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Magazin Mitbestimmung

Enterprise 2.0: Ins Netz gegangen

Ausgabe 07+08/2012

Unternehmen entdecken Social Media für die interne Kommunikation und Organisation. Die Ideen des Web 2.0 werden die Arbeitswelt neu definieren. Drei Beispiele zeigen, wo Chancen und Risiken von sozialen Netzwerken, Wikis, Blogs und Crowdsourcing liegen. Von Carmen Molitor

Im Sommer 2006 baute Siemens der Belegschaft ein riesiges Experimentierfeld. So sieht es jedenfalls David Hagenauer, Sprecher für Social-Media-Aktivitäten der Siemens AG in München. Das Experimentierfeld ist virtuell. Es heißt Siemens Blogosphere, und was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier in der geschützten Umgebung des Firmenintranets erproben, ist der Umgang mit dem Web 2.0. Seit sechs Jahren können Siemensbeschäftigte aus 190 Ländern dort eigene Weblogs anlegen oder Gruppenblogs anregen. Sie führen fachliche Diskussionen, präsentieren ihre Ideen und Beobachtungen, geben Link-Tipps und fragen die Kolleginnen und Kollegen um Rat. 2300 Blogs umfasst zurzeit diese Sphäre, in denen die Beschäftigten bisher gut 15 000 Beiträge und ebenso viele Kommentare publiziert haben. Tendenz steigend. Nach oben ist noch viel Luft: Siemens zählt weltweit 400 000 Beschäftigte.

Was hat ein globaler Elektronik- und Elektrotechnik-Riese wie Siemens davon, wenn seine Beschäftigten während der Arbeitszeit bloggen? Es gehe darum, einen Dialog unter den Beschäftigten anzuregen und das im Unternehmen vorhandene Wissen sichtbarer zu machen, erklärt der technische Projektleiter für diese Plattformen, Karsten Ehms. Die Mitarbeitenden dokumentieren so ihre Tipps für die Arbeit mit Outlook ebenso wie ihre Vorschläge für mehr Sicherheit im Konstruktionsbereich oder ihre Ideen für mehr Nachhaltigkeit im Unternehmen, berichtet er. „Ein Grund für die Beschäftigten, solche Medien zu nutzen, ist, dass sie damit auch Informationen für sich selbst aufheben und Zugriff darauf haben oder dass sie anderen ein Thema zugänglich machen können.“ Auch bei einem Thema firmenweit als Experte sichtbar zu sein, mache das Bloggen attraktiv. Schreiben und Lesen der Blogs ist in der Arbeitszeit erlaubt: „Das ist ein reines Arbeitsmittel“, betont Ehms. „Da sollen jetzt nicht aus Ingenieuren Journalisten gemacht werden.“

MEHR TRANSPARENZ UND DISKUSSION?

Seit einigen Jahren entdecken Unternehmen in Deutschland das Web 2.0. Viele nutzen die sozialen Netzwerke im Kontakt mit den Kunden bereits routiniert für ihre Marketingstrategien. Doch auch die Idee, dass Werkzeuge wie Blogs und Wikis für die interne Kommunikation, das Wissens- und Arbeitsmanagement eines Unternehmens effektiv sein können, setzt sich allmählich durch. „Enterprise 2.0“ heißt das Stichwort, das der Harvard-Professor Andrew P. McAfee 2006 dafür geprägt hat. Theoretiker wie McAfee setzen darauf, dass mit den neuen Techniken, Informationen zu teilen, auch die Konzepte und Philosophien des Web 2.0 in die Unternehmen einziehen: die Partizipation, die Transparenz, die Diskussionsfreude, die Hierarchiefreiheit und die Weisheit der Masse, die Schwarmintelligenz, als Königsweg zur Problemlösung.

