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Magazin Mitbestimmung

Vereinbarkeit: Das Recht muss zum Leben passen!

Ausgabe 06/2013

Viele Normen des Arbeits- und Sozialrechts werden heutigen Lebensmodellen nicht mehr gerecht. Manches ist verstaubt, anderes gar nicht geregelt. Das Böckler-Projekt „Soziales Recht der Arbeit“ will den Arbeitnehmern mehr Autonomie geben. Von Annette Jensen

Gesetze, das weiß jeder Jurist, können veralten wie technische Geräte. Denn sie entstehen in einem historischen Kontext – in einer Zeit, in der manche Dinge üblich sind und andere die Ausnahme. So kommt es, dass viele Gesetze die Vorstellung eines idealen Arbeitsverhältnisses konservieren, das Fachleute noch immer „Normalarbeitsverhältnis“ nennen. So kommt es auch, dass das Ehegattensplitting und die Mitversicherung bei der Krankenkasse das im 19. Jahrhundert entstandene Bild der Versorgungsehe weitertragen.

Auf Frauen traf das Bild vom „Normalarbeitsverhältnis“ sowieso nur in Ausnahmefällen zu, aber auch das Leben von Männern entspricht immer weniger diesem Ideal. Längst ist der Anspruch beider Geschlechter, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren, zum gesellschaftlichen Mainstream geworden und damit das Modell der Zwei-Ernährer-Familie. Auch Single-Haushalte haben zugenommen, Lebensläufe verlaufen anders als vor 50 Jahren.

Fachleute wissen, dass viele Gesetze neu zugeschnitten werden müssen. Doch das Geschäft ist schwierig: Wie bei kommunizierenden Röhren hat ein Eingriff an einer Stelle Folgen an anderen Stellen, die es ebenfalls zu bedenken gilt. Dazu kommt, dass die Veränderungen viel mit Politik zu tun haben. Umfassende Verbesserungsvorschläge zu machen war daher das Ziel des Projektes „Soziales Recht der Arbeit“, kurz SozRA, das im Jahr 2007 begann. Gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, arbeiteten Wissenschaftler verschiedener Disziplinen daran mit. Jetzt liegen die Ergebnisse vor. Sie sollen im Jahr der Bundestagswahl wichtige Impulse geben und sind durchaus als ein Angebot an eine künftige Bundesregierung gedacht: „Sie muss nicht erst eine Kommission ins Leben rufen, sondern findet eine Grundlage vor“, sagt Claudia Bogedan, Leiterin der Abteilung Forschungsförderung in der Hans-Böckler-Stiftung.

Das Ziel heißt: Autonomie ohne Prekarität. Das Recht soll Übergänge in der Erwerbsbiografie auf eine Weise ermöglichen, die den Lebensstandard, die Arbeitsbedingungen und die Risikosicherung so wenig wie möglich durch Rechtsverluste bedroht: Da ist der 40-jährige IT-Administrator, der eine Teilzeitstelle wünscht, um seine Kinder zu erziehen, oder die Bürokauffrau, die nach 20 Berufsjahren noch einmal studieren möchte. Da ist ein Angestellter, der seine Eltern pflegt und deswegen selbst eine Auszeit braucht, oder eine Schreinerin, die für ein Jahr lang in einem Entwicklungshilfeprojekt mitarbeiten will, aber Angst davor hat, nach der Rückkehr vor dem Nichts zu stehen. Damit sie ihre Erwerbsbiografie selbstbestimmt planen können, brauchen sie einen allgemeinen Anspruch auf Anpassung des Arbeitsverhältnisses. Die notwendigen Änderungen betreffen gleichermaßen die Ebene der Betriebe, der Sozialversicherungen und des Arbeitsrechts. Es geht darum, individualrechtliche Ansprüche zu stärken, aber gleichzeitig die Interessen der Kollegen im Betrieb im Blick zu behalten.

