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Magazin Mitbestimmung

Bündnispolitik: Weil Ungleichheit alle angeht

Ausgabe 07+08/2012

Gewerkschaften, die evangelische Kirche und Naturschutzverbände diskutierten auf einem zweitägigen Kongress Anfang Juni in Berlin Strategien für eine gerechtere Gesellschaft. Und wie sie diese breite zivilgesellschaftliche Initiative verstetigen können. Von Margarete Hasel

Das Foto, das der britische Wirtschaftshistoriker und Sozialepidemiologe Richard Wilkinson zu Beginn seines Vortrags riesig an die Wand projizierte, zeigte gut gekleidete junge Menschen, dicht gedrängt und in Eile an einer U-Bahn-Station im Londoner Zentrum während der morgendlichen Rushhour. Kommentar Wilkinson: „So deprimiert und gehetzt sehen wir aus, wenn wir zur Arbeit gehen.“ Doch Wilkinson bereicherte den Transformationskongress, zu dem DGB, Deutscher Naturschutzring und evangelische Kirche unter dem Motto „Nachhaltig handeln, Wirtschaft neu gestalten, Demokratie stärken“ ins Berliner Congress Center eingeladen hatten, nicht nur mit eindrucksvollen Bildern. Vor allem demonstrierte der Co-Autor der Studie „The Spirit Level“, die auf Deutsch unter dem Titel „Gleichheit ist Glück“ erschienen ist, mit Datenmaterial aus aller Welt, warum sich gesellschaftliche Gleichheit rentiert und warum der wachsende Abstand zwischen Arm und Reich schlecht ist für alle. Mit seiner zentrale These – Ungleichheit macht krank, und zwar nicht nur den Einzelnen, sondern am Ende die gesamte Gesellschaft – sollte Wilkinson einen roten Faden durch den Kongress legen, den viele Referenten und Diskutanten immer wieder aufgriffen.

GEMEINSAME ÜBERZEUGUNGEN

„Wenn Politik, Wirtschaft und Gesellschaft weitermachen wie bisher, werden sich die Krisensituationen verstärken und wird die Krisenhaftigkeit dieser Form des Wirtschaftens immer schneller, häufiger und heftiger zutage treten“, hatte zuvor der DGB-Vorsitzende Michael Sommer ausgeführt, warum die Gewerkschaften den Schulterschluss mit Kirche und Umweltverbänden gesucht hatten. Seine Aufforderung an den Kongress, sich gemeinsam für eine Lösung der „Zukunftsfragen der Industriegesellschaft“ anzustrengen, übersetzte Nikolaus Schneider, der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), in die Aufforderung zur „Bewahrung der Schöpfung“, denn „ob wir an Gott glauben oder nicht – auf dieser Welt hängen wir voneinander ab“. Und Michael Müller vom Vorstand des Deutschen Naturschutzrings (DNR) geißelte „die Naturvergessenheit der europäischen Moderne“ und sah die Gesellschaft vor einem „Rendezvous mit dem Schicksal“. Die prominenten Akteure dieser breiten zivilgesellschaftlichen Initiative, die auf dem Berliner Kongress erstmals die Öffentlichkeit auf großer Bühne suchte, wissen fraglos um die beachtlichen Schnittmengen geteilter Überzeugungen und Erfahrungen. So war der Zeitpunkt gut gewählt, eine breite Verständigung über die Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft zu wagen – mitten in der Euro- und Finanzmarktkrise, wenige Tage vor der UN-Konferenz „Rio plus 20“. Erinnert wurde an die Veröffentlichung des ersten Berichts des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ vor 40 Jahren, an die erste Rio-Konferenz vor 20 Jahren und, darauf machte Michael Sommer aufmerksam, „an den beinahe ungehemmten Siegeszug des Brutalkapitalismus nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus“.

