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Magazin Mitbestimmung

Lobbyismus: Gipfeltreffen der Finanzmarktkritiker

Ausgabe 05/2012

Die Finanzindustrie bekommt einen Gegner, der mit viel Know-how aufwartet. Die erste Konferenz der neuen NGO Finance Watch in Brüssel war ein Expertentreffen der anderen Art. Die Teilnehmer wollen die Finanzwelt schärfer regulieren. Von Ingmar Höhman

Auf der Leinwand sieht man US-Notenbankchef Ben Bernanke. Er spricht mit staatstragender Stimme: „Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es am Montag keine Wirtschaft mehr geben.“ Im Vorführraum des Brüsseler Programmkinos „Galeries“ läuft der Trailer von „Too big to fail“, einem Dokudrama aus den USA. Es handelt vom Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008. Als der Film aus ist und die Lichter angehen, tritt Thierry Philipponnat ans Rednerpult, der Generalsekretär von Finance Watch. „Wenn Hollywood Filme über die Krise dreht, ist eines klar“, sagt Philipponnat, „die Regulierung der Finanzmärkte betrifft nicht nur die Wall Street, sondern auch den Mann auf der Straße.“ Schon der Titel der Konferenz, „Finanzen und Gesellschaft“, zeigt, dass man sich nicht im Brüsseler Bürokratiegestrüpp verfangen will. Es geht um die großen Fragen. Das Treffen der Lobbyorganisation Finance Watch ist der Auftakt einer eigenen Veranstaltungsreihe, die das Weltfinanzsystem sicherer machen soll.

Schon jetzt redet Philipponnats Vereinigung bei Finanzthemen ein gewichtiges Wort mit. Innerhalb eines Jahres hat sich die NGO zu einem wichtigen Ansprechpartner in der europäischen Politik aufgeschwungen. Jetzt will sie selbst die Themen setzen. „Making finance serve society“ lautet der Wahlspruch von Finance Watch: Die Finanzwelt soll der Gesellschaft dienen. Eine Gruppe von Abgeordneten des Europäischen Parlaments hatte Ende 2010 einen Aufruf zur Schaffung einer Gegenlobby gestartet, die es in Brüssel mit der Finanzindustrie aufnehmen könnte. Das Übergewicht der Bankenvertreter sei „eine Gefahr für die Demokratie“. Mehr als 200 Parlamentarier unterstützten das Vorhaben. Unter den rund 40 Mitgliedsorganisationen von Finance Watch befinden sich heute Forschungseinrichtungen, Gewerkschaften und Globalisierungsgegner. Das Motto stößt bei allen auf Akzeptanz. Nur wie genau die Finanzwirtschaft der Gesellschaft dienen soll, darüber gehen die Ansichten auseinander.

FAST ALLE WOLLEN MEHR KONTROLLE

Der Anspruch ist hoch, und die Teilnehmer der Konferenz sind erstklassig. Frédéric Oudéa, Vorstandschef der Bank Société Générale, gibt sich die Ehre, renommierte Wissenschaftler wie die Stanford-Professorin Anat Admati oder Martin Hellwig, der Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn. Selbst EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier reist für einen Vortrag an. Die Hochkaräter bekommen für ihren Auftritt keinen Cent Honorar. Man nimmt sie ernst, die neue Brüsseler Lobbyorganisation. Um im Streit der Meinungen den richtigen Weg zu finden, hat Philipponnat einen unkonventionellen Ort ausgesucht: Das alte Kino liegt in der denkmalgeschützten Einkaufspassage Galeries Saint-Hubert aus dem 19. Jahrhundert. Ungewöhnlich für Brüsseler Verhältnisse ist auch die Auswahl der Redner – Abgesandte der Banken gehören nicht dazu. Auf Veranstaltungen, auf denen es um ihre Regulierung gehe, sei normalerweise die Finanzindustrie selbst stark vertreten, wundert sich John Rega, Chefkorrespondent der Marktanalysefirma MLex. „Doch hier treffe ich auch Gewerkschaftsvertreter, die nicht nur technisch argumentieren und ganz neue Standpunkte vertreten. Das ist eine Konferenz der anderen Art.“ Der Rahmen ist gesteckt, der Tenor einstimmig: Hollywood darf keinen Grund bekommen, weitere Krisen-Streifen zu drehen, und dazu ist eine schärfere Kontrolle der Banken unumgänglich – so die herrschende Meinung.

