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HBS Böckler Impuls

Strukturwandel: Eng verzahnt - Industrie, Wissen und Dienstleistung

Ausgabe 02/2012

Wandelt sich die Industrie- zur Wissensgesellschaft, in der nur noch Top-Qualifizierte Arbeit finden? Eine Studie kommt zu einem anderen Ergebnis: Die Anforderungen an viele Facharbeiter steigen, aber sie werden nicht durch Akademiker ersetzt.

In früheren Zeiten ließ sich die Berufsstruktur als Pyramide darstellen: einige wenige Hochqualifizierte an der Spitze und ein großes Heer angelernter Arbeiter am unteren Ende. In der oft beschworenen Wissensgesellschaft müsste aus der Pyramide ein Pilz werden – oben ballen sich die Akademiker, und für die Niedrigqualifizierten unten gibt es kaum noch Arbeit. Der Hannoveraner Politologie-Professor Michael Vester erwartet jedoch eine andere Entwicklung. Der Wandel der deutschen Arbeitswelt führt nach seiner Analyse eher zu einer Berufstruktur in Form einer Orange. Demnach kommt es zu einem „Upgrading in der Mitte“, das aber nicht zum absoluten Übergewicht einer akademischen Wissenselite führt.

Dieses Gesamtbild ergibt sich nach Vesters Untersuchung aus unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen Trends:

Industrie: „Polarisiertes Upgrading“. Trotz großer Weltmarkterfolge in den vergangenen 20 Jahren ist die Beschäftigung in technisch-industriellen Berufen erheblich zurückgegangen, nach Daten des Sozio-oekonomischen Panels um 10,3 Prozent zwischen 1990 und 2007. Der Schrumpfungsprozess ging vor allem zulasten der Facharbeiter. Dem steht ein leichter Zuwachs an Hochqualifizierten gegenüber: Die Zahl der Ingenieure und technischen Experten nahm im gleichen Zeitraum um 1,3 Prozent der Erwerbstätigen zu. Zudem ist Vester zufolge in vielen Betrieben eine Umstellung auf einen neuen hoch qualifizierten Facharbeitertypus zu beobachten. Von „polarisiertem“ Upgrading spricht der Wissenschaftler, weil es auch einen Gegenbewegung gibt. Dem Upgrading wirkt eine Politik rigoroser Kostensenkungen entgegen, die die Arbeit verdichtet, unter Wert einstuft oder in Niedriglohnländer auslagert. Davon sind besonders die Facharbeiter und Fachhandwerker betroffen, deren Anteil an den Erwerbstätigen von 20,8 auf 13,2 Prozent abnahm. Hinter der „Wiederkehr prekärer Erwerbsarbeit“ verberge sich oft keine Abnahme der Qualifikation, sondern eine Abwertung qualifizierter Arbeit, etwa durch niedrigere Einstufung.

Dienstleistungen: Keine postindustrielle Branche. Dem Beschäftigungsrückgang in der Industrie steht ein Wachstum der Dienstleistungsberufe in der gleichen Größenordnung gegenüber. Daraus lässt sich nach Vester aber kein Niedergang der Industrie zugunsten eines gänzlich anderen Wirtschaftsmodells ableiten. Tatsächlich ist über die Hälfte der Dienstleistungsarbeit Zuarbeit für die Industrie. Die Verzahnung zwischen beiden Wirtschaftsektoren sei so eng, dass man besser von einer industriellen Dienstleistungsgesellschaft als von einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft spreche.

Mit einem Zuwachs um gut 4,3 Prozentpunkte auf 27,9 Prozent der Beschäftigten haben besonders die interpersonellen Dienstleistungen deutlich zugenommen. Hier verzeichneten sowohl Hoch- als auch Mittelqualifizierte Zuwächse. Der größte Teil dieser Beschäftigten arbeitet im Bildungs- und Gesundheitswesen oder in Infrastruktur­einrichtungen – Tätigkeiten, die für die Produktionswirtschaft die Rahmenbedingungen schaffen.

Der Dienstleistungssektor – und insbesondere die so genannten Humandienstleistungen – kompensiert nicht nur einen Teil des Beschäftigungsabbaus in der Industrie im engeren Sinn, sondern absorbiert auch das Gros der zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit. Allerdings schöpft Deutschland sein Beschäftigungspotenzial in diesem Wirtschaftsfeld nicht optimal aus, so Vester. Die „chronische Unterfinanzierung durch den Staat“ führe zu einer weniger und qualitativ schlechteren Beschäftigung in den Humandienstleistungen, als es etwa in den skandinavischen Ländern der Fall sei.

Was den Personalabbau in der Industrie betrifft, dürfte das Tempo Vester zufolge eher abnehmen. Der Wissenschaftler zieht aus seinen Untersuchungen den Schluss, dass die Kosten senkende Verdichtung der Facharbeit inzwischen einen Sättigungsgrad erreicht habe. Es gebe kaum noch Möglichkeiten der Steigerung. Im internationalen Vergleich liege Deutschland bei der Größe des industriellen Sektors noch immer mit Abstand vor den Nachbarländern. Weder die Industrie an sich noch die Facharbeit seien jedoch Auslaufmodelle – in einem Land, das weit mehr als ein Drittel seines Bruttoinlandsprodukts im Export verdient.

  • In technisch-industriellen Berufen ist die Beschäftigung zurückgegangen, besonders betroffen sind Facharbeiter. Zur Grafik

Michael Vester: Postindustrielle oder industrielle Dienstleistungsgesellschaft: Wohin treibt die gesellschaftliche Arbeitsteilung?, in: WSI-Mitteilungen 12/2011

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