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Magazin Mitbestimmung

Versandhandel: „Ein Schlaglicht auf eine besonders schlimme Situation"

Ausgabe 03/2013

Heiner Reimann, Gewerkschaftssekretär bei ver.di, über seine Erfahrungen mit dem Online-Händler Amazon, die ARD-Reportage „Ausgeliefert“ und das Internet als Organizing-Plattform. Das Gespräch führte Kay Meiners

Herr Reimann, seit wann haben Sie mit Amazon zu tun?
Seit 2010 habe ich in Hessen als Organizer für ver.di gearbeitet und war dort seit 2011 für Libri, Amazon und GLS zuständig. Libri hat einen Tarifvertrag unterschrieben, bei GLS kamen wir nicht rein. Also haben wir uns intensiv um Amazon gekümmert. Seit 2012 bin ich ver.di-Sekretär und mit der örtlichen Kollegin zuständig für Amazon Bad Hersfeld.

Welche Missstände kannten Sie vor der ARD-Reportage?
Das Unternehmen arbeitet sehr stark mit Befristungen und es zahlt meiner Ansicht nach zu schlecht. Die gravierendsten Probleme aber gibt es seit Jahren mit ausländischen Leiharbeitern in der Weihnachtszeit: Sie bleiben etwa drei Monate und sind schwer zu organisieren. Ein Beispiel für die Probleme: Im Oktober 2012 wurde ich von einer polnischen Kollegin angesprochen, die mit zehn weiteren Männern und Frauen in einer Dreizimmerwohnung in Stadtallendorf untergebracht war. Sie zahlte 210 Euro im Monat und fragte mich, ob der Preis in Ordnung sei.

Und ihre Reaktion?
Ich war schockiert: drei Frauen und acht Männer, ein Bad, eine Küche – und alle hatten die gleichen Arbeitszeiten! Jeder, der eine Familie hat, weiß, was es bedeutet, morgens pünktlich rauszukommen. Wenn man versucht, sowas mit Amazon zu besprechen, wird ein bisschen nachgeflickt. Aber seit Jahren ändert sich nichts Substanzielles.

Können die Medien mehr erreichen als die Gewerkschaft?
Kritische Berichte sind ein Druckmittel. Schon 2011 gab es einen TV-Bericht bei „Frontal 21“. Ich war froh, als der Hessische Rundfunk beschloss, nachzuhaken. Die Journalisten haben sich wochenlang im Ort eingemietet. Erstklassiges journalistisches Handwerk. Das Filmteam hat Stimmungen aufgenommen, die ich vom Büro aus so niemals vermitteln kann. Schlimm, ist was daraus gemacht wird

Was meinen Sie damit?
Der Film wirft ein Schlaglicht auf die Situation der Leiharbeitnehmer vor Weihnachten, auf eine besonders schlimme Situation. Doch nun wirft Amazon uns vor, die Verhältnisse im Unternehmen vermittelt über die Medien pauschal und überspitzt darzustellen. Bei Tarifgesprächen in Leipzig sagten Unternehmensvertreter: Mit euch kann man nicht verhandeln, denn die Angriffe von ver.di über die Medien sind zu scharf. Bis auf den letzten Halbsatz kennen wir den Spruch aber schon.

Ein Artikel in der New York Times spielt sogar mit Klischees aus der deutschen Vergangenheit: Polen in einem Lager, bewacht von mutmaßlichen Neonazis, deren Firma H.E.S.S. heißt. So wie Hitlers Stellvertreter.

Man muss unterscheiden, wer welche Tatsachen aufgedeckt und wer was geschrieben hat. In der ARD-Reportage „Ausgeliefert“ äußere ich mich zu bestimmten arbeitsrechtlichen Fragestellungen, Bedingungen und anderen Eindrücken. Andere Sachverhalte wie den, dass einige Sicherheitskräfte Kleidung von Thor Steinar trugen, haben die ARD-Journalisten aufgedeckt. Wieder eine andere Sache ist, wie Dritte solche Inhalte wiedergeben.
 
In dem Artikel werden Sie zitiert: „Wir sind in Deutschland, wo wir eine besondere Geschichte zu respektieren haben.“
Dass wir uns in Deutschland befinden, ist eine Tatsache so wie unsere Vergangenheit. Ich war mit den Reportern dreimal vor Ort, um das Personal mit den schwarzen Bomberjacken samt H.E.S.S.-Aufschrift mit eigenen Augen zu sehen – die Ästhetik war schon augenfällig.

Welche Medienstrategie verfolgt ver.di mit Blick auf Amazon?
Amazon ist ein Online-Händler mit junger Belegschaft. Das Internet ist enorm wichtig. Wir können Kunden und Mitarbeiter am besten online erreichen. Dazu gibt es einen eigenen Blog, www.amazon-verdi.de. So können wir Nachrichten schnell streuen und in Kontakt mit Menschen kommen. Die Amazon-Beschäftigten tauschen sich auch stark über Facebook aus. Es gibt positive Resonanz, auch wenn viele Beschäftigte Vorbehalte gegen ver.di mitbringen.