Im Zentrum der Veranstaltung steht CRD4, die „Capital Requirements Directive“. Mit dieser Richtlinie will die EU noch vor der Sommerpause die Basel-III-Eigenkapitalempfehlungen in europäisches Recht umsetzen. Oberstes Ziel ist es, die europäischen Kreditinstitute mit mehr Eigenkapital auszustatten, damit sie auch schwere Krisen überstehen können. Die Vorgaben sind seit Jahren umstritten. Während die Finanzindustrie eine wirtschaftliche Katastrophe an die Wand malt, sind die Empfehlungen für andere nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Ökonom Hellwig macht aus seiner Meinung keinen Hehl: „Basel III bringt uns nicht weiter. Im Vergleich zu 2006 machen wir kaum Fortschritte.“ Dann bemüht er einen Vergleich: „In der Sowjetunion war der Fünfjahresplan von Breschnew besser als der von Stalin. Das änderte aber nichts daran, dass das System nicht funktionierte.“

DAS WORT „RISIKO“ IST EIN SYNONYM FÜR „GEFAHR

Die meisten Teilnehmer sind sich darin einig, dass die neuen Eigenkapitalanforderungen zu niedrig angesetzt sind. So schreibt Basel III eine Kernkapitalquote von sieben Prozent vor. Banken, die den Wert nicht erfüllen, dürfen unter anderem Gewinne nicht mehr ausschütten, sondern müssen damit ihre Kapitalbasis stärken.Viele Experten halten jedoch Quoten von über zehn Prozent für angemessen. Am weitesten wagt sich Hellwig vor: Er schlägt einen Eigenkapitalanteil von 20 bis 30 Prozent der Bilanzsumme vor. Für Kritik sorgt auch das Thema Risiko­gewichtung. Die Basel II genannte Vorgängerregulierung von 2004 erlaubt Banken, selbst das Risiko ihrer Anlagen einzuschätzen. „Das ist so, als ob man Kindern erlaubt, die Hausaufgaben selbst zu benoten“, sagt James Ferguson, Chefstratege bei Westhouse Securities. So hätten britische Banken das Risiko ihrer Wohnungsbaukredite vor der Regeländerung mit 50 Prozent bewertet, heute liege die Gewichtung nur noch bei 20 Prozent.

Die Risikobewertung sei eines der „großen Themen“, sagt auch Martin Wolf, Chefökonom der Wirtschaftszeitung „Financial Times“ und Mitglied der von der britischen Regierung eingesetzten Independent Commission on Banking. „Wenn Banken ihr Risiko selbst schätzen dürfen, ist das komplett nutzlos. Um sich höher verschulden zu können, haben sie uns in den Jahren vor der Krise gesagt, dass ihre Anlagen immer sicherer würden. Richtig war das Gegenteil.“ Um hier Abschilfe zu schaffen, hat der Citigroup-Vorstandschef Vikram Pandit ein Benchmark-Portfolio vorgeschlagen, an dem sich Banken, Versicherungen und Regulierungsbehörden orientieren können und das der Öffentlichkeit zugänglich sein soll. Damit würden für alle die gleichen Risikobewertungsmaßstäbe gelten. Finance Watch unterstützt diesen Vorstoß. Dass Ideen aus den eigenen Reihen Gehör finden, müssten Finanzlobbyisten eigentlich goutieren.

