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Magazin Mitbestimmung

Dienstleistungen: Zwischen Pflegedienst und Industrie 4.0

Ausgabe 06/2013

Bei der „Dienstleistungstagung 2013“ diskutierten 150 Teilnehmer über Trends, Chancen und Praxisprobleme der Dienstleistungsbranche. Die gemeinsame Veranstaltung von ver.di und Hans Böckler Stiftung machte klar, dass eine gezielte Dienstleistungsforschung fehlt. Von Carmen Molitor

Gute Arbeit ist die Voraussetzung für gute Dienstleistung. Viele Beschäftigte in der Dienstleistungsbranche seien jedoch „eingeklemmt zwischen den hohen eigenen ethischen Ansprüchen an ihre Arbeit und der immer dünneren Personaldecke“, betonte der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske bei seiner Rede zur Eröffnung der Dienstleistungstagung 2013. „Es ist für sie eine erhebliche Belastung, nicht mit der Sorgfalt arbeiten zu können, die sie wollen.“ Als Beispiel nannte er die Krankenpflege und die Finanzdienstleistungen in Banken, wo sich die Angestellten selbst eher als Berater sähen, aber im Alltag heftigem Verkaufsdruck ausgesetzt seien. „Unser zentrales Anliegen ist es, mit den Beschäftigen gemeinsam für gute Arbeit und gute Dienstleistungen einzutreten“, betonte der ver.di-Vorsitzende. Er rechne damit, dass sich der Trend zu mehr Dienstleistungen verstärke. Seit 1950 habe sich der Anteil der Erwerbstätigen, die in der Dienstleistungsbranche arbeiten, bereits von 12 Prozent auf 73,9 Prozent (2010) erhöht. „Dieser Strukturwandel wurde lange nicht gesehen oder ignoriert“, sagte Bsirske. Die „stiefmütterliche Behandlung von Dienstleistungsforschung“ in Deutschland sei unverständlich. „Neue Technologien und neue Dienstleistungen müssen gemeinsam entwickelt werden“, forderte der ver.di-Chef. Insbesondere Angebot und Güte von gesellschaftlich notwendigen Dienstleistungen müssten diskutiert und neue Ideen zu tragfähigen Finanzierungskonzepten durch die öffentliche Hand erdacht werden.

Bsirskes ausführlicher Rück- und Ausblick bildete den Auftakt zum ersten Teil der Tagung, der Diskussion um die Dienstleistungspolitik, dem am zweiten Tag der Schwerpunkt Dienstleistungsforschung folgte. Mit einem vielfältigen Programm auf hohem Niveau, das thematisch einen weiten Bogen von den neusten Trends der Dienstleistungsentwicklung, über die Bewertung der Arbeit aus Sicht der Beschäftigten, die Positionierung der Gewerkschaften und die gesellschaftliche Bedeutung der Dienstleistung bis hin zu Fragen an eine Dienstleistungsforschung schlug, wollten ver.di und die Hans Böckler Stiftung erfahrene Fachleute aus Praxis und Wissenschaft miteinander ins Gespräch bringen. Nikolaus Simon, Sprecher der Geschäftsführung der HBS, konnte dafür in Düsseldorf 150 Teilnehmende begrüßen. „Die Grundkonzeption war es, nicht nach Branchen, sondern nach Querschnittsthemen Wissenschaftler und Menschen aus den Betrieben zusammenzubringen. Das hat funktioniert“, freute sich Wolfgang Uellenberg-van Dawen, der für ver.di für die Vorbereitung verantwortlich zeichnete.

BLICK IN DIE GLASKUGEL

Einen Blick in die gar nicht mehr so ferne Dienstleistungswelt der Zukunft bot Dieter Spath, Leiter des Fraunhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart. Lösungen, die für Systeme und nicht für Einzelfälle entstehen, werden beim Angebot an Dienstleistungen immer entscheidender, erläuterte der Professor. „Hybrid“ lautet ein weiteres Zauberwort der Dienstleistungs- und Arbeitsforschung: Technische Innovationen erzeugten immer mehr neuartige Dienstleistungen, denn die „Kommunikation zwischen Mensch und Maschine“ verstärke sich, so Spath. Eine neue Interaktion zwischen Kunden, Unternehmen und Beschäftigten und der Technologie werde so möglich. „Die neue Kultur des Selbermachens“, also generative Fertigungsverfahren, bilde dabei einen Trend. Aus dem Internet ein Produktprogramm herunter zuladen und das Produkt damit am eigenen 3-D-Drucker selber zu produzieren gehöre bald zur täglichen Normalität. Ebenso wie das „Internet der Dinge“, ein Konzept, bei dem die reale und die virtuelle Welt in der Industrie immer stärker zusammenwachsen. Diese „Industrie 4.0“ berge unterschiedliche Szenarien, wie Beschäftigte und Maschinen aufeinander abgestimmt werden, um die Produktion und die Beziehung zum Kunden optimal, möglichst flexibel und effizient zu organisieren. „Das wird kommen und nicht aufzuhalten sein“, sagte Spath. „Wir sollten es als Chance verstehen.“ Schon heute vermeldeten Werkzeugmaschinenhersteller einen enormen Anstieg von produktbegleitender Dienstleistung. „Wir erleben eine Produktivierung von Dienstleistungen“, so Spath.

