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Magazin Mitbestimmung

Tarifpolitik: Ohne gemeinsame Krisenstrategie

Ausgabe 06/2013

Die EU greift massiv in die Lohnpolitik vieler Länder ein und schwächt damit die Gewerkschaften. Solidarität unter diesen Diktaten ist schwierig – aber notwendig. Von Annette Jensen

„Jeder stirbt für sich allein – das ist zur Zeit die Realität der Gewerkschaften in Europa“, konstatiert Heiner Dribbusch vom WSI. Seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 stehen zentrale gewerkschaftliche Politikinstrumente unter Beschuss, und bisher ist es nicht gelungen, dem vonseiten der Gewerkschaften strategisch etwas entgegenzusetzen. Das ist die Quintessenz eines Kongresses zur europäischen Tarifpolitik, den das WSI zusammen mit ver.di Mitte Mai in Berlin ausrichtete. In schonungsloser Deutlichkeit zogen die Referenten aus sechs europäischen Ländern eine eher düstere Bilanz. Der Trend zu nationalem Rückzug und Branchen­egoismen ist unübersehbar, wo kraftvoll-solidarisches Vorgehen mehr als nötig wäre – gegen die Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF, die Lohnsenkungen als Heilmittel gegen Schulden- und Wettbewerbskrise proklamiert.

Obwohl die Tarifautonomie als Grundrecht festgeschrieben ist, betreibt die EU inzwischen intensiv Lohnpolitik, wie Thorsten Schulten vom WSI aufzeigte. In Irland und Griechenland wurde der Mindestlohn gesenkt, in Spanien und Portugal ist er eingefroren. Auch die Nachwirkung von Tarifverträgen und Allgemeinverbindlicherklärungen stehen unter Druck. Längst nicht mehr nur in den Krisenländern, sondern in 18 der 27 EU-Staaten drängt die EU-Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen auf „beschäftigungsfreundliche Reformen“. Wörtlich ist da von „Reduzierung der Tarifbindung“ und einer „allgemeinen Reduzierung der Lohnsetzungsmacht der Gewerkschaften“ die Rede. So bekam Belgien die dringende Empfehlung, die Anpassung der Löhne an die Preisentwicklung zu kappen, in Zypern ist dies bereits geschehen. Und die schwedische Regierung soll dafür sorgen, dass die Löhne im unteren Bereich stärker gespreizt – sprich abgesenkt – werden, fordert die Generaldirektion, die zusammen mit EZB und IWF die „Reformprogramme“ formuliert.

SPANIER NUN SCHUTZLOS

Über die spanischen Arbeitnehmer ist 2012 eine Welle staatlicher Vorgaben hereingebrochen, die Löhne, Arbeitszeiten und Tarifbindung betreffen, berichtete Francisco Trillo, Professor an der Universität Castilla-La Mancha. Statt relativ starker Flächentarifverträge haben nun laut Gesetz Betriebsvereinbarungen Priorität. Die Folgen sind dramatisch: Galten im Jahr 2011 noch in über 1,1 Millionen Unternehmen Tarifverträge, so waren es 2012 nur noch rund 750 000. „Drei Viertel der Firmen in Spanien haben weniger als zehn Angestellte, und vor allem da sind viele sehr verunsichert über ihre jetzt geltenden Arbeitsbedingungen“, so Trillo. Weil es in diesen Firmen keine Betriebsräte gibt, steht ein Großteil der Beschäftigten ohne Flächentarifverträge den Arbeitgebern nun schutzlos gegenüber.

In keinem anderen europäischen Land gibt es so viele Gewerkschaftsmitglieder wie in Italien mit einem Organisationgrad von 35 Prozent. Doch sei wegen der gewerkschaftlichen Vielfalt und Zersplitterung ein gemeinsamer Abwehrkampf gegen die Zumutungen aus Brüssel schwierig. So ist Italien beim Thema Lohnspreizung ebenfalls Spitzenreiter, beschrieb Salvo Leonardi vom gewerkschaftsnahen Institut IRES in Rom die Lage. Auch in Italien wurden gesetzliche Öffnungsklauseln für betriebliche Abweichungen eingeführt und die Löhne und Rentenzahlungen im öffentlichen Dienst eingefroren.

Dramatisch ist auch die Situation der Menschen in Rumänien, wo schon etwa ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung das Land verlassen hat, während der Lebensstandard der Zurückbleibenden sinkt. Als Bedingung für die notwendigen (Banken-)Rettungskredite (der Bankensektor liegt zu 85 Prozent in ausländischer Hand), legte die Troika harte Bedingungen fest, berichtete Aurora Trif von der Dublin City University. Und die bis 2012 amtierende rechte Regierung gab dem willig nach. Folglich wurden nicht nur viele Krankenhäuser und andere Staatsbetriebe privatisiert, sondern auch die Möglichkeiten branchenübergreifender Tarifverhandlungen massiv eingeschränkt. Hunderttausende gingen auf die Straße, vielerorts kam es zu Streiks – ohne Erfolg. „Selbst über Gerichtsurteile, die Lohnerhöhungen für rechtens erklärt hatten, setzte sich die Regierung hinweg“, so Trif. Nach dem Regierungswechsel kündigte der neue Arbeitsminister zwar an, dass die Möglichkeiten für Kollektivverhandlungen wieder gestärkt würden. Doch bisher konnte die neue Regierung nur wenig gegen die EU-Vorgaben durchsetzen.