UNABHÄNGIGE EXPERTISE IST RAR

Der große Einfluss der Finanzindustrie ist auch auf der anderen Seite des Atlantiks ein viel diskutiertes Problem. 99 Prozent der Einwände zu Regulierungsvorhaben in den USA kämen von der Branche selbst, sagt Dennis Kelleher, Vorstandschef der amerikanischen Nichtregierungsorganisation Better Markets. Er redet sich in Rage: „Die Banken spielen die Krise herunter, dabei haben sie die Welt an den Rand des Abgrunds geführt.“ Allerdings fehlt es an Finanzexpertise, die nicht aus dem Bankensektor stammt – das geben auch die Regulierer zu. Paul Sharma, Direktor bei der britischen Financial Services Authority, nennt „drei große Feinde der Aufsichtsbehörden“: Komplexität, Kompetenz und inhaltliche Gefangennahme durch Interessenvertreter. Die Vereinfachung von Gesetzen habe Grenzen, ebenso das verfügbare Know-how und die Personalausstattung der Behörden. Daher seien sie auf Input von außen angewiesen. „Regulierer sind sehr empfänglich für Kritik. Es ist aber wichtig, dass die Kritiker auch von außerhalb der Finanzindustrie kommen“, sagt Sharma.

Auf humorvolle Art geht Edward Kane, Finanzprofessor am Boston College, das Ungleichgewicht im Lobbying an. Er wirft in seinem Vortrag eine Karikatur an die Leinwand: Ein Schwein, das die Banken verkörpert, und ein Elefant als Inbegriff der trägen Regulierer liegen zusammen in einem Bett. „Was hältst du davon?“, fragt der Elefant das Schwein. „Ich tue so, als ob ich dich verhaue, und du tust so, als ob du Angst hast.“ Kane hält noch eine weitere Metapher bereit. Er vergleicht die Regulierung mit einem unfairen Fußballspiel zwischen dem Finanzsektor und den Steuerzahlern. „Der Unterschied liegt darin, dass es im Fußball einen neutralen Schiedsrichter gibt“, sagt er. „Bei der Finanzmarktregulierung ist das nicht der Fall. Und weil es keine angemessene Gegenwehr gibt, fühlen sich die Banken auch noch moralisch bei dieser Form der Korrumpierung im Recht.“ Gegen solche Vergleiche verwahren sich die Finanzlobbyisten, doch sie geraten auf der Konferenz ins Hintertreffen.

„Ich verteidige hier Standpunkte, die in dieser Umgebung nicht zu verteidigen sind“, beklagt sich der Vertreter einer britischen Großbank. „Wir hören eine Menge darüber, was wir den Banken verbieten wollen. Warum reden wir nicht darüber, was sie eigentlich noch machen sollen?“ Ein anderer Manager mahnt zur Besonnenheit: „Wir müssen bei der Regulierung vorsichtig sein: Der Teufel steckt im Detail.“ Doch die Verstrickung in Details – gerade damit will die Gegenlobby aufräumen. Finance-Watch-Generalsekretär Philipponnat sagt, die Finanzlobby verkompliziere die Materie absichtlich. Indem sie Abgeordnete und Regulierer in die Detailfalle locke, verzögere und verwässere sie Gesetzesvorhaben. Auch die Stanford-Professorin Anat Admati nennt die Sprache im Finanzsektor „unglücklich und verwirrend“. „Selbst Fachzeitungen verwechseln wesentliche Begriffe“, sagt sie. Verwirrend ist auch das Geflecht, in das internationale Banken und Versicherungen verstrickt sind. Von den gegenseitigen Abhängigkeiten in der Branche geht Admati zufolge die größte Gefahr aus: „Wenn eine Bank fällt, fällt der Rest. Das macht das gesamte System extrem verletzlich. Dafür geradestehen muss der Steuerzahler.“