Wie hoch ist der Organisationsgrad in Bad Hersfeld?
Wir sind näher an 1000 Mitgliedern als an 100. Ich werde aber nie einen Organisationsgrad nennen. Denn der schwankt extrem. Am besten schneiden wir nach dem Ramp-down ab. So nennt Amazon den 31. Dezember, den Tag, an dem die Befristungen auslaufen und viele Leute nach Hause geschickt werden.

Der Anteil der befristet Beschäftigten ist extrem hoch. Mit welchen Folgen?
Rund 2100 der knapp 3700 Kollegen bei Amazon in Bad Hersfeld haben befristete Verträge. Abgesehen von der persönlichen Unsicherheit der Menschen ist der Durchlauf so enorm, dass Amazon in einem immer größer werdenden Radius nach Arbeitskräften suchen muss, die noch nicht für das Unternehmen gearbeitet haben. Wir fordern mehr unbefristete Verträge und klare Übernahmeregelungen. Der Betriebsrat möchte auch Auswahlkriterien in einer Betriebsvereinbarung fixieren.

Auch wegen der Bezahlung gibt es Streit. Warum?
Amazon sieht sich als Logistikdienstleister, wir dagegen sehen das Logistikzentrum als Hilfs- oder Nebenbetrieb des Versandhandels. Wir wollen, dass Amazon nach dem Flächentarif für den Handel bezahlt. Während nach Tarif für den Großteil der Lager-Arbeiten im Versandhandel zwischen 11,47 Euro und 11,94 Euro Einstiegsgehalt gezahlt werden muss, schickt Amazon seine Mitarbeiter mit einem Gehalt von 9,83 Euro bis 11,48 Euro nach Hause.

Welche Arbeiten werden in Bad Hersfeld ausgeführt, die eine Bezahlung nach dem Handels-Tarif rechtfertigen?

Dort werden unter anderem Waren für die Online-Werbung fotografiert; außerdem wird die Qualität zurückgelaufener Ware bewertet, und es werden Preise für diese B-Ware veranschlagt. Im Fall von Reklamationen nehmen die Mitarbeiter direkten Kontakt mit Herstellern und Kunden auf. All das ist bei einer Logistikfirma nicht üblich.
 
Wie beurteilen Sie die Maßnahmen, die Amazon seit der ARD-Reportage ergriffen hat?
Das reine Austauschen der Dienstleister sehe ich eher kritisch, sofern dies die einzige Maßnahme bleibt. Es gibt Ethik-Codes und Regeln bei Amazon, die Beschäftigte und Dienstleister unterschreiben müssen. Rechtlich ist es so, dass Subunternehmen gekündigt werden, wenn sie gegen vertragliche Nebenpflichten verstoßen haben. Meine Befürchtung ist, dass es bei Amazon im nächsten Jahr wieder ähnliche Probleme geben kann, wenn nicht mehr getan wird. Nur unter einem anderen Label. Mein Appell an Amazon: Behandelt Menschen menschwürdig. Achtet auf Euer Image. Nehmt die Regeln ernst, die es schon gibt.
 
Was befristete Jobs und Löhne angeht, hat Amazon kaum Entgegenkommen signalisiert.
Dem Kaufmann vorzuwerfen, dass er seine Kosten niedrig halten will, wäre töricht. Was wir tun können, ist den Rahmen zu bestimmen, in dem der Kaufmann sich bewegen darf.

Das ist auch ein Appell an die Politik?
Ja, ganz klar. Wir haben eine Dreiklassengesellschaft: unbefristet Beschäftigte, befristet Beschäftigte und Leiharbeiter. Als vierte Klasse kommen die Werkverträge dazu. Hier muss die Politik eine Haltelinie ziehen und Leiharbeit auf das notwendige Maß beschränken.

Ralf Kleber, der Deutschland-Chef von Amazon hat erklärt, er wünsche sich mehr Betriebsräte. Wie kommt das bei Ihnen an?
Ganz super! Wenn Kleber jetzt sagt, dass er sich Betriebsräte wünscht, kann man dies auch so verstehen, dass er keine Gewerkschaft wünscht. Er will sicherlich weiter ein maximales Direktionsrecht ausüben. Betriebsräte können nicht über die Lohnhöhe mitbestimmen und sind leichter in Angst zu versetzen als eine Gewerkschaft.
 
Hat Amazon Gewerkschaftsarbeit aktiv bekämpft?
Ja - im Ergebnis schon. Ich wurde zusammen mit Kollegen von Amazon für ein halbes Jahr regelrecht ausgeladen. Trotzdem haben wir an allen acht Amazon-Standorten Mitglieder, von denen viele gerne einen Betriebsrat hätten. Es wird Wahlen geben. Doch die Betriebsräte sind nur ein erster Schritt. Am Ende muss es Tarifverhandlungen geben. 

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