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Magazin Mitbestimmung

Debatte Krisenkorporatismus: Eigene Stärke braucht Kooperationspartner

Ausgabe 04/2013

Dass die Gewerkschaften mit ihrer Krisenpolitik seit 2008 ihre Reputation in Politik und Gesellschaft stärken konnten, geschah nicht voraussetzungslos: Geschickt nutzten sie ihre Einbindung in das deutsche Institutionengefüge. Stärkt dies die Sozialpartnerschaft nachhaltig? Von Wolfgang Schroeder

Über viele Jahre hinweg zog das deutsche Modell der industriellen Beziehungen fundamentale Kritik auf sich. Die Rede war vom „negativen Tarifkartell“, von den „Dinosauriern“, von den Kräften, die dem Wandel im Wege stehen. Seit einiger Zeit scheint sich in dieser Bewertung eine Wende anzudeuten. Die DGB-Gewerkschaften haben in den letzten Jahren durch ihre lohn-, aber auch durch ihre gesellschaftspolitischen Forderungen, etwa nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie, und nicht zuletzt für ihre Rolle in der Krisenpolitik seit 2008 viel Anerkennung und Lob erhalten. Selbst ihr lang anhaltender Mitgliederrückgang hat sich deutlich abgeschwächt. Manche sprechen schon von einer Renaissance des deutschen Modells der Arbeitsbeziehungen und, davon abgeleitet, der sozialen Marktwirtschaft. Gleichwohl dämpft die Expansion des Niedriglohnsektors, der Aufstieg der Berufsgewerkschaften sowie die grundlegende Ablehnung des Flächentarifvertrages durch die Mehrzahl der deutschen Unternehmen das positive Narrativ einer Revitalisierung.

GELEGENHEITSFENSTER GESCHICKT GENUTZT

Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise, die im Jahr 2008 auch in Deutschland aufschlug, traf dort auf eine Große Koalition in der Regierung – und im System der privatwirtschaftlichen Arbeitsbeziehungen. Dass Deutschland relativ ungeschoren durch die Krise gekommen ist, geht nicht nur auf die komplex vernetzte deutsche Exportwirtschaft in wachsenden außereuropäischen Märkten zurück. Ebenso wichtig war eine auf Beschäftigungssicherung ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik und Nachfrageankurbelung, die mit großem Einsatz Brücken in die nächste Wachstumsphase aufbaute. Im Ergebnis konnte so bei einem deutlich geschrumpften BIP ein vergleichbarer Rückgang im Arbeitsvolumen verhindert werden. Dafür kamen maßgebliche Impulse aus den Gewerkschaften. Die betriebsbezogene Krisenpolitik setzte neben der expansiven Nutzung des Instrumentes der Kurzarbeit auf betriebsinterne Flexibilisierungsmaßnahmen, wozu neben den tariflichen Korridorregelungen vor allem die Arbeitszeitkonten beitrugen.

Die gemeinsamen Anstrengungen der Krisenakteure verfolgten das Ziel, die Exportindustrie, den Schlüsselsektor der deutschen Volkswirtschaft, zu stabilisieren. Mit ihren Initiativen und ihrer Haltung haben die DGB-Gewerkschaften ein Gelegenheitsfenster offensiv genutzt. Sie machten dabei von ihrer strategischen Rolle innerhalb der exportorientierten Institutionenordnung Gebrauch, indem sie eine pointiert gesamtwirtschaftliche Vernunft zum Tragen brachten. Durch dieses Engagement ist ihre Reputation in Politik und Gesellschaft weiter gewachsen. Zugleich ist aber auch offensichtlich geworden, dass die strukturellen Schwächen der Gewerkschaften (Organisationsgrad, Repräsentationslücken, Mobilisierungsschwäche etc.) durch diese Ereignisse nicht gelöst oder relativiert worden sind.

Inwiefern es den Gewerkschaften gelingt, nicht nur vorübergehend als starke Gestaltungs- und Schutzmacht wahrgenommen zu werden, hängt auch davon ab, ob und wie sie es vermögen, ihre strukturellen Schwächen in den Griff zu bekommen. Jedoch hat das pragmatische Agieren der Gewerkschaften in der Krise auch gezeigt, dass ihre Möglichkeiten nicht nur von der eigenen Stärke abhängig sind, sondern auch von den Interessen der Arbeitgeber und des Staates. Insofern brauchen die Gewerkschaften in jedem Fall mehr eigene Stärke, um eine solidarische Politik zu praktizieren. Sie können diese aber in vielen Bereichen nur dann nutzen, wenn sie über Institutionen und Kooperationspartner verfügen, die diese Potenziale mit befördern. Ganz konkret: Der Flächentarifvertrag setzt eigene Stärke voraus, ohne diese funktioniert dieses Institut nicht, aber ohne die Bereitschaft der Arbeitgeber eben auch nicht. Insofern sind moderne Gewerkschaften komplexe Organisationen, die permanent Interessen, Macht und Kräfteverhältnisse ausbalancieren müssen.

VERÄNDERTE KRÄFTEVERHÄLTNISSE

Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen vollzog in den letzten drei Jahrzehnten einen grundlegenden Wandel, dessen Dynamik primär auf die veränderten Erwartungen der Unternehmen an ihre verbandspolitische Vertretung zurückzuführen ist. Insofern sind die Unternehmen die treibenden Kräfte des Wandels. Als Reaktion auf die Melange von Verbandsabstinenz, Verbandsflucht, unterlaufenen verbandlichen Vorgaben entwickelten die Verbände ihrerseits eine Strategie der negativen Individualisierung. Sie setzen dabei nicht nur auf Dezentralisierung und Flexibilisierung der Tarifpolitik, sondern auch auf den Aufbau von OT-Verbänden und OT-Mitgliedschaften, womit sie verbindliches verbandliches Handeln relativierten.

