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HBS Böckler Impuls

Europa: Krisenopfer Tarifsystem

Ausgabe 20/2012

Unter dem Druck von EU, EZB und IWF setzen die südlichen Euro-Länder so genannte Strukturreformen um: Sie höhlen die traditionellen Tarifsysteme aus und setzen bei den Löhnen damit eine Abwärtsspirale in Gang.

Bis zum Beginn der Finanzkrise hielt sich die EU weitgehend aus der Lohnpolitik ihrer Mitgliedsländer heraus. Die Grundlage für lohnpolitische Interventionen der EU bildet erst der Euro-Plus-Pakt aus dem vergangenen Jahr. Zudem schafft die ebenfalls 2011 in Kraft getretene EU-Gesetzgebung zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts – der so genannte Sixpack – die Möglichkeit, Sanktionen gegen Länder zu verhängen, deren Lohnentwicklung die vorgeschriebene Bahn verlässt. Zwar dürfte es nach Einschätzung des WSI-Forschers Thorsten Schulten noch einige Jahre dauern, bis das Verfahren seine ganze Wirkung entfaltet. „Die volle Tragweite des neuen lohnpolitischen Interventionismus der EU zeigt sich hingegen schon heute in denjenigen Staaten, in denen unmittelbar ökonomischer und finanzieller Druck zur Durchsetzung bestimmter Strukturreformen angewendet werden kann“, schreibt Schulten in einer aktuellen Studie zur Euro-Krise. Dies gelte etwa für Griechenland und Portugal, die sich gegenüber der Troika aus EU, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) zu Reformen verpflichten mussten, um Hilfsgelder zu bekommen. In Italien und Spanien übe vor allem die EZB Druck aus.

Die aktuelle Wirtschaftsmisere in Südeuropa schafft nach der Analyse des Wissenschaftlers die Voraussetzungen für radikale Umbauten der nationalen Arbeitsmärkte: „Erst die massenhafte Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und die damit verbundene soziale Perspektivlosigkeit fördern die Akzeptanz von Lohnkürzungen und die Bereitschaft zu betrieblichen Konzessionen, mit der eine weitreichende Dezentralisierung und Verbetrieblichung der Tarifpolitik durchgesetzt werden kann.“
In der Vergangenheit hätten sich die Flächentarifvertragssysteme der GIPS-Staaten – Griechenland, Italien, Portugal, Spanien – als äußert stabil erwiesen, so Schulten. Mit der Krise komme es zu drastischen Veränderungen: zur Dezentralisierung und Aushöhlung des Flächentarifs. Formal blieben betriebsübergreifende Lohnvereinbarungen zwar bestehen, faktisch würden sie jedoch durch eine Reihe neuer Gesetze durchlöchert:

  • Öffnungsklauseln erlauben Abweichungen nach unten,
  • Haustarife erhalten Vorrang vor Flächentarifen,
  • nicht-gewerkschaftliche Arbeitnehmervertretungen können nun Tarifverträge schließen,
  • ausgelaufene Tarifverträge verlieren durch verkürzte Nachwirkungszeiten schneller ihre Gültigkeit,
  • Allgemeinverbindlicherklärungen werden erschwert.

„In den nach wie vor stark klein- und mittelständisch geprägten Ökonomien Südeuropas“ werde dies zu einem drastischen Wandel der Lohnpolitik, einer rückläufigen Tarifbindung und schließlich einer „weitreichenden Individualisierung der Lohnverhandlungen“ führen, erwartet Schulten. Gleichzeitig wurden die Gehälter öffentlich Beschäftigter vielfach eingefroren, zum Teil auch gekürzt.

Griechenland hat den Mindestlohn um 22 Prozent gesenkt, für unter 25-Jährige sogar um fast ein Drittel. Spanien und Portugal haben die Anpassung der Lohnuntergrenze an die Preisentwicklung ausgesetzt. Die Folgen der von außen verordneten Lohnpolitik liegen Schulten zufolge auf der Hand: Sie führt in eine lohnpolitische Abwärtsspirale, fördert eine deflationäre Entwicklung und trägt dazu bei, die ökonomische Stagnation Europas weiter zu verfestigen. In den vergangenen beiden Jahren sind die durchschnittlichen Reallöhne in Griechenland und Portugal um 20 beziehungsweise 10 Prozent gesunken.

  • Unter dem Druck von EU, EZB und IWF finden in Südeuropa "Strukturreformen" statt. Das Ziel: niedrigere Löhne. Zur Grafik

Klaus Busch, Christoph Hermann, Karl Hinrichs, Thorsten Schulten: Eurokrise, Austeritätspolitik und das Europäische Sozialmodell – Wie die Krisenpolitik in Südeuropa die soziale Dimension der EU bedroht (pdf), Friedrich-Ebert-Stiftung, November 2012

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