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Magazin Mitbestimmung

Tschechien: Schulterschluss mit Occupy

Ausgabe 10/2012

Gewerkschaften, Studenten und soziale Bewegungen protestieren gemeinsam gegen Sozialabbau und eine korrupte Regierung. Die Metallgewerkschaft OS Kovo sieht in dem Bündnis die Chance für eine Erneuerung. Von Michaela Namuth

Josef Stredula erzählt gern eine Geschichte. Sie passt gut zu der neuen Richtung, die seine Gewerkschaft eingeschlagen hat. Dabei zeigt er aus dem Fenster seines Büros im dritten Stock des Prager Gewerkschaftshauses auf Winston Churchill, der in Bronze gegossen im Park vor dem Gebäude steht und ein strenges Gesicht macht. „Margaret Thatcher sagte bei einem Besuch, dass Churchill in London auf das Parlament schaue. In Prag hingegen blicke er auf die Gewerkschaft“, sagt Stredula mit einem Augenzwinkern. Die Metallerorganisation OS Kovo, deren Vorsitzender er ist, macht jetzt auch Politik – nicht im Parlament, sondern auf der Straße. Bei den zahlreichen Anti-Regierungs-Demos gegen Sozialabbau und Korruption sind die Gewerkschaften eine der treibenden Kräfte. Sie organisieren die Proteste gemeinsam mit Bürgerinitiativen und Studenten. „Das ist eine ganz neue Erfahrung“, erzählt Stredula. Er glaubt, dass die tschechische Gesellschaft wieder einen Wandel braucht – wie bei der „Samtrevolution“ von 1989. Diesmal soll seine Gewerkschaft dabei sein.

Auf der anderen Seite der Moldau, im Park neben der U-Bahnstation Malostranska, hockt Richard Zeman vor einem Zelt. Darauf steht „Occupyczech.ch“. Etwas verloren stehen drei Zelte auf der Wiese. Ein junger Mann mit blonden Dreadlocks kocht Tee in einem Blechkessel. Das ist alles, was von der letzten Occupy-Aktion in Prag übrig geblieben ist. „Nach der großen Demo vom 28. April waren wir über 100 Leute aus ganz Europa. Dann hat die Polizei alles abgerissen. Jemand hat auch die Computer aus den Zelten gestohlen“, erzählt Zeman. Er und die anderen wollen das Feld nicht räumen und der Polizei weiterhin trotzen. Zeman hält ein Plakat des kanadischen Films „End Civ“ hoch. Die Doku über die zerstörerische Kraft der Zivilisation ist sein Manifest. Der Protest der Besetzer ist wie ihre Bewegung global orientiert, er richtet sich gegen Finanzkapitalismus und Umweltzerstörung. Aber dieses Frühjahr sind sie mit Gewerkschaften und anderen Gruppen gegen die tschechische Regierung auf die Straße gegangen. „Wir protestieren gemeinsam, sonst ändert sich nichts“, sagt Zeman.

VERTRAUENSBILDEND

Dieser Schulterschluss zwischen Gewerkschaften und Protestgruppen ist neu. Wie in den meisten osteuropäischen EU-Ländern herrscht auch in Tschechien immer noch Misstrauen gegenüber den Gewerkschaften als ehemaligen Regime-Organisationen. Doch dieses beginnt zu schwinden – auch dank der neuen Bewegung, die sich „Stop Vlàde“ nennt. Das heißt so viel wie „Schluss mit der Regierung“ und ist eine gemeinsame Plattform, an der sich neben den Gewerkschaften verschiedene Initiativen und Netzwerke beteiligen. Es sind Studenten, Rentner, Arbeitslose und die Aktivisten der Occupy-Bewegung, die sich für ein alternatives Wirtschaftsmodell einsetzen. „Es ist das erste Mal, dass tschechische Gewerkschaften mit so vielen unterschiedlichen Gruppierungen eine gemeinsame Position beziehen und diesselben Forderungen stellen“, erklärt Metall-Gewerkschaftschef Stredula.