Dagegen leisteten die DGB-Gewerkschaften viele Jahre Widerstand, passten sich dann aber zögerlich an die veränderten Kräfteverhältnisse, insbesondere an die gestiegenen betrieblichen Anforderungen nach mehr Flexibilität an. Zugleich trugen sie durch ihre gesamtwirtschaftliche und pfadabhängig inklusive Perspektive dazu bei, dass die strukturelle Rahmung durch den Flächentarifvertrag trotz weitgehender innerer Umstrukturierungsprozesse in den Betrieben und Verbänden beibehalten werden konnte. In diesem Modus war auch eine direkte Krisenkommunikation zwischen den korporatistischen Akteuren möglich.

Begleitet werden die veränderten betrieblichen Flexibilisierungsstrategien von derExpansion des Niedriglohnsektors. Diese Entwicklung wiederum ist gleichsam eingebunden in neue inner- und zwischenbetriebliche Konkurrenzverhältnisse, aber auch in das scheinbar ungehemmte Wachstum eines kaum regulierten Dienstleistungssektors, der zugleich in die Exportwirtschaft hineinragt. Warum konnten die Gewerkschaften nicht verhindern, dass die Belegschaften weiter ausdifferenziert und fragmentiert wurden – und eine praktische Politik der Inklusion für sie schwieriger wurde?

Meine Antwort darauf zielt auf drei Argumente: Erstens haben sich die Gewerkschaften zu wenig und zu spät um Mitglieder aus dem Niedriglohnsektor sowie um dessen Regulierung gekümmert. Da der Anteil von Frauen in diesem Sektor überproportional hoch ist, stellt sich damit auch die Frage nach der geschlechtsspezifischen gewerkschaftlichen Politik. Jedenfalls besteht in diesen Bereichen traditionell eine veritable Repräsentationslücke, die das Tor für Unterbietungskonkurrenz, Outsourcing und andere Abwertungsstrategien öffnet. Zweitens haben sie sich zu wenig und zu spät mit den dahinterliegenden Marktverhältnissen befasst und zu lang auf die bewährten und selbst verantworteten Regulationsmodi vertraut. Als 2003 in der Regierung die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes angedacht wurde, verwahrten sich zentrale Akteure aus den Gewerkschaften gegen diese ungebetene Einmischung in ihr ureigenstes Kerngeschäft. Da aber die weißen Flecken in der Tariflandschaft immer größer geworden sind, haben sich die Gewerkschaften mittlerweile entschieden, den Staat zu einer verstärkten Initiative zugunsten der Randbelegschaften in die Pflicht zu nehmen.

Das Mitglieder-, Mobilisierungs- und Handlungsproblem der deutschen Gewerkschaften ist aber kaum erfasst, wenn man sich drittens nur auf die unzureichenden Erfolge im Niedriglohnsektor kaprizieren würde. Zugleich sind auch die lohnpolitischen Interessen der arbeitsmarktstarken Gruppen zu berücksichtigen. Denn ein zu einseitiges, zu wenig kommuniziertes und zu langes Engagement einer heterogenen Massenorganisation zugunsten der schwächeren Gruppen kann – wie wir im Bereich des Luftverkehrs sehen – zu nicht intendierten Folgen der Überbietungskonkurrenz führen. Damit wird die Politik einer inklusiven Solidarität von der anderen Seite infrage gestellt. Der Aufstieg der Berufsgewerkschaften hat auch diesen Hintergrund.

DIE FÄHIGKEIT ZUR REGULIERUNG VON KRISEN

In den letzten Jahren haben sich die Austauschbeziehungen zwischen den Sozialpartnern in den exportorientierten Bereichen stabilisiert. Durch weitreichende Reformen zwischen und innerhalb der Organisationen ist in einem langen und widersprüchlichen Prozess des Ringens um die grundsätzliche Richtung der deutschen Arbeitsbeziehungen ein Moratorium erreicht. Mit ihrem Verhalten in der Finanz- und Wirtschaftskrise haben die Sozialpartner auch bewiesen, dass sie über eine dezidiert gesamtwirtschaftliche Handlungsperspektive verfügen, um Krisenprozesse zu regulieren. Da die Umbauprozesse in den Unternehmen nicht aufhören, steht die Politik des Ausgleiches, die seitens der Massenorganisationen des deutschen Modells der Arbeitsbeziehungen geleistet wird, weiterhin vor großen Herausforderungen. Ein gewisser Beitrag zur Stabilisierung könnte von dem erkennbaren neuen Arbeitsmarktzyklus des Mangels ausgehen. Dieser lässt aufgrund des demografischen Wandels die Arbeitsmärkte für Fachkräfte in Deutschland enger werden.

Die zunehmende Spaltung des Arbeitsmarktes bleibt jedoch eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Klar ist, dass sie nicht alleine durch die kollektiven Aktivitäten der Gewerkschaften aufgelöst werden kann. Sie können aber die Basis dafür legen, dass sich Arbeitgeber und der Staat in die Pflicht nehmen lassen, um wieder eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu verfolgen. Von daher scheint eine neue Dialektik zwischen Staat und Sozialpartnern vonnöten. In dieser Aufgabenteilung müsste in einem ersten Schritt der Staat für ein Mindestmaß an Sicherheit und Orientierung sorgen – zum Beispiel durch einen bundesweiten gesetzlichen Mindestlohn. In einem zweiten Schritt könnten die Sozialpartner eine Politik der aufgeklärten Vernunft betreiben, um die Qualität der Arbeitsbeziehungen und des Arbeitsmarktes zu steigern.

Wolgang Schroeder ist Staatssekretär im Arbeitsministerium des Landes Brandenburg und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel

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