„Zu kurz gesprungen sind wir alle schon, Gewerkschaften, Kirchen und Umweltverbände“, erklärte lapidar Michael Müller. Und bekam für seinen Hinweis auf die notwendige Bereitschaft zur Selbstkritik zustimmenden Applaus von den rund 900 Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kongresses. Unter ihnen eine Atmosphäre der Verständigungsbereitschaft zu erzeugen war nicht zuletzt das Verdienst der sorgfältigen Kongress-Regie – die zwölfköpfige Vorbereitungsgruppe war paritätisch besetzt mit Vertretern aus den drei Organisationen. Über ein Jahr hatten sie am Programm gefeilt. Sie hatten die Gemeinsamkeiten fein abgewogen mit notwendigen unbequemen Wahrheiten, die auch am Selbstverständnis der drei gesellschaftlichen Gruppen rütteln, wobei Dissens im Detail nicht ausbleiben konnte, vor allem entlang der Verbindungslinien zwischen Arbeit und Umwelt.

ATMOSPHÄRE DER VERSTÄNDIGUNGSBEREITSCHAFT

Ein Forum dafür boten acht Workshops, in denen parallel Aspekte einer nachhaltigen und gerechten Zukunft verhandelt wurden. Das Themenspektrum reichte von der Regulierung der Märkte über Green Jobs, neue Mobilitätskonzepte, die Welternährungssituation, Demokratisierung der Wirtschaft bis hin zur Forderung nach einem globalen Gesellschaftsvertrag. Im Workshop „Innovationen und Technologiepolitik“ bekannte Volker Hauff, der frühere Bundesminister für Forschung und Technologie und langjährige Vorsitzende des Rates für nachhaltige Entwicklung der Bundesregierung, dass er den Begriff „Fortschritt“ und das zugrunde liegende Denkkonstrukt einer linearen Vorwärtsentwicklung längst aus seinem Vokabular gestrichen habe. Parallel stellte Gerhard Scherhorn vom Wuppertal-Institut sein Konzept eines nachhaltigen Wettbewerbsrechts vor, das die bislang externalisierten ökologischen und sozialen Folgen des Wirtschaftens berücksichtigen will.

Immer wieder ins Zentrum der Debatten geriet der Wachstumsbegriff – und, eng damit verknüpft, die Kritik am Marktmechanismus. Colin Crouch, Soziologe an der Warwick Business School, ließ aber auch die Marktkritiker so einfach nicht davonkommen: „Es ist schwierig, zu denken, wie man eine moderne, komplexe Gesellschaft ohne Markt organisieren kann“ – und erinnerte daran, dass die Atmosphäre vor 25 Jahren hier am Ort des Geschehens, rund um den Alexanderplatz, „ja nicht so heiter war“.

Ihre Referenz erwies der zivilgesellschaftlichen Initiative auch die Politik: So versprach Bundesumweltminister Peter Altmaier, die Botschaft des Kongresses mit nach Rio zu nehmen mit wenig Erfolg, wie wir inzwischen wissen. Dezidiert wachstumskritisch äußerte sich Frank-Walter Steinmeier, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Das Bruttoinlandsprodukt sei kaum mehr geeignet, den Wohlstand einer Gesellschaft zu beschreiben. So würden die Kosten für die Reparatur von Umweltschäden das BIP erhöhen, obwohl diese die Lebensqualität stark beeinträchtigen. Und die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth forderte einen „Green New Deal“. Zum Schluss seines Vortrags zeigte Sozialforscher Wilkinson noch einmal sein Foto mit den abgehetzten Menschen aus London und erinnerte nachdrücklich: Ungleichheit geht alle an. Das wird auch Thema sein bei einer Fortsetzung des Transformationskongresses: Für das kommende Wintersemester wird eine Ringvorlesung an der TU Berlin vorbereitet. Den Aufschlag macht Michael Sommer am 1. November mit einem Vortrag über „Wohlstand ohne Wachstum – eine realistische Utopie?“

Text: Margarete Hasel, Redakteurin des Magazins Mitbestimmung / Foto: Simone M. Neumann

Mehr Informationen

Vorträge, Videomitschnitte und Foliensätze vom Transformationskongress sowie weitere Materialien und Links findet man auf der Internetseite des Kongresses. Dort gibt es auch das Themenheft 15 des DGB-Online-Magazins „Gegenblende“ („Für eine gerechte und ökologische Modernisierung“), das in Vorbereitung des Kongresses konzipiert wurde, als PDF zum Download.

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