seit Längerem in Duisburg leben, haben ihm erklärt, dass er das Sofa nach Hause schleppen darf. „Sie haben mir viel geholfen, vor allem die türkischstämmigen Bulgaren, aber auch die Türken aus der Türkei. Schließlich sprechen wir die gleiche Sprache.“

Rund 400 Euro im Monat muss er für die Zweizimmerwohnung zahlen, die er zusammen mit seiner Lebensgefährtin Edje Salijewa bewohnt. Keiner von ihnen hat eine feste Stelle, ab und an arbeitet Ibrahim Ahmed als Tagelöhner, meistens bei türkischstämmigen Arbeitgebern, mit denen er zumindest kommunizieren kann. Deutsch spricht er nicht, niemand hat ihm einen Sprachkurs angeboten. „Ich wollte es immer lernen, aber ich konnte es mir nie erlauben, den Kurs aus der eigenen Tasche zu zahlen.“ Jetzt hat sich Ahmed mit anderen Bulgaren aus der Nachbarschaft zusammengeschlossen und einen Kulturverein gegründet. Der soll bald Deutschunterricht und andere Integrationskurse für die neuen Migranten anbieten.

Diese schwierige Situation ist zumindest teilweise auf mangelnden politischen Willen zurückzuführen. Als Rumänien und Bulgarien der EU beigetreten sind, bestand die Bundesregierung wie auch andere westeuropäische Länder auf einer siebenjährigen Übergangsphase, in der nur eine eingeschränkte Freizügigkeit gilt. „Doch diese Zeit wurde nicht genutzt, um sich auf die neue Migration vorzubereiten“, kritisiert die rumänischstämmige Politologin Alina Mungiu Pippidi von der Hertie School of Governance in Berlin. „Wie so oft in Deutschland wurden die Probleme nicht thematisiert, weil man sich nicht traute, den Wählern die Wahrheit zu sagen: Rumänen und Bulgaren sind Europäer, und wir müssen für sie zahlen, auch wenn es teuer wird, weil unsere Unternehmen davon profitieren, und zwar sowohl hier als auch in Rumänien und Bulgarien.“

DIE KOMMUNEN

Nicht nur die Migranten, sondern auch die Kommunen in Deutschland fühlen sich im Stich gelassen. Auf Initiative der Städte Duisburg und Dortmund appellierte der Städtetag im Frühjahr an die Bundesregierung, ein Hilfsprogramm für diejenigen Kommunen aufzulegen, für die die neue Situation eine unzumutbare finanzielle Belastung verursacht. Die Sozialdezernentin der Stadt Dortmund, Birgit Zoerner (SPD), die beim Deutschen Städtetag den Arbeitskreis „Zuwanderung von Menschen aus Rumänien und Bulgarien“ leitet, erklärt, dass vor allem in den Bereichen Wohnen, Arbeit, medizinische Versorgung und bei der Schulpflicht für die Kinder dringender Handlungsbedarf besteht.

„Bei der Erweiterung und beim Ausbau der EU wurden Fehler gemacht, die sozialen Aspekte wurden vernachlässigt, und jetzt bekommen wir die Konsequenzen zu spüren“, sagt die Kommunalpolitikerin. Gemeint ist damit nicht nur das enorme Wohlstandsgefälle zwischen den beiden Balkanländern und Deutschland, sondern auch die Diskriminierung und Ausgrenzung, die zum Alltag der Roma in Osteuropa gehören. Denn es sind Roma wie Ibrahim Ahmed, die sich als Erste auf den Weg nach Deutschland machen, weil sie in den Heimatländern keine Perspektiven haben.

In Duisburg-Rheinhausen, wenige Autominuten von Hochfeld entfernt, reihen sich auf beiden Seiten der Straßen solide Mehrfamilienhäuser. Das Wohnviertel galt bis vor Kurzem als gute, ruhige Lage, die Mehrheit bilden im Gegensatz zu Hochfeld alteingesessene Deutschstämmige. Doch dann wurden fast 50 Wohnungen in zwei benachbarten Häusern an Roma-Familien aus Rumänien vermietet. Die Anrainer fingen an, sich über Lärmbelästigung zu beschweren, Immobilienbesitzer aus der Nachbarschaft organisierten sich in Vereinen, und Boulevard-Blätter beschrieben die Lage als unbeherrschbar.

