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Magazin Mitbestimmung

Elektromobilität: Jobchance oder Jobkiller?

Ausgabe 12/2012

In der Automobilbranche steht ein gravierender Wandel der Produktionsstruktur an. Die IG Metall und ihre Betriebsräte setzen sich dafür ein, dass die Wende zur Elektromobilität nicht zum Risiko für die Beschäftigten wird. Von Mario Müller

Vor Kurzem drehten Sebastian Vettel und Kollegen nahe Sao Paulo die letzten ohrenbetäubenden Runden im diesjährigen Rennen um die Weltmeisterschaft der Formel 1. Demnächst soll, ebenfalls in Brasilien, ein wesentlich leiseres Spektakel das Publikum begeistern: Der internationale Autodachverband FIA will 2014 in Rio de Janeiro die erste Weltmeisterschaft für Elektrorennwagen starten. An Rasanz wird es der neuen „Formel E“ nicht mangeln: Die Prototypen der Stromflitzer erreichen eine Höchstgeschwindigkeit von 250 km/h. Allerdings ist schon nach 20 Minuten der erste Boxenstopp fällig. Dann sind die Akkus leer, und die Fahrer müssen den Wagen wechseln.

Immerhin: Die Initiative der FIA ist ein weiterer Hinweis darauf, dass alternative Antriebskonzepte an Fahrt gewinnen. Längst wird auch hierzulande kräftig aufs Tempo gedrückt. Schließlich soll die Bundesrepublik „Leitmarkt für das Thema Elektromobilität“ werden, wie Regierungschefin Angela Merkel (CDU) Anfang Oktober nach einem Spitzengespräch mit Vertretern aus Industrie, Gewerkschaften und Wissenschaft nochmals betonte. Doch Verlauf wie auch Ausgang dieses Rennens um eine internationale Spitzenposition sind ungewiss. Fest steht nur: Falls sich die Elektromobilität durchsetzt, steht der hiesigen Autoindustrie ein gravierender Wandel der Produktionsstruktur ins Haus. „Wenn nicht gar“, heißt es in einer Einschätzung der IG Metall Baden-Württemberg, „ein Strukturbruch“ – mit erheblichen Folgen für Umfang und Art der Beschäftigung in der Branche.

Die Entwicklung führt gewissermaßen zurück zu den Wurzeln. Denn bevor sie Anfang des 20. Jahrhunderts von Autos mit Verbrennungsmotor verdrängt wurden, hatten Elektromobile auf den Straßen die Nase vorn. Dass das alte Antriebskonzept jetzt eine Neuauflage erlebt, liegt im Wesentlichen an zwei Ursachen: Die weltweiten Erdölreserven sind begrenzt, Kraftstoffe werden immer teurer. Zum anderen verlangt der Klimaschutz, den Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2), zu dem der weltweit stark wachsende Autoverkehr nicht unwesentlich beiträgt, zu vermindern.

ES GEHT UM MILLIONEN ARBEITSPLÄTZE

Wohin die Reise in Sachen Mobilität geht, ist für die Bundesrepublik von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Schließlich spielt die Autoindustrie für die deutsche Wirtschaft nach wie vor eine Schlüsselrolle. Zuletzt zählte die Branche gut 700 000 Beschäftigte. Berücksichtigt man die Beziehungen zu anderen Wirtschaftszweigen, dürften 1,7 bis 1,8 Millionen Arbeitsplätze hierzulande von der Automobilproduktion abhängen. Das Problem: Die deutschen Hersteller verfügen zwar über eine international hervorragende Marktposition. Ihre Stärken liegen aber in der Entwicklung und Fertigung mechanischer Aggregate wie Verbrennungsmotor oder Getriebe. Diejenigen Komponenten, auf die künftig ein wachsender Anteil an der Wertschöpfung im Automobilbau entfallen dürfte, also etwa Batteriesysteme, Elektronik oder Brennstoffzellen, gehören bislang nicht zu ihren Kernkompetenzen. Damit läuft die Branche Gefahr, bei alternativen Antriebskonzepten im weltweiten Wettbewerb Boden zu verlieren.