Welche Herausforderungen moderne Dienstleistungsarbeit heute bedeutet, diskutierten die Teilnehmer in sechs Foren anhand von aktuellen Forschungsergebnissen, die jeweils zwei Experten vortrugen. „Ich habe aus allen Arbeitsgruppen gehört, dass es sehr sinnvoll war, Kolleginnen und Kollegen, Betriebs- und Personalräte, Wissenschaftler und Vertreter aus der Industrie in den Themenforen miteinander ins Gespräch zu bringen“, bilanzierte Wolfgang Uellenberg-van Dawen von ver.di. „Man denkt ja immer, es gibt keine Vorurteile, merkt aber doch, dass eine Fremdheit da ist. Und in den Foren konnten wir viel mit anderen diskutieren, das hat wunderbar geklappt“.

WIE SICH WISSENSARBEIT ENTWICKELT

Beispielsweise im Forum „Professionalisierung, Qualifizierung und Wissensarbeit“: Hier beleuchtete Nicole Mayer-Ahuja, Professorin der Universität Hamburg, in ihrem Vergleich der Softwareprogrammierung in deutschen Unternehmen und ihren indischen Töchtern, die große Bandbreite von moderner Wissensarbeit. Professor Christopher Schlick von der RWTH Aachen berichtete über die Entwicklung der Energieberatung, einer Dienstleistung, die früher Akademikern und Ingenieurbüros vorbehalten war und die inzwischen auch Handwerker übernommen haben. Der Input beider Wissenschaftler führte zu einer engagierten Forumsdiskussion über die Fragen, welche Qualität die Arbeitsverhältnisse in hochqualifizierter Wissensarbeit haben, welche Berufsbilder neu entstehen, welche Qualifikationen und Fortbildungsangebote dafür nötig sind und welche Aufstiegswege es gibt.

Dienstleistungen erbringen auch die Beschäftigten an Universitäten – und um ihre Arbeitsbedingungen steht es nicht zum Besten, befand Svenja Schulze (SPD), Ministerin für Innovation, Wissenschaft und Forschung in NRW. Ein besonderes Problem sei die große Zahl der Befristungen. Schulze monierte, dass aus den Wirtschaftswissenschaften viele Antworten auf die drängenden aktuellen Fragen zur Arbeitsqualität fehlten. „Ja, es gibt Forschungsfreiheit“, sagte sie. Sie wolle aber darauf Einfluss nehmen, dass sich ein breiteres Forschungsspektrum in der Wirtschaftswissenschaft den Problemen der Arbeitnehmer öffne.

PERSONENBEZOGENE DIENSTLEISTUNGEN NOCH UNTERBELICHTET

In welchen Spannungsfeld Dienstleistungsinnovationen insbesondere in der Pflege stehen, berichtete Daniel Bieber, Professor am ISO-Institut Saarbrücken. Er konstatierte in seiner Rede zur Eröffnung des zweiten Tagungstages, dass Dienstleistung zwar in den Förderprogrammen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) eine große Rolle spiele. Es gehe dabei aber nur um Technologieentwicklung oder wissensintensive und produktbegleitende Dienstleistungen, nicht jedoch um personenbezogene Dienstleistungen wie die Pflege. Zwar erleichterten auch in diesem Dienstleistungsbereich immer mehr technische Innovationen die Arbeit, der Kern der personenbezogenen Dienstleistungen bliebe aber immer die Interaktion zwischen Menschen. Mit allen organisatorischen Nachteilen: „Diese Prozesse sind nicht so steuerbar wie in der Produktion“, erklärte Bieber. Es gebe in diesem Dienstleistungsbereich stets Spannungen zwischen Individualisierung und Standardisierung, zwischen der technischen Logik und der Logik der Arbeitsprozesse, zwischen der Logik der Interaktion zwischen den Menschen und der betriebswirtschaftlichen Logik. Außerdem verfolge jeder Akteur – Unternehmer, Dienstleistungserbringer, Kunde – unterschiedliche Interessen. Die Suche nach intelligenten Wegen der Ausbalancierung all dieser Facetten gehe weiter.