DIE NACHBARSCHAFT

Rolf Karling vom Verein Bürger für Bürger, der sich seit Jahren für die Belange der armen und sozial schwachen Anwohner engagiert, sah sich plötzlich mit einer explosiven Situation konfrontiert, die er seitdem versucht, in Griff zu bekommen. „Diese Menschen sind in ihren Heimatländern ständig ausgegrenzt worden und verfügen nicht über die Grundfähigkeiten, die ein bürgerliches Zusammenleben ermöglichen. Niemand hat ihnen erklärt, wie man den Müll entsorgt und trennt. Dass die Kinder geimpft werden und in die Schule müssen. Viele fühlen sich überfordert.“

Jeden Nachmittag organisiert der Verein, dass Bedürftige aus der Nachbarschaft gegen einen symbolischen Beitrag von zwei Euro Obst und Gemüse erwerben können. Gratiela und Carmen haben Orangen, Zwiebeln und Kohlrabi für ihre Kinder gekauft. Ursprünglich kommen sie aus Barbulesti, einem Dorf, das rund 60 Kilometer von Bukarest entfernt liegt, mitten in einer landwirtschaftlich geprägten Region. „Dumm nur, dass fast niemand von uns Roma Grundstücke besitzt“, sagt Gratiela, die ältere Schwester, die 28 ist. „Unsere Eltern haben bei der LPG gearbeitet, für unsere Generation gab es nie Arbeit.“

Mit der ganzen Familie haben sie das Dorf bereits 2002 verlassen. Erst ging es nach Spanien, nach Castillon. Dort boomte damals die Wirtschaft, die Männer arbeiteten auf Baustellen, die Frauen als Haushaltshilfen bei spanischen Familien. „Das Wetter war besser, wir verstanden die Sprache und hatten sogar Arbeitsverträge.“ Mit dem Platzen der Immobilienblase blieb die Familie – wie viele Rumänen, die in Spanien leben – ohne Arbeit. Als die Sozialleistungen für Arbeitslose im Zuge der Sparmaßnahmen gekürzt wurden, sahen sich die beiden Schwestern gezwungen, ihr Glück woanders zu suchen. Es sprach sich herum, dass es im Ruhrgebiet Arbeit gibt. Im Moment arbeiten mehrere Familienmitglieder schwarz. Aber sie hoffen, dass ihre Arbeitgeber ihnen ab dem nächsten Jahr reguläre Arbeitsverträge anbieten. Dann können sie endlich eine Krankenversicherung abschließen.

ÜBERGANGSREGELUNG: Begrenzt freizügig

Attila Kis aus der siebenbürgischen Stadt Targu Mures ist 23. Nach dem Abitur hat er in Rumänien eine Ausbildung zum Krankenpfleger abgeschlossen. Rund 250 Euro im Monat hätte er in einem rumänischen Krankenhaus verdienen können – so er eingestellt worden wäre. Die Sparprogramme der Regierung sehen keine Neueinstellungen im öffentlichen Sektor vor. 2011 beschloss Kis, sich für ein Praktikum in Deutschland zu bewerben: 350 Euro im Monat, dazu ein Zimmer und die Perspektive auf eine Vollzeitstelle nach sechs Monaten und einer Prüfung.

 

Die Rechnung ging auf. Der junge Mann fing als Pflegekraft bei den städtischen Seniorendiensten in Mülheim an der Ruhr an. „Wir brauchten dringend Arbeitskräfte“, sagt Geschäftsführer Heinz Rinas. „Mit den neuen Mitarbeitern aus Rumänien haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Sie haben nicht nur schnell Deutsch gelernt, sie sind eine Bereicherung, weil sie mit ihrer rumänischen Ausbildung genau die Kompetenzen mitbringen, die wir suchen.“

Als EU-Bürger reisen rumänische und bulgarische Staatsbürger ohne Visum nach Deutschland ein. Arbeiten dürfen nur Menschen mit Hochschulabschluss, Selbstständige sowie Beschäftigte einiger Branchen wie etwa im IT-Sektor. Alle anderen benötigen – wie Attila Kis – eine Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit, die in der Regel auf Antrag des Arbeitgebers prompt ausgestellt wird. Bis Ende 2013 gilt diese Übergangsregelung der „eingeschränkten Freizügigkeit“. Sie kann jedoch sehr einfach umgangen werden, etwa indem man sich selbstständig macht. Wer einen Wohnsitz nachweisen kann, hat Anspruch auf Kindergeld, und diejenigen, die legal in Deutschland arbeiten, haben auch Anspruch auf Arbeitslosengeld I und II. Ab dem 1. Januar 2014 können Rumänen und Bulgaren uneingeschränkt Arbeit in Deutschland suchen, ohne in die Scheinselbstständigkeit oder Schwarzarbeit ausweichen zu müssen. Wessen Einkommen nicht zur Existenzsicherung reicht, hat dann Anspruch auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen.

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