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Magazin Mitbestimmung

Sozialkassen: Streit um die Reserve

Ausgabe 10/2012

Die gesetzliche Rentenversicherung hat mehr Rücklagen aufgebaut, als das Gesetz erlaubt. Der DGB fordert, diese Rücklagen nicht aufzulösen, sondern weiter auszubauen. Ein Blick auf die Hintergründe der Diskussion. Von Carmen Molitor

Die deutsche Rentenversicherung hat Geld zu viel. Auf über 27 Milliarden Euro könnten nach Schätzungen ihre Reserven bis Ende des Jahres ansteigen – Erspartes aus den Einkommen der Beitragszahler, das derzeit nicht für die laufenden Rentenzahlungen benötigt wird. Eine kaum vorstellbare Summe für einen einzelnen Menschen, deren Größe sich relativiert, wenn man weiß, dass in jedem Monat mehr als 20 Milliarden für die laufenden Auszahlungen benötigt werden. Zu etwa drei Vierteln werden die Zahlungen aus den direkten Beiträgen der Versicherten bestritten, zu einem Viertel aus allgemeinen Steuermitteln. Dass es überhaupt dazu kommt, dass sich in der umlagefinanzierten Rentenversicherung ein Vermögen auf der hohen Kante ansammeln kann, hat strukturelle Gründe.

Die Einnahmen können von Monat zu Monat schwanken – beispielsweise durch das Weihnachtsgeld, das im November oder Dezember ausgezahlt wird. Sie schwanken aber auch durch eine saisonal oder konjunkturell bedingte Veränderung der Arbeitslosigkeit. Brummt die Konjunktur, steigen die Einnahmen, bricht die Beschäftigung ein, werden aus Beitragszahlern Fälle für die Arbeitslosenversicherung. Auf jede Veränderung kurzfristig mit einer Veränderung der Rentenbeiträge oder der Rentenhöhe zu reagieren, wäre wenig praktikabel und würde die Rentner als auch die Beitragszahler verunsichern. Aus diesem Grund leistet sich die Rentenversicherung ein finanzielles Polster, um die Beiträge stabil zu halten: die Nachhaltigkeitsrücklage.

Früher wurde sie „Schwankungsreserve“ genannt – bis man sich entschied, einen wohlklingenden Namen zu wählen. Die Schwankungsreserve schwankte stets selber viel: Während sie in den 1970er Jahren noch durchschnittlich beim Gegenwert von etwa sechs Monatsausgaben lag, sank sie in den 1980er und 1990er Jahren auf 1,7 beziehungsweise 1,5 Monatsausgaben. Lange ging es nur darum, mit der Reserve Mindereinnahmen abfedern zu können, damit der Bund in schlechten Jahren nicht mit einem zinslosen Kredit für die Rentenzahlungen einspringen musste. Doch seit der Rentenreform 2004 schreibt § 158 des Sozialgesetzbuches VI nicht nur vor, dass der Rentenversicherungsbeitrag steigen muss, wenn die Nachhaltigkeitsrücklage 20 Prozent einer Monatsausgabe unterschreitet. Für den umgekehrten Fall, der jetzt eingetreten ist, sieht das Gesetz auch vor, dass der Beitrag zur Rentenversicherung sinken muss, wenn in der Kasse mehr liegt, als in den kommenden anderthalb Monaten benötigt wird. Es liegt also per Gesetz ein Deckel auf der Schatulle, damit sie nicht zu voll wird. Ein Ziel der von der damaligen rot-grünen Regierung eingeleiteten Reform war es, den Beitragssatz bis zum Jahr 2020, in dem sich der Rückgang der Beschäftigten aufgrund der demografischen Entwicklung niederschlagen würde, auf unter 20 Prozent und bis 2030 auf unter 22 Prozent stabil zu halten.

ABHÄNGIG VOM ARBEITSMARKT

Den Tiefpunkt der vergangenen zwei Jahrzehnte erreichte die Nachhaltigkeitsrücklage im Jahr 2005: Damals lag sie bei 0,11 Prozent, was rund 1,7 Milliarden Euro bedeutete. Seither mauserte sich das knappe Polster wieder zu einem Sofa – satte 24 Milliarden Euro beziehungsweise 1,4 Monatsausgaben machte es 2011 aus. Zum Jahresende 2011 lag die Nachhaltigkeitsrücklage damit um rund 500 Millionen Euro über den Erwartungen des Schätzerkreises und um rund 5,4 Milliarden Euro über dem Vorjahreswert. Im sechsten Jahr in Folge konnten die Rentenversicherungsträger Überschüsse verzeichnen. Was die Kasse zum Klingeln brachte, war der Zuwachs an Beschäftigung und damit an Pflichtbeiträgen: Die Arbeitslosenzahl war 2011 im Schnitt von 3,2 auf drei Millionen Menschen gesunken. Die Summe der Einnahmen aus Beiträgen erhöhte sich in diesem Jahr um 4,2 Prozent auf rund 168 Milliarden Euro.