Gestaltungsansätze der Dienstleistungspolitik standen im Mittelpunkt der anschließenden sechs Foren, zu denen sich das Plenum wieder trennte. Zu den Themen, die am meisten Teilnehmende anzogen, gehörte das Forum zu den gesellschaftlich notwendigen Dienstleistungen mit Ernst Kistler, Professor vom Internationalen Institut für empirische Sozialökonomie (INIFES) und André auf der Heiden, Personalratsvorsitzender der Stadtverwaltung Oberhausen. Kistler betonte, dass es bislang auch auf EU-Ebene keine allgemeingültige Definition von gesellschaftlich notwendigen Dienstleistungen gibt. „Und das ist auch gut so, denn man muss das dem gesellschaftlichen Diskurs überlassen, nicht nur der Politik“, sagte er. Der Wissenschaftler stellte auch die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit: Was kann man dafür tun, dass die zur Verfügung stehenden Leistungen auch von möglichst vielen Menschen genutzt werden, besonders von den Ärmeren? Um die Unmöglichkeit, öffentliche Dienstleistungen angesichts leerer öffentlicher Kassen weiterzuentwickeln und zu verbessern, berichtete Auf der Heiden. Die Stadt Oberhausen stecke seit 27 Jahren in der Haushaltskonsolidierung. „Wie kann ich die Standards der Dienstleistungen weiter absenken?“ sei dabei die wichtigste Frage gewesen. Von Gestaltungsspielräumen war dagegen längst keine Rede mehr. Der Personalratsvorsitzende forderte eine Entschuldungspolitik und ein Ende der strukturellen Unterfinanzierung der Kommunen, die nur noch das Allernötigste an Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger erlaube. „Ich würde mich auch gerne über „gute“ Dienstleistungen unterhalten, aber wir sind an einem völlige anderen Punkt der Debatte“, beklagte Auf der Heiden.

ZUM GLÜCK ZUR ZUSAMMENARBEIT VERDAMMT

Den Abschluss der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion, die die Positionen von ver.di und IG Metall zu Dienstleistungspolitik und Dienstleistungsforschung gegenüberstellte. „Wir brauchen einen starken industriellen Kern“, betonte Christiane Benner, Mitglied des IG Metall-Vorstandes. Dies sei besonders nach der Finanzkrise deutlich geworden. Gleichzeitig werde das Thema Dienstleistung für alle Gewerkschaften immer bedeutsamer – gerade auch für die IG Metall, weil „ein großer Teil der Wertschöpfung in vielen unserer Unternehmen aus Dienstleistung besteht“. Man kämpfe in vielen Bereichen gegen die gleichen Missstände und Fehlentwicklungen wie ver.di – ob sie nun Entgeltdumping, Ausgliederung oder Verlagerung von Tätigkeiten aus den Betrieben hießen. „Für uns als Gewerkschaften muss das heißen: Wie schaffen wir gute Arbeit, auch am Rand und an allen Knotenpunkten einer vernetzten Produktions- und Dienstleistungswirtschaft?“, erklärte Benner. Es gehe angesichts des Strukturwandels um eine gute Zusammenarbeit der beiden größten Gewerkschaften in Deutschland. „Wir müssen die Konnotation von Dienstleistungsarbeit radikal verändern. ‚Prekär, billig, überwiegend weiblich’ müssen wir wandeln in gute Arbeit“, forderte Benner. 

„Arbeitsgestaltung von unten, öffentliche Förderung von oben, wissenschaftliche Begleitung von der Seite, so stelle ich mir die Zukunft vor“, skizzierte Lothar Schröder vom ver.di-Bundesvorstand seinen Wunsch für die Entwicklung der Dienstleistungsbranche. Das Dilemma vieler Beschäftigten sei, dass deren Arbeitsbedingungen eine gute Arbeit nach ihren eigenen Maßstäben nicht erlaube. Schröder kritisierte die Tendenz, Ehrenamtliche als Ersatz oder Ergänzung für professionelle Dienstleister einzusetzen. „Es käme doch in der Industriegesellschaft kein Mensch auf die Idee, eine zunehmende Vielfalt von Selbsthilfewerkstätten als Ersatz für Automobilproduktionsstraßen zu schaffen. In der Dienstleistung scheint man so etwas aber hinnehmen zu wollen“, sagte Schröder. Es brauche mehr Wertschätzung für die professionellen Dienstleistungsbeschäftigten, vor allem in Euro und Cent. Auch die Forschung müsse intensiviert werden. „Wir haben in der Vergangenheit begriffen, dass wir Geld in den Industriestandort stecken müssen“, erläuterte der ver.di-Vorstand. „Heute brauchen wir ein gesellschaftliches Klima, bei dem klar ist, dass mehr Geld für die Entwicklung, die Umsetzung und die Erforschung von Dienstleistungen benötigt wird.“

Statt zu diskutieren, ob die Industriegesellschaft von gestern ist und die Dienstleistungsgesellschaft die Zukunft bedeutet, sollten sich die Gewerkschaften lieber auf ihre gemeinsamen Ziele besinnen, regte Christiane Benner an. „Uns hilft keine Diskussion was ist Henne, was ist Ei“, sagte sie. „Wenn wir das Spiel aufmachen, werden die Gewinner andere sein.“ Um gute Arbeit in der Dienstleistungsgesellschaft zu etablieren brauche es starke Gewerkschaften, die zusammenhalten, befand die IG Metall-Vorstandsfrau. Ihr Fazit: „Wir sind zum Glück zur Zusammenarbeit verdammt.“

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