DIE NÄCHSTE KRISE KÖNNTE SCHLIMMER SEIN

Das habe die vergangene Krise gezeigt: Um den Bestand der großen Finanzinstitutionen zu sichern, mussten Staaten einspringen – etwa beim Versicherungskonzern AIG in den USA oder bei der Bank Northern Rock in Großbritannien. Financial-Times-Chefökonom Wolf sieht in der Tatsache, dass der Steuerzahler Banken retten muss, die „größte Bedrohung für das Überleben der Marktwirtschaft insgesamt“. Finanzprofessor Kane glaubt dennoch, dass die Geschichte sich wiederholen wird. „Krisen sind unvermeidbar“, sagt er. „Jeder Politiker, der das Gegenteil behauptet, verdient unsere Verachtung.“ Better-Markets-Chef Kelleher glaubt sogar, dass die nächste Krise noch schlimmer wird. Seit 2008 seien die Großbanken weiter gewachsen, gleichzeitig hätten Notenbanken und Regierungen ihre Eingriffsmöglichkeiten ausgeschöpft. Die Staaten seien überschuldet, die Zinsen historisch niedrig: Damit bleibe kein Spielraum mehr für Rettungsaktionen.

Für weitere Unsicherheit sorgt das Wachstum der Schattenbanken. Der Begriff umschreibt Unternehmen, die keine Banken sind, aber trotzdem Finanzgeschäfte tätigen – etwa Hedgefonds und Zweckgesellschaften. Die Definitionen und Angaben über ihre Größe variieren. Allerdings schätzt der internationale Finanzstabilitätsrat FSB, dass das globale Schattenbankensystem von 27 Billionen Dollar im Jahr 2002 bis 2010 auf 60 Billionen Dollar angewachsen ist. Das entspricht mehr als dem 16-Fachen des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Durch ihre Größe und die enge Verflechtung mit dem Bankensektor stellen die weitgehend unregulierten Schattenbanken ein enormes Risiko für die Finanzmarktstabilität dar. Nicht umsonst greift EU-Binnenmarktkommissar Barnier in der Abschlussrede der Konferenz das Thema auf. Er verweist auf die öffentliche Konsultation, die die Kommission im März gestartet hat. Sie soll klären, was Schattenbanken eigentlich sind und wie sie beaufsichtigt werden können.

Barnier gilt als einer, der den Einfluss der Banken in Brüssel zurückdrängen will. Er hat den Anteil der zur Finanzindustrie gehörenden Berater bei der Kommission verringert und setzt sich für die Unterstützung der Gegenlobby ein. Derzeit läuft die Ausschreibung für den Aufbau eines europäischen Expertise-Zentrums. Es soll über ein Budget von 1,25 Millionen Euro verfügen und zu Finanzmarktfragen unabhängig Stellung nehmen. „Als ich im Februar 2010 als Kommissar in Brüssel anfing, kamen fast alle Lobbyisten für Finanzdienstleistungen aus der Finanzindustrie selbst“, sagt Barnier. „Nicht von Verbraucherorganisationen. Nicht von NGOs. Und nicht von der Zivilgesellschaft. Lobbying muss aber ausgeglichen sein, um demokratische Ergebnisse hervorzubringen.“ Dann sagt er einen Satz,der dem Motto von Finance Watch aufs Wort gleicht: „Es ist das Ziel unserer Finanzmarktregulierung, dass die Finanzindustrie der Gesellschaft und der Realwirtschaft dient.“ Thierry Philipponnat dürfte das freuen. Auch Finance Watch hat sich bei der Ausschreibung um das neue Expertise-Zentrum beworben. 

Text: Ingmar Höhmann, Wirtschaftsjournalist in Münster

 

Mehr Informationen

Die Powerpoint-Präsentationen der Vorträge auf der Konferenz „Finance and Society“ finden sich auf
Englisch auf der Homepage von Finance Watch, dazu auch Video-Mitschnitte der Diskussionen.

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