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Magazin Mitbestimmung

Erziehung: Bürger statt Untertänchen

Ausgabe 12/2012

Mit Beratung aus der Wissenschaft experimentiert eine Kita in Ostwestfalen damit, Kinder über ihren Alltag mitentscheiden zu lassen. Die Ergebnisse sind ermutigend. Von Andreas Molitor

Einige Einwohner von Berlebeck werden sich noch gut an jene seltsamen Szenen erinnern, die jetzt drei, vier Jahre zurückliegen. Da tobten Kinder im Schneeanzug durch den Garten der Kindertagesstätte, obwohl es draußen sommerlich warm war. Aber auch im Winter war mitunter Sonderliches zu beobachten: Nur mit T-Shirt und kurzen Hosen bekleidet, tollten manche Kinder durch den Schnee. „Warum sorgen die Kindergärtnerinnen nicht dafür, dass die Kinder sich vernünftig anziehen?“, dachten sich die Berlebecker. An jene kurze Episode der Zeit der Kleiderordnungs-Anarchie erinnern die Mitarbeiter der Kita sich nicht so gern. Die Einrichtung, eine von zweien im Detmolder Stadtteil Berlebeck, ist eine mitbestimmte Kita. Hier wird die Macht zwischen Kindern und Erziehern geteilt. Als eine der ersten Kindertagesstätten in Nordrhein-Westfalen haben die Berlebecker vor fünf Jahren sogar eine Verfassung erarbeitet, in der die Rechte der Kinder unverrückbar festgeschrieben sind.

Anfangs durften die Drei- bis Sechsjährigen auch bestimmen, was sie draußen anziehen. „Wenn sie bei fünf Grad minus in kurzen Hosen rausgehen, werden sie schon schnell wieder reinkommen“, hofften die Erzieher. Doch das funktionierte nicht immer. „Wie können Sie zulassen, dass die Kinder so etwas entscheiden!“, beschwerten sich aufgebrachte Eltern, deren Sprösslinge am nächsten Tag mit Rotznasen am Frühstückstisch saßen. „Daraufhin haben wir bei der Kleiderordnung einen Schritt zurück gemacht“, sagt Kita-Leiterin Karin Brinkmann. Jetzt sorgen die Erzieher wieder dafür, dass im ostwestfälischen Regen kein Kind ohne Matschhose und Gummistiefel rausgeht.

Rüdiger Hansen könnte stundenlang von ähnlichen Annäherungen an das richtige Maß der Mitbestimmung in Kitas erzählen. Der Sozialpädagoge vom Kieler Institut für Partizipation und Bildung hat die Partizipation in den deutschen Kindertageseinrichtungen aus der theoretischen Ecke in die Praxis geholt. Hansen, der nach dem Studium selbst 15 Jahre in Kitas gearbeitet hat, in der experimentierfreudigen Zeit der 70er und 80er Jahre, fragte sich irgendwann, warum nicht auch Drei- oder Vierjährige mitbestimmen sollten – zumindest in den Angelegenheiten, die sie selbst betreffen.

EINE VERFASSUNG FÜR KINDER – GEHT DAS GUT?

Hansens Überlegungen mündeten in das Modellprojekt „Die Kinderstube der Demokratie“, an dem zwischen 2001 und 2003 sieben Kindertageseinrichtungen in Schleswig-Holstein teilnahmen. Die Erfahrungen der Partizipations-Pioniere waren derart positiv, dass Hansen und seine Mitstreiter sich anschließend vor Anfragen kaum retten konnten. „Die Entwicklung kritischer Urteilskraft kann nicht früh genug beginnen“, meint auch der Soziologe Oskar Negt. Die Kita sei die ideale Stätte für die ersten Mitbestimmungs-Gehversuche, sagt Negt, weil die Kinder hier „das erste Mal außerhalb ihrer Familie erleben, wie das Zusammenleben geregelt wird, welche Macht- und Entscheidungsstrukturen vorherrschen und welche Einflussmöglichkeiten sie selbst haben“. In Gemeinschaft lernen sie, als Bürger zu handeln – und nicht als Untertänchen. Gleichzeitig ermöglicht das Erlernen der Demokratie schnellere Lernfortschritte.