Doch Bangemachen gilt nicht. Schließlich soll Deutschland „seine Spitzenposition als Industrie-, Wissenschafts- und Technologiestandort“ sichern und nicht nur „Leitmarkt“, sondern auch „Leitanbieter“ bei der Elektromobilität werden. So heißt es jedenfalls im dritten „Fortschrittsbericht“, den die Nationale Plattform Elektromobilität (NPE) im Sommer vorlegte. Das Gremium, dem neben Vertretern aus Industrie, Wissenschaft und Politik auch der IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber angehört, hat die Aufgabe, die Bundesregierung zu beraten und Empfehlungen zu formulieren. „Eine solche Form der Zusammenarbeit hat es noch nicht gegeben“, freut sich Huber.

Die Bundesrepublik befinde sich „innerhalb der Marktvorbereitungsphase bis Ende 2014 auf einem guten Weg“, stellt die NPE fest. Bislang konzentrieren sich die Aktivitäten auf Forschung und Entwicklung. Sechs „F&E-Leuchtturmprojekte“ befassen sich mit Themen wie Batterie, Leichtbau oder Infrastruktur. Zudem unterstützt die Bundesregierung zwei „Clusterinitiativen“, zu denen sich mehrere Akteure zusammengeschlossen haben, sowie vier regionale „Schaufenster“, die das System Elektromobilität der Öffentlichkeit präsentieren sollen. Bis 2014 investiere die Branche „bis zu zwölf Milliarden Euro“ in alternative Antriebe, erklärt Matthias Wissmann, Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA). Die Bundesregierung will in dieser Legislaturperiode noch „bis zu eine Milliarde Euro“ Fördermittel lockermachen.

Doch wie ist es um die Zukunft der Arbeitsplätze in der Branche bestellt? Dieser Frage geht eine Studie nach, die das Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation, das IMU Institut sowie das Institut für Fahrzeugkonzepte des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt erstellt hat. Initiatoren waren der Gesamtbetriebsrat und die Unternehmensleitung von Daimler, der IG-Metall-Bezirk Baden-Württemberg sowie die Hans-Böckler-Stiftung.

Konkret ging es in der Untersuchung um die Auswirkungen der Elektrifizierung des Antriebsstrangs auf Beschäftigung – kurz ELAB. Das Forschungsprojekt befasste sich nicht nur mit den quantitativen Aspekten des technischen Wandels, sondern auch mit den künftigen Anforderungen an die Qualifikation des Personals in der Produktion.

Näher betrachtet haben die Wissenschaftler sechs verschiedene Antriebskonzepte – vom herkömmlichen Verbrennungsmotor über Hybridlösungen bis hin zu Fahrzeugen mit Brennstoffzellen – und deren künftige Absatzentwicklung. Das Referenzszenario geht davon aus, dass der Marktanteil von Hybridfahrzeugen bis 2030 auf rund 35 Prozent steigt, während rein elektrische Antriebe rund 15 Prozent erreichen. Der Verbrennungsmotor verliert zwar an Bedeutung, kommt aber immer noch auf einen Anteil von 40 Prozent.

BESCHÄFTIGUNGSPROGNOSEN

Auf Basis dieser Annahmen ermittelten die Forscher nun, wie viele Beschäftigte in der Produktion der verschiedenen Komponenten benötigt werden. Das Ergebnis: Da mehrere Antriebskonzepte parallel hergestellt werden, nimmt der gesamte Personalbedarf sogar zu. Dabei verschieben sich die Gewichte in der Fertigung allerdings deutlich: Der Beschäftigungsanteil neuer Komponenten wie Elektromotoren oder Akkus steigt auf 25 Prozent, der herkömmlicher Verbrennungsmotoren und Getriebe schrumpft.

