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Magazin Mitbestimmung

Netzwelt: Das Mitmach-Web

Ausgabe 07+08/2012

Vor zehn Jahren kannte kaum einer Social Media. Heute revolutionieren sie die Art und Weise, wie wir Informationen und Meinungen austauschen. Eine Vorstellung der Giganten. Von Thomas Wiegold

Das Internet hat den Umgang mit Informationen grundlegend verändert. Die Nachricht von Person zu Person bedarf nicht mehr des Briefes auf Papier, der transportiert werden muss; Nachrichten für viele Empfänger müssen nicht mehr aufwendig gedruckt oder verteilt werden. Zugleich bedeutet das einfache elektronische Verbreiten von Informationen auch, dass eine – potenziell – unendliche Leserschaft nicht mehr nur über einen teuren Apparat wie einen Verlag oder einen Rundfunksender erreicht werden kann: Jeder Empfänger wird auch zum Sender von Nachrichten.

Mit diesen neuen Möglichkeiten haben sich auch die Formen sozialer Interaktion verändert. Nachrichten und Informationen lassen sich beliebig weitergeben, aber auch unmittelbar kommentieren und bewerten – mit Rückwirkungen auf den Sender. Jeder Nutzer ist nicht nur Zuschauer, sondern selbst ein Teil dieses Mediums. Die Grenzen zwischen Senden und Empfangen verwischen: Was früher ein Gespräch unter Freunden am Küchentisch war, kann heute weltweite Leserschaft und Beteiligung erreichen. Mit allen Vorteilen, aber auch Gefahren.
Der nicht fest umrissene Begriff soziale Medien (Social Media) umfasst eine Reihe von Plattformen im Internet, die diese Interaktion möglich machen. Von Gemeinschaftsprojekten wie Wikipedia, bei denen das Netz eine zuvor nicht mögliche Form der Zusammenarbeit erlaubt, über Publikationsformen wie Blogs oder den Kurznachrichtendienst Twitter bis zu sozialen  Netzwerken, die auf direkte Interaktion ausgelegt sind – typisches Beispiel dafür ist das weltweit größte Netzwerk Facebook.

FACEBOOK: ICH WEISS WAS DU GESTERN GETAN HAST

Freunde, Vereine, Firmen: Facebook ist inzwischen das weltgrößte soziale Netzwerk. Was ursprünglich als Webseite zur Vernetzung von Studenten gedacht war, ist für viele mittlerweile die Kommunikations- und Informationsstelle im Internet geworden – ein eigenes Netz im weltweiten Netz. Die Ur-Idee ist bestechend simpel: bei Facebook anmelden, die Freundinnen und Freunde suchen, die auch in diesem Netzwerk vertreten sind, und auf die Frage: „Was machst du gerade?“ Ereignisse, Erlebnisse, Gedanken und Fotos aus dem eigenen Leben „posten“, also im Netzwerk bekannt machen. Jeder ist über seinen Freundeskreis immer auf dem Laufenden, soziale Kontakte laufen zweigleisig – im „realen Leben“ und in der Wahrnehmung über Computer oder Smartphone. Die Freunde sind immer dabei, zumindest immer über das informiert, was man Facebook anvertraut. Die direkte Tele-Kommunkation alten Stils über Telefon oder E-Mail tritt in den Hintergrund, statt eine Person anzusprechen, spreche ich alle an. „Ich weiß, was du gestern abend gemacht hast“, ist keine Drohung, sondern Ausdruck von Interesse. Umgekehrt gilt auch: Wer nicht auf Facebook ist, ist nicht mehr dabei. Einladungen, zum Beispiel zur Geburtstagsparty, bekommt er gar nicht erst zu sehen.

Dass sich Informationen aller Art auf diese Weise rasend schnell verbreiten, haben auch Firmen, Politiker und Parteien erkannt. Kaum eine weltweite (oder auch lokale) Marke, die noch nicht auf Facebook präsent ist. „Fanseiten“ zielen längst nicht mehr nur auf Jugendliche, selbst seriöse Institutionen wie die Internationale Atomenergie-Agentur IAEO nutzen – in diesem Fall nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima – diese Möglichkeit, schnell ihre Informationen weltweit zu streuen. Der Unterschied zwischen Produktinformation und Werbetext ist fließend – was die Facebook-Nutzer allerdings nicht zu stören scheint. Beziehen sie doch selbst klassische Nachrichten inzwischen oft über die Empfehlungen und Links, die ihre Freunde im Netzwerk posten.

Genauso verschwimmen auch die Grenzen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit. Legendär sind die Facebook-Partys, bei denen ein Nutzer aus Unkenntnis seine Einladung nicht nur an seine Freunde schickte, sondern an alle Facebook-Nutzer, und wo die Tausende, die zur Party strömten, nur von der Bereitschaftspolizei in Schach gehalten werden konnten. Auch andere Informationen oder Fotos, die früher nur den engsten Freunden gezeigt wurden, landen durch falsche Einstellungen bisweilen in der Öffentlichkeit. In den Begriffen der alten, papierbasierten Kommunikation: Schnell wird ein privater Brief zum Flugblatt – mit unabsehbaren Folgen.