Auch in der Hirnforschung ist mittlerweile unbestritten, dass Eigenentscheidungen Motor für Bildungsprozesse sind. Vor gut fünf Jahren entschieden sich die Berlebecker, die Befunde der Wissenschaft praktisch auszutesten. Demokratie-Pionier Rüdiger Hansen wurde nach Berlebeck gerufen. In mehreren Fortbildungsveranstaltungen tasteten sich die Berlebecker Erzieherinnen und Erzieher an das Thema Partizipation heran und erarbeiteten schließlich gemeinsam mit ihrem Mentor eine Kita-Verfassung für die zehn Mitarbeiter und 67 Kinder. „Die Beteiligung der Kinder an allen sie betreffenden Entscheidungen wird als Grundrecht anerkannt“, heißt es in der Präambel.

Starke Worte. Aber was bedeutet das konkret? Detailliert legt die Verfassung fest, in welchen Angelegenheiten die Kinder ein Mitspracherecht haben. Was sie im Kita-Alltag mit wem machen, sollen sie selbst entscheiden. Genauso bestimmen sie, was und wie viel sie zum Frühstück oder zu Mittag essen und trinken. „Damit wird den Kindern ein individuelles Selbstbestimmungsrecht eingeräumt“, kommentiert Hansen. „Niemand wird sie mehr dazu zwingen, vom Mittagessen ‚wenigstens ein bisschen‘ zu probieren.“ Die Erzieher behalten allerdings die Oberhand über die Tischkultur. Dazu gehört auch, dass sie „die Menge, die die Kinder sich auffüllen, begrenzen dürfen“. Auch die Gestaltung der Räume und des Außenbereichs, Raumtemperatur und Lüftung, Projektthemen, kleinere Anschaffungen sowie die Gestaltung von Festen und Ausflügen fallen in den Souveränitätsbereich der Kinder.

ZÄHNEPUTZEN KÖNNEN DIE KLEINEN NICHT ABWÄHLEN

Natürlich definiert die Verfassung auch die mitbestimmungsfreien Zonen. Beim Zähneputzen, beim Sonnenschutz und mittlerweile auch bei der Kleiderordnung führen die Erzieher das Kommando. Auch bei Personalfragen, Dienstplänen der Kita-Mitarbeiter und den Öffnungszeiten gibt es keine Debatten. „Die Kinder sollen mitbestimmen, aber sie sollen nicht die Kita managen“, kommentiert Hansen. Wie weit die Partizipation in frühere Erzieher-Domänen eingreift, ist von Kita zu Kita unterschiedlich. Beim Wickeln beispielsweise gehen einige Kita-Verfassungen so weit, dass Kinder sich nicht gegen ihren Willen wickeln lassen müssen. Die Berlebecker haben sich für eine pragmatische Lösung entschieden. Sie konstatieren ein „Recht der Kinder, zu entscheiden, dass bestimmte Personen sie nicht wickeln oder nicht dabei sein dürfen, wenn sie gewickelt werden“. „Aber wenn es im Gruppenraum schon mieft und die anderen Kinder sich beschweren, muss es gemacht werden“, sagt Simone Pansegrau. „Dann gibt es auch keine lange Debatte mehr, wer das macht.“ Kita-Leiterin Brinkmann formuliert frei nach Rousseau: „Die Freiheit des einzelnen Kindes darf die Freiheit der anderen nicht einengen.“

Vor allem für die Kita-Mitarbeiter war der Abschied von der gut gemeinten Diktatur ein mutiger Schritt. „Partizipation beginnt in den Köpfen der Erwachsenen“, heißt es in einem Buch über Demokratiebildung in Kitas (siehe „Mehr Informationen“). „Sie kann nur gelingen, wenn die Erwachsenen dazu bereit sind, Kinder zu beteiligen.“ Mehr Rechte für die Kinder, das bedeutet automatisch Machtverzicht für die Erzieher. „Bei einigen gab es die Sorge, dass uns zu viele Sachen aus der Hand genommen werden“, erinnert sich Simone Pansegrau. „Man wusste nicht, wo das hinführt.“ Letztlich entschieden sich alle für die Annahme des Verfassungsentwurfs – und damit für einen partiellen Machtverzicht.