„Die positiven Beschäftigungsprognosen der ELAB-Studie sind erfreulich“, meint Erich Klemm, Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei Daimler. Und gießt gleichzeitig Essig in den Wein. Schließlich sage das Ergebnis nichts darüber aus, wie sicher die Arbeitsplätze in den bestehenden Aggregatewerken seien. „Darüber entscheiden die Unternehmen durch die Festlegung der Fertigungstiefe.“ Die Belegschaftsvertretung werde sich auf jeden Fall „konsequent dafür einsetzen, dass die Elektromobilität die Chance der Beschäftigten in der Daimler AG wird und nicht ihr Risiko“. Ähnlich sieht es Jörg Hofmann, Bezirksleiter der IG Metall Baden-Württemberg: Ob der strukturelle Wandel sozial verträglich stattfinde oder ob er „als Jobkiller für Belegschaften und Region wirkt, hängt von Investitionsentscheidungen über Standorte und Produkte ab“.

Doch so schnell schießen die Preußen ohnehin nicht. Hatte die Bundesregierung zunächst als Ziel ausgegeben, bis 2020 rund eine Million Elektromobile in den Verkehr zu bringen, so wird jetzt eine Stückzahl von 600 000 angepeilt. Der Hype sei ein „bisschen abgeklungen und Normalität eingekehrt“, räumt der NPE-Vorsitzende und ehemalige SAP-Chef Henning Kagermann ein. Gedämpft wird die Euphorie von zahlreichen Baustellen und Unwägbarkeiten. Vor allem das Problem geringer Akku-Kapazitäten und damit Reichweiten ist nach wie vor ungelöst. Auch fehlt es mangels Ladestationen an der erforderlichen Infrastruktur. Angesichts des bislang bescheidenen Angebots an Elektromobilen und ihrer hohen Preise kann es nicht verwundern, dass sich die Käufer zurückhalten. Im ersten Halbjahr 2012 wurden hierzulande gerade gut 1400 „Stromer“ zugelassen, wobei der Großteil an gewerbliche Kunden ging.

Anders in den USA. Dort legen die Verkaufszahlen für Autos mit elektrischem Antrieb kräftig zu, bedingt durch die von Washington eingeräumte Steuergutschrift von 7500 Dollar. Für „Kaufanreize“ hat sich auch Daimler-Chef Dieter Zetsche ausgesprochen. Doch die Bundesregierung lehnt bislang eine staatliche Förderung ab. Dank seiner Innovationsfähigkeit werde Deutschland auch ohne Kaufprämien eine führende Rolle bei der Elektromobilität spielen, behauptet Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP).

Immerhin: Die hiesigen Hersteller kommen langsam in die Gänge. Bis Ende 2014 seien sie „in der Lage, über 15 neue elektrifizierte Fahrzeugmodelle“ anbieten zu können, schreibt die NPE. Ob und wie viele Käufer sie finden, hängt unter anderem von der Entwicklung des Ölpreises ab. Auch wenn noch nicht klar ist, welches der verschiedenen Antriebssystem sich durchsetzt: Mit dem Wechsel zu elektrischen Konzepten ändern sich auch die Anforderungen an die Qualifikationen der Beschäftigten: Die Metallverarbeitung verliert zugunsten der Elektrik/Elektronik an Bedeutung.

„Der Weg zur Elektrifizierung des Antriebsstrangs ist unumkehrbar“, meint IG-Metaller Hofmann. Die Formel-1-Fahrer wollen den Lärm der hochtourigen Rennmotoren dagegen nicht missen. „Es wäre das erste Mal“, sagt Michael Schumacher, „dass wir die Zuschauer hören und nicht die Zuschauer uns.“ 

Mehr Informationen

Elektromobilität und Beschäftigung: Wirkungen der Elektrifizierung des Antriebsstrangs auf Beschäftigung und Standortumgebung (ELAB), 50 Seiten, 2012, Studie im Auftrag der HBS, kostenfrei, Bestell-Nr. 30391, Bestellungen an mail@setzkasten.de 

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