Unüberschaubar bleiben auch die langfristigen Folgen: Was einmal auf Facebook gepostet wurde, lässt sich nicht mehr wirklich löschen. Die Chronik des eigenen Lebens, zu der das Netzwerk seine Nutzer ermuntert, hat nur noch das dahinterstehende Unternehmen im Griff – und es bestimmt auch, was mit den persönlichen Daten wie Geburtstag, Wohnort, Telefonnummer, Ausbildungs- und Arbeitsstelle passiert: Schwer durchschaubare Datenschutzbestimmungen lassen viele Möglichkeiten für Werbezwecke zu. Oder, wie es Kritiker des kostenlosen Netzwerkes ausdrücken: Du bist nicht der Kunde. Du bist das Produkt.

BLOGS: VOM KATZEN-CONTENT ZUM ESSAY

Die meisten Seiten im Internet sind statisch – nur selten werden sie überarbeitet oder mit neuen Informationen gefüllt. Das änderte sich vor gut zehn Jahren mit dem Aufkommen der Web-Logs, verkürzt Blogs genannt: im Grunde genommen nichts anderes als eine Software, die in einem vorgegebenen Layout auch einem technischen Laien erlaubt, mit ständig neuen Einträgen die eigene Webseite zu aktualisieren. Der neueste Eintrag steht dabei immer an oberster Stelle.

Die ersten Blogs waren wenig mehr als private Logbücher: Persönliche Beobachtungen, Gedanken oder Informationen für Freunde fanden so – lange vor dem Siegeszug von Facebook und anderen Plattformen – ihren Weg ins Netz. Und so waren auch die Inhalte. Der viel verspottete „Katzen-Content“ – Beschreibungen mit Fotos der eigenen Katzen, oder die „Strickblogs“, auf denen Fans von Stricknadel und Wolle ihre Kreationen vorstellten. Weil sich die Autoren solcher Seiten mit gleichen Interessen über gegenseitige Links miteinander vernetzten, bekamen (und bekommen) diese Blogs bei den Suchmaschinen einen höheren Stellenwert als statische Webseiten.

Für die kurzen privaten Anmerkungen haben sich andere Netzwerke durchgesetzt, aber Blogs sind deswegen noch lange nicht verschwunden. Zunehmend dienen sie journalistischen Zwecken (die Beobachtungen eines Reporters, die es nicht in die nachrichtliche Geschichte schaffen) oder ähneln der Meinungsseite einer Zeitung. Mit einem wichtigen Unterschied zur klassischen Zeitung ebenso wie zur Nachrichtenseite im Internet: Die Kommentare der Leser sind ein wichtiger Bestandteil von Blogs.

Der Eintrag des Autors und die Kommentare, diese Grundzutaten machen auch weiterhin ein Blog aus, das als Medium für fast alles genutzt werden kann. Doch die Software erlaubt (meist) beliebige Erweiterungen wie die Tag Cloud, die die meistgenannten Begriffe herausfiltert, oder die Blogroll mit den Links auf ähnliche Seiten. Und inzwischen lassen sich fast alle anderen Arten von Medien in eine Blogseite einbinden – bis hin zur Live-Videoübertragung.

TWITTER: DER JEDERMANN-TICKER

Wenn Medien versuchen, Twitter zu charakterisieren, fällt meist der Begriff „der Kurznachrichtendienst“. Das ist nicht falsch, führt aber in die Irre: Twitter ist kein Nachrichtendienst, der von einer zentralen Stelle gesteuert wird. Verfasser und Herausgeber einer Kurznachricht kann jeder sein, der sich bei diesem – kostenlosen – Dienst anmeldet. Was er dann als Kurznachricht mit maximal 140 Zeichen in die Welt schickt, bleibt ihm selbst überlassen: Banales wie der tägliche Tagesablauf – oder Politiknachrichten von weltweiter Bedeutung.
Die Millionen solcher Nachrichten, sogenannter Tweets, die täglich ins Netz geschickt werden, verlangen vom Leser, dass er filtert, um mit Twitter überhaupt etwas anfangen zu können: Jeder Nutzer sucht sich aus, wessen Tweets er angezeigt bekommen möchte. Das können Freunde sein, über deren Leben man auf dem Laufendn bleiben möchte, aber ebenso Medienredaktionen, Politiker oder öffentliche Institutionen wie Regierungen

Ein weiterer Filter sind bestimmte Themen, die mit dem Raute-Zeichen #, einem sogenannten Hashtag, gekennzeichnet werden: Wer sich für die Lage in Syrien interessiert, sucht auf Twitter nach „#Syrien“ oder – für internationale Quellen – nach „#Syria“ und erhält alle Tweets, in denen dieses gekennzeichnete Schlüsselwort vorkommt. Das sind nicht nur Kurznachrichten von Originalquellen, sondern sehr oft Links zu Internetseiten, die in Kurzform auf diese Weise verbreitet werden können. Die BBC rühmte sich kürzlich einer Untersuchung, wonach die Hälfte der via Twitter weiterverbreiteten Web-Nachrichten von ihren Seiten stamme.