WAS BISHER GETAN WURDE, REICHT NICHT

Auf die Einsicht, dass im historisch gewachsenen Rechtssystem vieles nicht mehr zusammenpasst, haben Gesetzgeber und Gerichte bereits teilweise reagiert. „Gerade die familiäre Sorgearbeit ist in den letzten Jahrzehnten zu einem dynamischen Feld der Gesetzgebung und Rechtsprechung geworden“, sagt Felix Welti, Professor für Sozialrecht und Behindertenrecht an der Uni Kassel und einer der Projektleiter von SozRA. „Die Regelungen für das erste Jahr nach der Geburt eines Kindes sind inzwischen schon recht flexibel und die finanziellen Verluste für die Eltern begrenzt“, erklärt SozRa-Mitarbeiterin Johanna Wenckebach, Juristin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

Nicht nur die beiden „Vätermonate“ sind ein Einstieg in eine partnerschaftlichere Teilung der Erwerbs- und Sorgearbeit. Auch das 2007 eingeführte Elterngeld, das sich am entfallenen Nettoeinkommen orientiert und nicht wie zuvor pauschal gewährt wird, interpretiert die Geburt eines Kindes als Übergangssituation in der Erwerbsbiografie der Eltern. 14 Monate lang bekommen sie diese steuerfinanzierte Leistung. Woran es hapert, ist die Wiedereingliederung in den Betrieb. Während bei Beschäftigten, die länger krank waren oder schwerbehindert sind, Institutionen wie das Integrationsamt hinzugezogen werden, gibt es so etwas für Eltern nicht.

Dabei stelle das Ende der Elternzeit einen „Gefährdungszeitpunkt“ für die langfristige berufliche Entwicklung dar, heißt es in der Studie. „Eine effektive Fortführung der Erwerbsarbeit für Eltern hängt häufig davon ab, ob das Beschäftigungsverhältnis beim Wiedereinstieg an die neuen privaten Verhältnisse angepasst werden kann.“ Auch müsse sichergestellt werden, dass Qualifikationen nicht schleichend verloren gingen oder Karrierechancen anderweitig verbaut würden. Die Autoren schlagen deshalb ein geregeltes Verfahren vor: Drei Monate vor der Rückkehr in den Betrieb setzen sich Arbeitgeber, Arbeitnehmervertreter und eventuell ein Vertreter der Bundesagentur für Arbeit mit dem Elternteil zusammen und verabreden eine für alle befriedigende Lösung.

MANCHMAL HAT DAS RECHT KEINE ANTWORT

Für viele Lebenssituationen hat das Recht keine passende Antwort. Im Sozialrecht findet die Möglichkeit, dass Frauen vor oder während ihres Studiums Kinder bekommen, keine Berücksichtigung. In der Arbeitslosen- und in der Rentenversicherung gibt es hier Benachteiligungen. „Die soziale Norm, Familiengründung und Berufseinstieg in die gleiche Lebensphase zu setzen, wird auch durch rechtliche Regelungen unterstützt und trägt möglicherweise ebenso zu Ungleichheit im Geschlechterverhältnis bei wie zu niedrigen Geburtenraten“, sagt der Jurist Felix Welti.

Einen Angehörigen oder Freund zu pflegen, ist bisher weitgehend Privatsache. Zwar existiert ein Anspruch auf bis zu sechs Monate Freistellung. Doch Lohnersatz gibt es nicht: Das Pflegegeld steht der hilfsbedürftigen Person zu, es richtet sich nach deren Pflegestufe und ist nicht existenzsichernd bemessen. Somit muss der Beschäftigte die Auszeit selbst finanzieren. Weil die Tätigkeit „nicht erwerbsmäßig“ erfolgt, behandelt das Sozialversicherungsrecht den Pflegenden entsprechend. Anders als die Erziehung von Kindern wird diese Sorgearbeit auch nicht mit Rentenpunkten belohnt.

Auch beim Thema Weiterbildung erweisen sich die staatlichen Regelungen als Flickenteppich. Auf der einen Seite formulieren Politiker aller Couleur immer wieder die Anforderung des „lebenslangen Lernens“. Die Teilung des Studiums in Bachelor und Master soll explizit die Möglichkeit eröffnen, zwischendurch Erfahrungen in der Praxis zu sammeln. Doch auch hier hinken das Arbeits- und das Sozialrecht hinterher. So steht beispielsweise der vergünstigte Krankenkassentarif nur Studierenden bis zum 30. Lebensjahr zu. Auch Menschen, die an einer Weiterbildung teilnehmen, die nicht von der Bundesanstalt für Arbeit finanziert ist, müssen den vollen Beitrag zahlen. Und dass jemand seine Arbeitszeit reduziert, um sich parallel für einen anderen Job zu qualifizieren, ist im Schema der sozialen Sicherung ebenfalls nicht vorgesehen.