Praktiker wie Udo Becker, Betriebsratsvorsitzender bei der Siemens AG in Düsseldorf und Mitglied des Siemens-Gesamtbetriebsrats, sehen die schöne neue Web-2.0-Welt erheblich nüchterner. Becker arbeitet in der 2011 eröffneten NRW-Zentrale von Siemens in der Airport City Düsseldorf. Das ist ein Betrieb, in dem die „neue Bürowelt“ von Siemens schon Einzug gehalten hat: Die meisten der 600 Beschäftigten dort haben nach diesem Konzept keine fest zugewiesenen Büroplätze mehr, sondern suchen sich, wenn sie keinen ihrer häufigen Außentermine haben, ihren Arbeitsplatz je nach Verfügbarkeit neu. Sollten einmal alle gleichzeitig da sein, muss ein Teil von ihnen an Tischen in den Konferenz- oder Kreativzonen arbeiten. Eine Planung mit Betriebsräten hat dafür gesorgt, dass es dabei nicht zu Engpässen kommt. Interne Social-Media-Kommunikationstools sind für Becker ein weiterer Schritt in diesem Konzept der designten Bürowelt. Der Betriebsrat ist, was soziale Netzwerke angeht, ein Skeptiker. „Ich bezweifle, dass ich einem Menschen im virtuellen Raum näherkommen kann“, sagt er. Auch in der Blogosphere von Siemens hat er nichts gefunden, was für ihn fachlich relevant gewesen wäre: „Das liegt sicherlich daran, dass diese Blogs zur Zeit stark technisch ausgeprägt sind.“

INTERNE KOMMENTARE AN JOURNALISTEN WEITERGEREICHT

Die Siemens Blogosphere hat sich etabliert, obwohl es gleich zu Beginn 2006 aus Vorstandssicht einen Super-GAU gab: Der damalige Vorstand Klaus Kleinfeld, Begründer der Blogosphäre, erntete in seinem internen Blog harsche Kommentare aus der Belegschaft, weil er sich dort nicht dazu äußerte, dass die Vorstandsbezüge um 30 Prozent steigen würden. Die Kommentare tauchten wörtlich in Zeitungen wieder auf – der Skandal war da. „Dass diese Sache von intern nach extern gespielt wurde, hat nicht nur beim Management sondern auch bei den Mitarbeitern zu Unmut geführt“, sagt Social-Media-Sprecher Hagenauer. „Wir haben hier einen Raum für internen Diskurs, und den wollen wir auch intern führen.“ Der Entwicklung der Mitarbeiterblogs tat die Episode keinen Abbruch. Der jetzige Vorstand denke in Sachen Enterprise 2.0 schon längst weiter. Umgesetzt werde derzeit ein Programm, das auf drei Säulen aufbaue: dem technischen Zugang aller Beschäftigten zu externen sozialen Medien wie Facebook, der Bereitstellung von Inhalten und Plattformen in den sozialen Medien und der Qualifizierung. „Qualifizierung heißt, den Mitarbeitern zu sagen: So bewegst du dich sicher in sozialen Netzwerken, so kannst du durch deine Beiträge Mehrwert schaffen oder so gehst du kein Risiko ein, Firmengeheimnisse zu publizieren oder Copyrights Dritter zu verletzen“, sagt Hagenauer.

Betriebsrat Becker erkennt in den Social-Media-Aktivitäten durchaus Chancen für Kommunikation und Austausch für die Belegschaft vor allem wegen der großen Vielfalt der Siemens-Beschäftigten. Er sieht aber auch Gefahren: „Wir müssen dringend aufpassen, dass wir da nicht eine Zweiklassengesellschaft bekommen“, sagt er. „Die Entwickler, Ingenieure oder Office-Mitarbeiter leben natürlich mit dieser Technik ganz anders als jemand in der Produktion. Überflieger und Experten bespielen leicht alle Kanäle und klicken sich schnell durch alle relevanten Informationen – aber was ist mit denen, die nicht ständig so schnell und flexibel sind?“ Der GBR achte besonders darauf, dass der Umgang mit den internen sozialen Netzwerken auch dann noch freiwillig bleibe, wenn bald ein geplantes Mitarbeiter-Netzwerk in der Art von Facebook eingeführt werde. Becker befürchtet, dass es mit der Freiwilligkeit auf Dauer nicht weit her sein könnte: „Die Firma stellt etwas zur Verfügung, das technisch aufwendig und teuer ist. Sie will natürlich, dass die Mitarbeiter das nutzen und ihr Wissen weltweit über die neuen Medien austauschen. Denn sonst bringt es ja nichts.“ Und noch ein Punkt treibt Becker um: „Die Firmenseite will Work-Life-Integration, also ständige Erreichbarkeit und virtuelle Präsenz. Die neue Technik lässt zu, dass wir berufliches Leben und Privatleben immer weiter vermischen. Wir fordern Work-Life-Balance, Arbeits- und Privatleben müssen im Einklang stehen. Wir kommen da zur Zeit noch nicht auf einen Nenner.“