Mit anderen Worten: Was Twitter für einen Nutzer bringt, hängt davon ab, wie man sich dieses System einrichtet. Dann ist Twitter auch schnell, derzeit wohl das schnellste Medium überhaupt. Die kurzen Nachrichten können von einem Computer genauso abgeschickt werden wie von einem einfachen Handy, das nur den SMS-Versand bietet – so ist noch nicht einmal eine direkte Verbindung zum Internet nötig. Selbst die traditionell schnell arbeitenden Nachrichtenagenturen können da bisweilen nicht mithalten – und so sah sich die US-Agentur Associated Press genötigt, ihren Reportern zu verbieten, die eigene Firma zu überholen: Sie hatten die Festnahme von Kollegen bei der „Occupy Wallstreet“-Demonstration via Twitter gemeldet, ehe die Nachricht über den Agenturticker lief.

WIKIPEDIA: KOLLEKTIVES WELTWISSEN

Zu einem ordentlich ausgestatteten deutschen Haushalt gehörte, das ist gar nicht so lange her, auch ein ordentliches Lexikon. Je nach Einkommen der prestigeträchtige Brockhaus im Leder- oder Halbleinen-Einband oder die günstige Taschenbuchausgabe in 24 Bänden. Streit- und Zweifelsfragen aller Art wurden oft genug durch einen Blick in diese Enzyklopädie entschieden.

Das ist vorbei – auch wenn in vielen Bücherregalen noch die alten Lexika stehen, die oft auf moderne Alltagsfragen (Was ist ein Petabyte?) schon keine Antwort mehr geben, weil diese Themen bei ihrer Drucklegung noch keine Rolle spielten. An ihre Stelle ist ein Lexikon getreten, das erst seit etwa einem Jahrzehnt überhaupt existiert – und keinen Herausgeber im klassischen Sinne hat: Wikipedia.

Das Online-Lexikon, benannt nach einem zusammengesetzten Wort aus dem hawaiianischen Begriff Wiki (schnell) und der Enzyklopädie (englisch: encyclopedia), wurde nur möglich durch den Wandel des konsumierenden Lesers zum gleichzeitigen Produzenten von Inhalten, wie ihn das Internet hervorgebracht hat. Tausende von engagierten Verfassern, Kennern ebenso wie Laien, haben zu den Inhalten dieses Nachschlagewerks beigetragen – und die deutsche Fassung der Wikipedia mit derzeit fast 1,4 Millionen Einträgen zur weltweiten Nummer zwei nach dem englischsprachigen Original mit knapp vier Millionen Einträgen gemacht.

Wenn jeder an Wikipedia mitschreiben kann – kommt nur Unsinn heraus? Erstaunlicherweise eben nicht. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass Wikipedia nicht fehlerhafter ist als ein gewissenhaft redaktionell bearbeitetes klassisches Lexikon: Weil so viele Bearbeiter und Korrektoren mitwirken, fallen auch Fehler viel mehr auf. Und weil Wikipedia eben nicht als gedrucktes Werk auf jahrzehntelange Nutzung ausgelegt ist, können diese Fehler auch viel schneller korrigiert werden.

Natürlich hat dieses System auch Schwächen, und die zeigen sich bei Themen, die umstritten sind: Da jeder – auch anonym – Einträge verändern kann, ist die Versuchung groß, zum Beispiel die Erklärung eines umstrittenen politischen Begriffs im eigenen Interesse zu verändern. Schnell wird der Eintrag dann erneut „bearbeitet“ – im Extremfall kommt es zu „edit wars“, redaktionellen Auseinandersetzungen, die einen Lexikonartikel praktisch unbrauchbar machen. Um die Deutungshoheit des Eintrags Neoliberalismus etwa tobte jahrelang ein solcher Kampf. Bisweilen gibt es auch – zunächst unerkannte – Formen von Online-Vandalismus: Als ein Scherzbold dem damaligen neuen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg einen falschen, zusätzlichen Vornamen andichtete, fand sich diese Information wenig später selbst in seriösen Medien wieder.

Neben den – vorsätzlich oder fahrlässig – in die Wikipedia-Artikel eingebrachten falschen Informationen belastet die Community, die Gemeinschaft der Wikipedia-Autoren, noch ein anderes Problem: Der Platz im Internet ist faktisch unbegrenzt. Sollte deshalb jeder Eintrag hingenommen werden, auch wenn er so banal ist, dass er es nie in ein gedrucktes Lexikon geschafft hätte? Der Streit ist nicht ausgestanden, denn die bei einer herkömmlichen Enzyklopädie von einer Redaktion schnell entschiedene Frage lässt sich in einem so dezentralen System wie dem der Wikipedia nicht einfach lösen: Was ist relevant – und was gehört in ein Lexikon?

Text: Thomas Wiegold, Journalist und Blogger in Berlin / Foto: Facebook

 

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