PARTIZIPATION VERÄNDERT DEN BLICK DER ERZIEHER

Mit der Zeit merkten die Erzieher, dass ihre Sicht auf die Kinder sich veränderte. „Heute frage ich mich beispielsweise, ob es richtig ist, dass man Kinder ungefragt anfasst“, berichtet Kita-Leiterin Karin Brinkmann. „Dass man ihnen schnell mal über den Kopf streichelt und gar nicht fragt, ob das Kind das will. Wir Erwachsenen wuscheln uns ja beim Vorübergehen auch nicht durch die Frisur. Das verbietet uns der Respekt vor dem anderen. Vor den Kindern hatten wir diesen Respekt in der Vergangenheit offenbar nicht.“

Bisher verborgene Begabungen treten zutage. Ein Junge, Robby heißt er, offenbarte sich geradezu als „Bundeskanzler-Supertalent“, wie Karin Brinkmann es ausdrückt. „Das ist schon erstaunlich, wie der seine Meinung vertritt und argumentiert. Der hat seine Rolle gefunden und verstanden.“ Rüdiger Hansen berichtet von vielen Fällen, in denen Kommunalpolitiker, die sich mitbestimmte Kitas anschauten, sich begeistert zeigten, weil sie glaubten, gerade künftige Stadtverordnete und Bauausschussvorsitzende gesehen zu haben.

Häufig entscheiden die Kinder ganz anders als die Erzieher entschieden hätten. Eine Gruppe wollte mit dem Geld aus der Gruppenkasse unbedingt einen sprechenden Papagei aus Plastik kaufen; alle waren dafür. Vergeblich versuchten die Erzieher, den Kindern den Plastikvogel auszureden. Er wurde gekauft – und war nach zwei Wochen kaputt. „Das Geld war weg“, sagt Simone Pansegrau. „Diese unschöne Erfahrung haben die Kinder gemacht.“

Bei der inneren Verfasstheit der Berlebecker Kita-Mitbestimmung standen Basisdemokratie und imperatives Mandat Pate. Über alle Angelegenheiten, die lediglich eine der drei Kita-Gruppen betreffen, entscheiden Gruppenkonferenzen, bestehend aus allen Kindern und den jeweiligen Erziehern. Für die „Nestgruppe“ mit den Zwei- bis Dreijährigen ist die Partizipation an diesem Punkt zu Ende. Die beiden anderen Gruppen mit den älteren Kindern wählen je zwei Kinder und einen Erzieher für ein halbes Jahr als Delegierte ins Kita-Parlament, das alle zwei Wochen tagt. Dort sollen sie die Interessen, Anregungen und Entscheidungen ihrer Gruppe vertreten.

DAS KLEINTEILIGE KANN AUCH LANGWEILIG WERDEN

Das Parlament entscheidet über sämtliche Angelegenheiten, die alle Kinder und die gesamte Einrichtung betreffen. Abgestimmt wird mit kleinen Steinen, die die Kinder auf die mit Symbolen aufgemalten Beschluss-Alternativen legen. Beschlüsse können nie gegen alle Kinder oder gegen alle Erwachsenen gefasst werden. „Bei der Entscheidungsfindung wird ein Konsens angestrebt“, bestimmt die Verfassung. „Wie wird es wohl zugehen im Parlament?“, fragten sich die Erzieher anfangs. Wie werden die Kinder sich verhalten? Werden sie nach Lösungen suchen? Oder auf Konfrontation setzen? Und wie wird es sein, wenn Rüdiger Hansens Prophezeiung eintritt: „Durch das Zugeständnis von Rechten und die Erfahrung, sie anzuwenden, wird den Kindern bewusst, dass sie Rechte haben.“

In der Praxis zeigt sich die nur begrenzte Reichweite des imperativen Mandats. „In der Sitzung“, sagt Simone Pansegrau, „erleben wir die Kinder hauptsächlich als Individuen, die auch schon mal für den Vorschlag einer anderen Gruppe abstimmen, wenn der ihnen besser gefällt als der Beschluss der eigenen Gruppe.“ Die Kinder seien nicht immer kooperativ, sondern bestrebt, sich durchzusetzen. „Manchmal beharren sie vehement auf ihrem Standpunkt, auch wenn der nur ihre eigene Stimme bekommt. Auch unsere Kompromissvorschläge werden dann verworfen.“ Und gibt es zu viel Nebensächliches zu entscheiden, erlahmt die Demokratiebegeisterung schnell. Über das Speisen- und Getränkeangebot fürs 14-tägige gemeinschaftliche Frühstück beispielsweise mag mittlerweile kaum noch jemand abstimmen. Hin und wieder ertappen die Erzieher sich auch bei dem Versuch, den Prozess der Entscheidungsfindung in die von ihnen favorisierte Richtung zu lenken. „Da kommt es dann manchmal zu einer Diskussion, die nur noch zwischen uns Erwachsenen hin- und hergeht. Die Aufmerksamkeit der Kinder lässt dann schnell nach.“ Simone Pansegraus Erkenntnis: Je weniger Erzieher dabei sind, desto mehr reden die Kinder mit.