SKYWIKI – BESCHÄFTIGTE TEILEN INFORMATIONEN

Die Gefahr, dass Privates und Berufliches verschwimmen, besteht bei der Fraport AG bislang nicht. Die Betreibergesellschaft des Frankfurter Flughafens baut seit 2007 ein betriebsinternes Wiki auf, das die Beschäftigten zurzeit nur von den Computern im Unternehmen aus bedienen können. Das Skywiki funktioniert wie Wikipedia: Ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin stellt einen Lexikonbeitrag ein, der von allen aktualisiert, diskutiert und verändert werden kann. „Wir haben heute knapp 800 registrierte User und knapp 4000 Artikel“, erläutert Kerstin Bitterer aus der Abteilung Innovations- und Wissensmanagement und betont: „Geteiltes Wissen bringt sehr viel Mehrwert für das Unternehmen.“ Ein bisschen wirken die Skywiki-Seiten wie die gute Tante der sozialen Netzwerke. Hier steht nicht die Diskussion im Mittelpunkt, sondern die Information über Themen, die mit Fraport, dem Flughafen und der Arbeit dort zu tun haben.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für das Skywiki zu gewinnen, sei nicht leicht: „Wir sind kulturell, sprachlich und von den Tätigkeitsfeldern her ein sehr heterogenes Unternehmen“, sagt Bitterer. Zumal allein 6000 der fast 20 000 Fraport-Beschäftigten im operativen Bereich arbeiten und nur in den Pausen die Gelegenheit haben, an die Computer-Terminals zu gehen, von denen aus sie an Skywiki arbeiten können. Ein anderes Problem: Die Belegschaft hat ein Durchschnittsalter von 42 Jahren. Die Zahl der jungen Beschäftigten, für die der Umgang mit dem Web 2.0 selbstverständlich ist, ist also relativ gering. Insbesondere sie möchte die Fraport AG gerne stärker für das Skywiki interessieren, etwa durch Schreibwettbewerbe.

Auch der Flughafenbetreiber testet ein firmeneigenes soziales Netzwerk. „Dabei geht es um die Frage, wie man die Social-Media-Tools aus dem Internet, also Plattformen wie Facebook, sinnvoll im Unternehmen implementieren kann“, berichtet der für den Pilotversuch zuständige Kommunikations-Manager Sebastian Keil. 80 Testpersonen sind daran beteiligt. Einer von ihnen ist Zafer Memisoglu, Sprecher des Betriebsratsausschusses EDV und stellvertretender Konzernbetriebsratsvorsitzender. „Wir haben als Betriebsrat dem Test zugestimmt“, sagt er. „Wir wollen aber vor der tatsächlichen Einführung genau wissen, was mit den Daten passiert, die man dort einstellt und fordern, dass die Äußerungen auf der Plattform keine disziplinarischen Folgen nach sich ziehen können.“ Memisoglu begrüßt, dass Fraport mehr auf Social Media setzt. Gut gefällt ihm beispielsweise „Schulte gefragt“. Dem Vorstandsvorsitzenden Stefan Schulte können die Beschäftigten auf einer internen Plattform regelmäßig Fragen stellen. Die Angestellten stimmen ab, und alle 14 Tage beantwortet Schulte die beliebtesten drei Fragen. Seit 2010 hat der Vorstand 130 Fragen beantwortet, 430 wurden eingereicht.

MODELL FÜR PREKÄRES ARBEITEN

Auch die IG Metall steht den Entwicklungen grundsätzlich positiv gegenüber: „Wenn neue Technologien und Kommunikation im Unternehmen den Bedürfnissen der Beschäftigten nutzen, so ist dies zu begrüßen“, erklärt Christiane Benner, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. Sie meint aber auch, dass die Nutzung von Organisationsformen des Internets und des Web 2.0 in Unternehmen auch Gefahren bergen: „Wenn neue Technologien zur Leistungskontrolle missbraucht werden, ist das abzulehnen.“ Firmen versprächen sich Produktivitätsschübe durch die neuen Organisationsformen. „Wir brauchen aber eine faire Bezahlung der Arbeit in der Cloud, damit sie nicht zu digitalem Tagelöhnertum verkommt, wie es manche Crowdsourcing-Konzepte vorsehen“, sagt Benner.