Auch der Blick nach Frankreich macht wenig Hoffnung. Frankreich sei gegenwärtig der „EU-Meister im Pessimismus“, beschreibt Ingrid Artus von der Universität Erlangen die Lage. Während es zu Zeiten der Regierung Sarkozy noch soziale Bewegungen und große Streiks gab, dominieren gegenwärtig Abstiegsängste und die Sorge um die wegbrechende Industrie, wo nur noch 12,5 Prozent der Wertschöpfung stattfindet. Weitverbreitet sei in Frankreich die Ansicht, die geringen Lohnsteigerungen in Deutschland hätten Peugeot und anderen französischen Weltmarktbetrieben die Existenzgrundlage geraubt, so Artus. Besorgniserregend sei ein zunehmender Rassismus gegenüber Migranten: Bei aktuellen Umfragen liegen die Sozialisten von Präsident Hollande inzwischen hinter dem rechtsextremen Front National auf Platz drei.

Zwar hat die sozialistische Regierung die umstrittene Rentenreform größtenteils zurückgenommen. Doch Hollandes Ankündigung, dass profitable Firmen nicht geschlossen werden, konnte er im Fall von ArcelorMittal nicht durchsetzen: Die Hochöfen sind inzwischen kalt. Derweil spalten Vereinbarungen zu regionalen und betrieblichen Beschäftigungspakten, die von einigen französischen Gewerkschaften abgelehnt werden, die Arbeitnehmerseite.

Auch in Deutschland mangele es an einer gemeinsamen Strategie der Gewerkschaften, fand ver.di-Tarifpolitikerin Gabriele Sterkel. In keinem anderen EU-Land hätten sich die Löhne in der Industrie und im Dienstleistungsbereich so stark auseinanderentwickelt wie hierzulande. „Einige Arbeitnehmergruppen sind Krisengewinner, andere Krisenverlierer. Das untergräbt die gewerkschaftliche Solidarität“, kritisierte Sterkel. Eine Diskussion darüber werde jedoch nirgends angemessen geführt. Sie plädierte dafür, dort, wo der Zweck der Tarifautonomie verfehlt werde, die Beschäftigten angemessen am wachsenden Wohlstand teil­haben zu lassen, mehr über staatliche Verantwortung nachzudenken.

Auch auf europäischer Ebene tun sich die Gewerkschaften schwer, der Austeritätspolitik der Troika gemeinsam etwas entgegenzusetzen. „Man konzentriert sich eher auf Abwehrkämpfe auf nationaler Ebene“, sagte Vasco Pedrina, Vizepräsident der Bau- und Holzarbeiter-Internationalen. Es geht auch anders: So seien die Streiks und Großdemonstrationen sehr wirkungsvoll gewesen, die mehrere südeuropäische Gewerkschaften am 14. November 2012 erstmals gemeinsam organisiert hatten. „Weil die Situation als politisch explo­siv eingeschätzt wurde, beschloss der EU-Ministerrat kurz darauf, eine Roadmap zur sozialen Dimension vorzulegen“, berichtete Pedrina und forderte die deutschen Gewerkschaften auf, sich beim nächsten Mal einzureihen.

„Europa muss als Ganzes prosperieren“

Andrea Kocsis, Vize-Vorsitzende der Gewerkschaft ver.di, über solidarische Politik:

Europa ist in der schwersten Krise der Nachkriegszeit. Eine ganze Generation junger Europäerinnen und Europäer hat ihre Perspektive verloren. Gleichzeitig erleben wir in Deutschland eine Phase relativer Stabilität. Diese Gemengelage macht die Solidarität in Europa schwierig. Im Zuge der „Rettungsmaßnahmen“ der EU wurden in unverantwortlicher Weise Ressentiments geschürt, dass „wir fleißigen Deutschen“ die Schulden der „faulen Griechen“ bezahlen müssten. Den Regierenden in Brüssel, Berlin ist es schon fast gelungen, die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen zu spalten. Das dürfen wir nicht zulassen.

Deutschland hat in den letzten Jahren mit sinkenden Löhnen seine Wettbewerbsfähigkeit so verbessert, dass die Exporte geradezu explodiert sind. Damit wurden die anderen Länder massiv unter Druck gesetzt. Was jetzt stattfindet, ist ein Wettlauf um die niedrigsten Löhne. Selbst unsere erfolgreichen Tarifabschlüsse haben 2012 nur einen realen Zuwachs der Arbeitnehmerentgelte von 0,7 Prozent gebracht. Eine Haupt­ursache ist die abnehmende Tarifbindung. Die Wissenschaftler der Hans-Böckler-Stiftung halten Lohnabschlüsse deutlich über dem Durchschnitt des Euroraums für nötig, um das makroökonomische Gleichgewicht wiederherzustellen. Darüber hinaus brauchen wir eine Ausweitung öffentlicher Investitionen, denn die sind seit zehn Jahren netto negativ. Last but not least wollen und müssen wir die Einnahmenseite der öffentlichen Hand verbessern. (…) Aus meiner Sicht ist eine Ver­tiefung der europäischen Integration die einzige taugliche Alternative. Ohne eine gemeinsame Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik gibt es keinen funktionsfähigen Wirtschafts- und Währungsraum.

Europa muss solidarischer und demokratischer werden. Die Europäisierung des Protests ist bislang nur unzureichend gelungen. Aufklärung über die Zusammenhänge, den deutschen Anteil an der Krise und unser Angewiesensein auf ein Europa, das als Ganzes prosperiert, ist ein erster Schritt.         

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