DAS PARLAMENT TAGT ÜBER VERHALTENSREGELN

Ein verregneter Herbstvormittag. Die Delegierten – Paul, Lukas, Emma, Liam und zwei Erzieher – sitzen um einen großen Tisch herum. Auf der Tagesordnung der Parlamentssitzung steht nur ein Punkt: die Formulierung von Regeln für das Verhalten im Außenbereich der Kita. Die Erzieher hoffen, dass die Kinder sich an Regeln, die sie – unter freundlicher Anleitung des pädagogischen Personals – selbst aufgestellt haben, eher halten als an ein aufoktroyiertes Verbotswerk.
Erzieher: Heute wollen wir die Regeln für draußen besprechen. Dinge, auf die man achten muss. Und Dinge, die man nicht darf.“
Emma: Ich weiß nicht welche.
Erzieherin: Deshalb wollen wir ja drüber reden.
Lukas: Ja genau, mit den Autos gegeneinanderfahren.
Erzieher: Warum darf man das nicht?
Lukas: Weil die Autos sonst kaputt gehen.
Erzieher: Sehr gut. Möchtest du diese Regel gern malen, Lukas?
(Lukas möchte nicht malen. Emma malt zwei Autos, die gegeneinanderfahren und zieht mit orangefarbenem Buntstift ein dickes Kreuz über die Zeichnung, schließlich handelt es sich um ein Verbot.)
Erzieherin: Wir haben ja noch mehr Regeln.
Liam: Nicht mit Steinen an den Kopf werfen.
Erzieherin: Nicht nur mit Steinen.
Liam: Auch nicht mit Gras.
Emma: Und mit Sand.
(Auch diese Regel malt Emma. Es folgen weitere Regeln: Der Sand bleibt im Sandkasten, die Spielsachen kommen zurück ins Häuschen, die Stöcke bleiben auf der Baustelle, das Klettern über den Kita-Zaun ist verboten.)

Rüdiger Hansen vergleicht die Wandlung der Machtverhältnisse in den von ihm begleiteten Kitas gern mit „der Entwicklung von einer absoluten zu einer konstitutionellen Monarchie, in der die herrschenden Erwachsenen dem Volk der Kinder gewisse Rechte zugestehen“. Eine andere Analogie, die zur betrieblichen Mitbestimmung, wurde ihm erst mit der Zeit klar. „Irgendwann tauchte in den Reflexionen der Gedanke auf, dass die Partizipation in der Kita viel näher am Betriebsverfassungsgesetz ist als am Grundgesetz.“ Doch was wird aus dem zarten Pflänzchen Mitbestimmung, wenn die Kita-Zeit zu Ende ist?

Meist markiert der erste Schultag das vorläufige Ende der Partizipation. „In den hierarchischen Schulstrukturen stößt die Thematisierung der Machtfrage sofort auf Widerstand“, konstatiert der Forscher. Manchmal wird er gefragt, warum er sich um Mitbestimmung in den Kitas bemüht, wenn sich anschließend alle wieder der wohlmeinenden Diktatur unterwerfen müssen. „Mag ja sein, dass Partizipation in der Schule derzeit kaum realisierbar ist“, antwortet Hansen in solchen Fällen. „Aber finden Sie denn, es macht Sinn, den Kindern deshalb in vorauseilendem Gehorsam schon vorher das Rückgrat zu brechen?“

Mehr Informationen

Rüdiger Hansen/Raingard Knauer/Benedikt Sturzenhecker: Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern! Verlag das netz, Weimar/Berlin 2011. 24,90 Euro

Homepage des Kieler Instituts für Partizipation und Bildung, das bundesweit Kita-Projekte zur Partizipation begleitet.

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