Wie Crowdsourcing zur Unterbietungsauktion genutzt wird, führt IBM vor: Die „Weisheit der Vielen“ nutzt der Softwareriese schon länger, um Projektaufgaben lösen zu lassen. „Natürlich ist das Prinzip verführerisch“, sagt Hans-Erich Müller, Professor für Unternehmensführung und Organisation an der HWR Berlin. „Im Web 2.0 haben die Leute das Bedürfnis, sich einzubringen und zusammenzuarbeiten. Man nutzt das Potenzial der Menschen, die etwas leisten können.“ Dafür gibt es positive Label wie „open innovation“, „interaktive Wertschöpfung“ oder „Demokratisierung der Organisation“. Bei Licht besehen, sei Crowdsourcing aber nichts anderes als die dritte Stufe des Outsourcings. Auf die Outsourcingwelle folgte um das Jahr 2000 das Offshoring, die Vergabe der Arbeit in Billiglohnländer. Mit dem Crowdsourcing ist laut Müller nun eine weitere Stufe erreicht. „Dabei gibt es Grenzen: Nach der anfänglichen Euphorie wird Outsourcing betriebswirtschaftlich heute überwiegend zurückhaltend bewertet.“

Anfang Februar berichteten das Handelsblatt und der Spiegel von IBMs mittelfristigen Plänen: Die Einführung einer Online-Plattform, die an Ebay und Amazon erinnert, könnte tausende Arbeitsplätz vernichten. Um die Dienstleistungen für Kunden sollen sich künftig freie IT-Experten aus der ganzen Welt kümmern, die lediglich von einer kleinen Kernbelegschaft dirigiert werden. Laut den Berichten, die sich auf einen Vortrag des Arbeitsdirektors Dieter Scholz beziehen, entziehen sich die Arbeitsbedingungen für diese Zuarbeiter in dem sogenannten Liquid-Konzept sozialstaatlichen Mindeststandards: Da sollen freie Mitarbeiter einer „Global Talent Cloud“ ihr Angebot auf einer Auktions-Plattform abgeben. Oder sie treten bei einem Wettbewerb gegeneinander an, bei dem nur der Sieger ein Honorar erhält. Die wenigen Festangestellten bewerten online die Arbeit der Freien, ähnlich wie die Kunden bei Amazon die Produkte. Die Programmierer müssten sich dann – wie Jugendliche auf Facebook – ständig um ihren digitalen Ruf bemühen. Geplant sind laut den Berichten auch Zertifikate, die den Freien angeheftet werden: Blau, Silber oder Gold. Tagelöhnerei in Reinkultur. Bislang dementiert das Unternehmen den Masterplan.

„Ich halte das, was der ‚Spiegel‘ schreibt, für realistisch. Das kann so kommen“, sagt dagegen Jutta Dahlmann, Betriebsbetreuerin von IBM bei der IG Metall Stuttgart. „Dass IBM dabei ist, die Arbeitsbedingungen drastisch zu verändern und die Arbeitsverträge aufzuweichen. Das kann ich bestätigen.“ Sollte es zu globalisierten Arbeitsverträgen kommen und das bei anderen Unternehmen Schule machen, befürchtet Dahlmann „eine dramatische Umwälzung, einen Eingriff in den Sozialstaat“.

Der Software-Riese nutzt Crowdsourcing bereits. So wird bei der IBM-internen Anwendungsentwicklung in Deutschland bis 2013 das Modell „GenO – Generation Open“ getestet. Große Projekte werden in viele kleine Pakete zerlegt, die 40 bis 80 Stunden umfassen. Freie oder Festangestellte aus dem weltweiten IBM Verbund können sich auf die Online-Ausschreibung bewerben. Deutsche Beschäftigte beteiligen sich derzeit nur bei den Ausschreibungen, nicht an den Wettbewerben. Von den Beschäftigten hört man, dass die Arbeit dadurch nicht effektiver werde, weil die Ausschreibungen sehr detailliert sein müssen. Die Kollegen haben doppelten Stress: Denn hinzu kommt die Unsicherheit, ob sie überhaupt rechtzeitig etwas Brauchbares bekommen. Gleichzeitig erhalten sie für ihr Projekt weniger an Budget. Das ist Liquid aus Beschäftigtensicht, nach einem halben Jahr Erfahrung. Der Budgetanteil solcher Ausschreibungen bewege sich derzeit noch im einstelligen Prozentbereich. Für die kommenden Jahre sei zu erwarten, dass solche Versteigerungsplattformen zwar eine alltäglichere, aber nicht die bestimmende Methode der Arbeitsteilung bei IBM werden.

Was als Web-2.0-Suche nach den weltweit besten Köpfen daherkommt, ist laut IG-Metall-Sekretärin Dahlmann Teil der IBM-Roadmap 2015. Deren Ziel: den Gewinn pro Aktie zu verdoppeln und dafür alle Einsparmöglichkeiten durchzuspielen. Bisher gehe die Rechnung auf.

Text: Carmen Molitor, Journalistin in Köln / Foto: Frank Rumpenhorst


 

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