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Marc Schlette in der Bezirksleitung der IG Metall NRW in Düsseldorf: Immer auf der Suche nach guten Argumenten Magazin Mitbestimmung

Altstipendiat: Der Ausdauernde

Ausgabe 05/2012

Als rechte Hand des Bezirksleiters Oliver Burkhard im größten IG-Metall-Bezirk Nordrhein-Westfalen braucht Marc Schlette Verhandlungsgespür und Ausdauer. Kein Problem für den Marathonläufer. Von Andreas Kraft

Ab Kilometer drei lässt Marc Schlette die Arbeit hinter sich. „Dann schaltet sich das Problemlösungszentrum im Gehirn aus“, sagt der 41-Jährige. Wenn er abends die Laufschuhe schnürt, hat der Gewerkschafter nicht jedes Problem gelöst, das am Tag auf seinem Schreibtisch gelandet ist. „Aber nach einer Stunde Laufen sieht die Welt ganz anders aus.“ Das regelmäßige Training helfe ihm, Distanz zu gewinnen, eine Linie zwischen seinem Beruf und seinem Privatleben zu ziehen. Was er als Bürochef des NRW-Bezirksleiters der IG Metall oft mitnehme, sei dieses „ständige Verwickeltsein in Beziehungen und Erwartungen“. Doch hohe Erwartungen steckt er sich auch selbst. Im Februar ist der Japanfan beim Tokio-Marathon mit etwa 35 000 anderen Läufern an den Start gegangen. „Ab Kilometer 32 fühlt man sich immer ätzend“, sagt er. „Ganz egal wie das Wetter ist, ganz egal wie gut man trainiert hat.“ Dann heißt es: Zähne zusammenbeißen und weiter. „Bei Kilometer 42 ist es dann aber richtig schön.“

Ausdauer braucht Schlette auch bei der Arbeit – etwa wenn er bei den Tarifverhandlungen für die Metall- und Elektroindustrie neben seinem Chef Oliver Burkhard, dem NRW-Bezirksleiter, am Verhandlungstisch sitzt. Oder wenn es, wie im Januar, um den Verkauf eines Unternehmens geht. Als ThyssenKrupp seine Edelstahl-Tochter Inoxum an den finnischen Konkurrenten Outokumpu verkaufen wollte, führte Schlette die Verhandlungen auf der Arbeitnehmerseite. Seit 2010 ist er stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender bei dem Nirosta-Hersteller.

Zwei Wochen lang ging es rund um die Uhr um die Zukunft von 4000 Beschäftigten. „Das ist natürlich hart“, sagt Schlette. „Aber man muss in solchen Gesprächen den Punkt treffen, vor dem und nach dem man kein besseres Ergebnis bekommt.“ Für Inoxum holten Schlette und seine Kollegen immerhin raus, dass nur ein Werk und nicht zwei geschlossen und in den kommenden vier Jahren keine Beschäftigten gekündigt werden. „Aber am Ende gibt es bei so etwas keinen Sieg.“ Ihm sei es wichtig gewesen, die Belegschaft immer sofort und offen über den Verhandlungsstand zu informieren. Es bringe nichts, den Mitgliedern etwas vorzumachen.

Wann man weiter verhandelt und wann man besser zugreift, hat Schlette in der IG-Metall-Zentrale in Frankfurt gelernt. Im Büro von Berthold Huber, der damals noch Zweiter Vorsitzender der Gewerkschaft war, bekam er nach einem Trainee-Programm seine erste Stelle. „Plötzlich hatte ich ein Büro, ein Telefon und jede Menge Arbeit“, sagt er über seinen Start. Auf die Idee, sich überhaupt bei der IG Metall zu bewerben, brachte ihn sein Stipendiatenbetreuer von der Hans-Böckler-Stiftung. Als Wissenschaftler sei er zunächst skeptisch gewesen, mittlerweile sei er aber sicher, damals die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Nach dem Abitur hatte Schlette zunächst eine Banklehre gemacht. Nach drei Monaten wurde er Jugend- und Auszubildendenvertreter. Der Azubi wollte sich nie mit einem „Basta“ abspeisen lassen – etwa wenn es darum ging, ob die Auszubildenden nach der Berufsschule noch in die Filiale kommen müssen. „Führung muss durch Argumente überzeugen“, sagt Schlette. „Wenn ich etwas nicht nachvollziehen kann, frage ich nach.“

Mit 24 Jahren war er stellvertretender Betriebsratsvorsitzender und leitete eine Filiale. „Und was jetzt?“, habe er sich damals gefragt. Er ging an die Uni, studierte in Duisburg Politik und Philosophie – mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung. „Ohne die Stiftung hätte ich nie diesen Weg gehen können“, sagt er. Sie förderte auch seine Promotion. Der Auswahlausschuss tagte im September 2001. Er erinnert sich noch, wie er die Zusage bekam. Doch feiern konnte er nicht. Die Welt trauerte nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center.

Drei Jahre lang analysierte er, wie Unternehmensphiloso­phien Autorität ausüben. „Manche Firmen schreiben ihren Mitarbeitern vor, wie sie die Welt zu sehen haben“, sagt Schlette. Für ihn ein klarer Übergriff. Ein Arbeitsverhältnis sei ja ein Vertrag: Man arbeitet und bekommt dafür Geld. „Das sind klare Verhältnisse, da braucht man nicht gleich eine Welterklärung“, sagt er. „Diese ganze unternehmenskulturelle Soße vereinnahmt nicht nur das Denken der Beschäftigten, es schwächt auch die Gewerkschaften. Da geht es oft um Pseudo-Beteiligung statt um echte Mitbestimmung.“ Oft werde das Unternehmen als Schicksalsgemeinschaft definiert, der Firmengründer überhöht. Dann erschienen Beschäftigte schnell als auf Führung angewiesen und voller Defizite. „Meine These ist eine ganz andere“, sagt der Gewerkschafter: „Die Menschen sind viel schlauer, als man denkt.“

Bei jeder Doktorarbeit kommt irgendwann ein zäher Punkt. Schlette biss sich durch. So sei er halt. Bevor er aufgebe, bleibe er immer noch einmal sitzen, suche noch einmal nach einer neuen Idee, höre er lieber noch einmal genau hin, beiße er eben noch einmal die Zähne zusammen. So wie beim Marathon. „Wenn einem bei Kilometer 38 schrecklich übel ist, denkt man, es geht nicht mehr“, sagt er. „Aber es geht dann doch.“ Das nächste Rennen steht schon an: am 20. Mai in Duisburg.

 

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