Das Rechtssystem neigt an vielen Stellen dazu, die Menschen in Schubladen zu stecken: entweder Rentner oder Erwerbstätiger, entweder arbeitsunfähig oder arbeitsfähig, entweder beschäftigt oder in Weiterbildung. Dabei haben sich längst Mischformen entwickelt. Es sei ein großes Verdienst der Studie, solche Probleme systematisch aufzuzeigen, lobt Reinhold Thiede, Ökonom bei der Deutschen Rentenversicherung. „Wir prüfen zwar, ob eine Erwerbsminderung final oder vorübergehend ist, aber wir tun nichts dafür, dass sie ein Übergangsphänomen bleibt und der Betroffene möglichst bald wieder arbeiten kann“, merkt er selbstkritisch an. So gäbe es beispielsweise maximal alle zwei Jahre eine Reha-Maßnahme. „Wir sollten ein Fall-Management einführen“, lautet sein Vorschlag.

AUFGABEN FÜR DIE BETRIEBS- UND TARIFPARTEIEN

Damit Erwerbstätige wieder selbstbestimmter leben können, muss aber nicht nur der gesetzliche Rahmen stimmen.„Nötig ist auch viel Flexibilität auf der Betriebsebene und in Tarifverträgen“, betont Heide Pfarr, die ehemalige Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institutes (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung, die vor mehr als fünf Jahren den Impuls für die Studie gegeben hat. In den Unternehmen solle ein betriebliches Übergangsmanagement eingeführt werden, damit sich Aus- und Wiedereinstiege nicht nachteilig für Beschäftigte auswirken, fordert Pfarr.

„Auch für Betriebsräte wandeln sich die Aufgaben. Sie müssen sich jetzt häufiger mit Konflikten innerhalb der Belegschaften auseinandersetzen“, sagt Eva Kocher, Professorin für Arbeitsrecht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, die sich mit Felix Welti die Projektleitung von SozRa geteilt hat. Dass nicht in jedem Fall das Interesse des Einzelnen Vorrang hat, hat ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts von Ende 2008 deutlich gemacht. Damals wollte eine Alleinerziehende aufgrund der Kita-Öffnungszeiten nur noch Vormittagsschichten in einem Baumarkt arbeiten – ein Wunsch, der einer Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit widersprach. Nachdem der Betriebsrat mit Hinweis auf den Betriebsfrieden Einspruch erhoben hatte, lehnte auch der Arbeitgeber das Anliegen der Frau ab. Zu Recht, urteilten die Richter: Die Schutz- und Förderpflichten „führen nicht notwendig zum Vorrang der Interessen des einzelnen Arbeitnehmers, der Familienpflichten zu erfüllen hat“.

Ökonom Reinhold Thiede, einer der ersten Leser des SozRA-Endberichtes, nennt ihn vor dem Hintergrund solch neuer Konfliktlinien eine „beeindruckende und bestechende Bestandsaufnahme“. Zugleich fehlt ihm an vielen Stellen jedoch noch die Konkretisierung: „Klar ist, dass die Finanzierung kollektiv getragen werden muss. Aber welches Kollektiv ist das genau? Und soll zum Beispiel jeder selbst entscheiden können, wann er in Rente geht?“ Mitautor Felix Welti räumt ein, dass der rechtswissenschaftliche Bericht „noch nicht so weit ist, dass man ihn als Bestandteil eines Koalitionsvertrags aufnehmen könnte“. Doch eine Menge an Vorarbeit für konkrete politische Veränderungen ist geleistet. Claudia Bogedan sagt: „Nun geht es darum, den Ball auf den Platz zu bringen.“

 

zum Projekt der Forschungsförderung "Soziales Recht der Arbeit"

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