Und das, obwohl die Rentenkasse 40 Prozent weniger Beiträge von der Bundesagentur für Arbeit bekam: Die Agentur musste zwei Milliarden Euro weniger an die Rentenversicherungsträger abführen, weil 2011 die Beitragspflicht für Empfänger von Arbeitslosengeld II weggefallen war. Trotzdem stiegen die Einnahmen so sehr, dass die Nachhaltigkeitsreserve den oberen zulässigen Wert erreichte. In der Konsequenz sank der Rentenversicherungsbeitrag Anfang 2012 von 19,9 auf 19,6 Prozent. Und das Geld sprudelt weiter: An allen Monaten des Jahres 2012 kassierte die Rentenversicherung bislang trotz des gesunkenen Beitragssatzes erneut erheblich mehr als in den Vergleichsmonaten der vorangegangenen Jahre. Die Deutsche Rentenversicherung Bund rechnet zum Jahresende 2012 mit einem Anstieg der Nachhaltigkeitsrücklage auf 27,4 Milliarden oder 1,57 Monatsausgaben. Damit stünde die vom Gesetz vorgeschriebene Beitragssenkung schon 2013 wieder an.

Das Kabinett beschloss Ende August einen Gesetzesentwurf, um das einzuleiten. Wie hoch der neue Beitragssatz genau sein wird, will die Regierung erst entscheiden, wenn der Schätzerkreis aus Vertretern des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, der Deutschen Rentenversicherung Bund und des Bundesversicherungsamtes Ende Oktober seine Empfehlungen gibt. Experten gehen von 19 Prozent oder weniger aus.

WIDERSTAND GEGEN BEITRAGSSENKUNGEN

Längst hat sich bei den Gewerkschaften, der SPD, den Grünen, der Linken und den Sozialverbänden erheblicher Widerstand gegen die Abschmelzung der Reserve formiert. Angesichts der demografischen Herausforderung stehen sie jeder Beitragssenkung skeptisch gegenüber, selbst wenn Einkommen und Anzahl der Beitragszahler steigen. Wer die Umlage stärken will, der braucht mehr Geld – da kann es helfen, etwas zur Seite zu legen und nicht nur von der Hand in den Mund zu leben. Die SPD kündigte bereits an, den Gesetzesentwurf im Bundesrat zu stoppen, was mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit möglich wäre. Das von SPD und CDU gemeinsam regierte Saarland lehnt die Senkung des Beitragssatzes ab und hat als erstes Bundesland einen offiziellen Antrag in den Bundesrat eingebracht. Der DGB hat ein eigenes Rentenkonzept vorgestellt, das die Nachhaltigkeitsrücklage durch eine Beitragserhöhung von 0,2 Prozent ab 2014 schrittweise weiter erhöhen und den § 158 SGB VI entsprechend ändern will.

Der Streit wird aber nicht nur um die Höhe der Beiträge geführt, sondern auch um die Funktion der Reserve. Die Gewerkschaften würden das Finanzpolster gern umwidmen und die Milliarden dazu nutzen, die Leistungen der Rentenversicherung zu verbessern oder zumindest auf dem heutigen Stand zu halten. So könne das Rentenniveau stabilisiert, die Erwerbsminderungsrente angehoben und vielleicht sogar die Rente mit 67 ad acta gelegt werden. Die Arbeitgeberverbände und das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft plädieren hingegen für die Einhaltung des Status quo bei den Regelungen zur Nachhaltigkeitsrücklage. Sie argumentieren, der Rentenversicherung fehle das Mandat und die Aufsicht dazu, eine zusätzliche Geldreserve aufzubauen. Eine Absenkung des Beitrags, so argumentieren sie, unterstütze den Beschäftigungsboom. Man darfgespannt sein, wie viele Arbeitgeber zusätzlich Personal einstellen, nur weil die Sozialversicherungskosten pro Mitarbeiter um zehn oder 20 Euro je Monat sinken. 

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