Der Grund: Die Lage im Land hat sich in den letzten zwei Jahren zugespitzt. Vor der Wirtschaftskrise von 2009 schien Tschechien das Musterländle des neuen Europa zu sein. Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit waren niedrig, die Ersparnisse der Tschechen beachtlich und das Interesse der ausländischen Investoren – allen voran der Deutschen – sehr hoch. Dass die Situation jetzt sehr viel düsterer aussieht, ist nur zum Teil der allgemeinen Krise geschuldet. Einen entscheidenden Beitrag dazu leistet die konservativ-liberale Regierung von Premier Petr Necas, die von ihren Kritikern des „Mafiakapitalismus“ bezichtigt wird. Sie hat trotz mehrerer Fälle von Korruption und Amtsmissbrauch bereits vier Misstrauensvoten im Parlament überstanden. Ihre Politik setzt auf Sozialabbau und Privatisierung des Gesundheitswesens und des Rentensystems.

Die Arbeitslosenquote liegt mit sieben Prozent noch immer unter dem Mittelwert der 25 EU-Länder. Dafür ist der Anteil der Leiharbeiter sehr hoch. Vor allem in der Elektroindustrie gibt es Betriebe, die nur noch zehn bis 20 Prozent Stammbelegschaft beschäftigen. Die Reallöhne sinken stetig. Ein durchschnittliches Monatseinkommen liegt unter 25.000 Tschechischen Kronen, rund 1000 Euro. Das Arbeitslosengeld wurde auf etwa 250 Euro monatlich gekürzt und wird maximal sechs Monate bzw. für über 55-Jährige zwölf Monate lang ausbezahlt. Eine Durchschnittsrente beträgt derzeit weniger als umgerechnet 500 Euro im Monat.

Gleichzeitig wurden die Studiengebühren erhöht und die Autonomie der Universitäten beschnitten. Der Erziehungsminister biederte sich in den Medien mit der Frage an: „Sollen Arbeiter und Kassiererinnen zukünftige Ärzte und Rechtsanwälte finanzieren?“ Dieser Versuch der Regierung, die Studierenden als Sozialparasiten darzustellen, erwies sich allerdings als Bumerang. Im März dieses Jahres gingen die Studenten zu Tausenden auf die Straße. Der größte gewerkschaftliche Dachverband CMKOS, zu dem auch OS Kovo gehört, solidarisierte sich öffentlich mit den Protesten. Das Resultat sind heute mehrere gemeinsame Arbeitskreise von Gewerkschaftern und Studenten, die sich unter anderem in den Räumen von OS Kovo treffen. Sie bereiten gemeinsame Protestaktionen gegen die Regierung vor, arbeiten aber auch an Vorschlägen zu Bildungsprogrammen.

DRUCK AUF DAS KORRUPTE SYSTEM

Nach Meinung der Politikwissenschaftlerin Vladimira Dvorakova haben diese neuen Bewegungen und Bündnisse eine reale Chance, in der tschechischen Gesellschaft etwas zu verändern. „Diese neuen Gruppen machen Druck auf das korrupte politische System“, sagt sie. Sie vergleicht die gegenwärtige Situation ihres Landes mit Italien vor 20 Jahren, als die Schmiergeld-Regierung von Bettino Craxi von der Justiz und einer neuen Bürgerbewegung gestürzt worden war. „Die Bürger schließen sich zusammen, weil sie es leid sind, dass die schlechte Politik ihren Alltag bestimmt“, so Dvorakova, die die politikwissenschaftliche Abteilung der Prager Wirtschaftsuniversität VSE leitet.

Auch in den Betrieben wächst der Unmut. „Die Kollegen sind wütend wegen der dauernden Korruptionsfälle in der Regierung und der Preiserhöhungen“, sagt Jan Dvorak, Vorsitzender der Betriebsgewerkschaft bei Panasonic in Pilsen und Mitglied des Eurobetriebsrats des Konzerns. Die Mehrwertsteuer ist in diesem Jahr schon von zehn auf 14 Prozent gestiegen und soll weiter erhöht werden. Die Löhne der Fließbandarbeiter, die in Pilsen Fernsehgeräte zusammenbauen, sind in den letzten drei Jahren aber nur um vier Prozent gestiegen. Das Arbeitspensum hängt von der Auftragslage ab. „Derzeit sind die Leute müde von den vielen Extraschichten“, erzählt Dvorak. Doch in den kommenden Monaten wird die Produktion zurückgehen. Der Fernsehmarkt ist eingebrochen. Viele haben jetzt auch Angst, ihren Job zu verlieren. Auch bei Panasonic werden – wie in den meisten tschechischen Betrieben – ausschließlich Firmentarifverträge abgeschlossen. Die Mitglieder der Betriebsgewerkschaft sind aber auch Mitglieder von OS Kovo. Die Metallgewerkschaft berät bei den Verhandlungen und versucht, die Abschlüsse zu koordinieren.

Branchentarifverträge gibt es in Tschechien nicht. Überbetriebliche Verhandlungen können aber zu sogenannten „Tarifverträgen der höheren Ebene“ führen, wie beispielsweise in der Flugzeugindustrie. Insgesamt werden rund 40 Prozent der Arbeitnehmer von einem Tarifvertrag erfasst. Die Verträge gelten nur für Unternehmen, die sie unterzeichnen. Der Organisationsgrad in den tschechischen Betrieben liegt bei 30 Prozent. Das alte Mitbestimmungssystem, bei dem 30 Prozent der Aufsichtsratsmitglieder von den Arbeitnehmern gestellt werden, gibt es inzwischen nur noch in wenigen staatlich kontrollierten Unternehmen.

OS Kovo ist mit 130 000 Mitgliedern die größte Einzelgewerkschaft. Auf Betriebsebene gibt es in der Metallbranche über 700 Gewerkschaftsorganisationen in rund 1000 Unternehmen, das heißt, fast jede Firma hat eine eigene Gewerkschaft, die auch eine Art Betriebsrat bildet. Ihre Mitglieder werden in der Regel – wie bei Panasonic Pilsen – von den Regionalgliederungen der OS Kovo unterstützt. „Ideal wären Abkommen auf Branchenebene, kombiniert mit starken Betriebsgewerkschaften“, sagt Gewerkschaftschef Stredula. Für ihn ist auch die internationale Vernetzung wichtig. OS Kovo stellt derzeit 84 Mitglieder in den Eurobetriebsräten von 70 Konzernen – mehr als alle anderen Metallgewerkschaften der MOE-Länder. Darunter sind viele deutsche Unternehmen wie Siemens, ABB, Volkswagen, Bosch und Schneider. „Wir wollen jetzt auch in tschechischen Firmen Eurobetriebsräte einrichten“, so Stredula.

Der Gewerkschaftschef weiß, dass sich seine Leuten in alle Richtungen bewegen müssen, wenn sie die Zukunft ihrer Organisation sichern wollen. Auch außerhalb der Unternehmen. „Als Teil der Bewegung ‚Stop Vlàde‘ haben wir uns für Themen geöffnet, die vor allem jüngere Leute interessieren, die sonst nicht zu unseren direkten Gesprächspartnern gehören“, sagt er. Natürlich sei es für viele Gewerkschafter gewöhnungsbedürftig, dass sie nun mit den Spontanprotestlern von Greenpeace an einem Tisch sitzen. Aber Stredula ist überzeugt, dass die Gewerkschaften eine langfristige Kooperation mit den Protestgruppen anpeilen sollten. Meinungsumfragen bestätigen, dass sich das konservative Image der tschechischen Gewerkschaften wandelt. Bei einer Umfrage des Prager Sozialforschungsinstituts STEM im vergangenen Jahr erklärten 71 Prozent der befragten Personen, dass sie die Gewerkschaften für „notwendig und nützlich“ halten. Dieser breitere Konsens hat die Attraktivität der Gewerkschaften für Bürger- und Protestinitiativen eindeutig gesteigert. Sie bieten zusätzlich Räume und organisatorisches Know-how. Die jungen Aktivisten hingegen verfügen derzeit über ein in Tschechien nie erreichtes Mobilisierungspotenzial.

Die neue Allianz bringt Vorteile für alle. Deshalb setzt sich Gewerkschaftschef Stredula dafür ein, dass die regelmäßigen Treffen mit den kritischen jungen Leuten weiterbestehen, auch unabhängig von dem Etappenziel, das jetzt alle eint – der Sturz der Regierung Necas. Sein Fazit: „Mit ‚Stop Vlàde‘ hat eine Diskussion begonnen. Die sollten wir weiterführen.“

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