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HBS Böckler Impuls

Tarifpolitik: EU-Nachbarn unterstützen Tarifbindung

Ausgabe 16/2011

In Deutschland werden Tarifverträge kaum noch allgemeinverbindlich erklärt. Erfahrungen europäischer Nachbarn zeigen: Eine Wiederbelebung des Instruments könnte zu einer höheren Tarifbindung beitragen.

Nur noch 62 Prozent der deutschen Beschäftigten werden nach Tarif bezahlt. Damit liegt die Bundesrepublik deutlich hinter dem Gros der westeuropäischen Staaten zurück. Ein Grund: In Frankreich, Spanien oder Finnland sind Tarifverträge häufiger allgemeinverbindlich. Das heißt, sie gelten über die abschließenden Tarifparteien hinaus für alle Unternehmen einer Branche. WSI-Forscher Thorsten Schulten hat auf der Tarifpolitischen Tagung seines Instituts einige Regelungen unserer Nachbarn zusammengefasst: 

=> In Frankreich entscheidet das Arbeitsministerium über die Ausdehnung eines Tarifabschlusses. Es gibt keinerlei Kriterien zur Repräsentativität der abschließenden Parteien. Das Ministerium kann also unabhängig davon entscheiden, wie viele Arbeitnehmer und Arbeitgeber einer Branche tarifgebunden sind. 

=> Spanien dehnt Tarifverträge automatisch auf alle Beschäftigten einer Branche aus, wenn sie von einer als repräsentativ anerkannten Gewerkschaft und einem entsprechenden Arbeitgeberverband abgeschlossen wurden. Eine Ausdehnung ist auch in eine andere Region möglich. 

=> In Finnland entscheidet bereits seit 1970 eine überparteiliche Kommission, ohne dass die Sozialpartner dies beantragen müssen. Wenn in etwa die Hälfte der Arbeitnehmer bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt ist, gilt der Abschluss für alle. Oder wenn die Branche eine lange Tradition der Allgemeinverbindlichkeit aufweist und relativ viele Beschäftigte gewerkschaftlich organisiert sind.

=> In der Slowakei hat die Allgemeinverbindlichkeit zwischen 2007 und 2010 eine kurze Blüte erlebt: In dieser Zeit war die Ausdehnung von Tarifabschlüssen auch ohne das Einverständnis der Arbeitgeber möglich. Doch seit dem jüngsten Regierungswechsel gelten Allgemeinverbindlicherklärungen jeweils nur noch für einen einzelnen Arbeitgeber – und auch nur dann, wenn dieser der Ausdehnung zustimmt.

Das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung führe nicht notwendigerweise zu einer Schwächung der Gewerkschaften, fasst Schulten die europäischen Erfahrungen ­zusammen. Finnland mit seiner jahrzehntelangen Ausdehnungspraxis weise einen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 70 Prozent auf. Die Gewerkschaften dürften sich aber auch nicht zu sehr auf die Politik verlassen, wie das Beispiel der Slowakei zeige. Dennoch gelte: Die Allgemeinverbindlicherklärung trägt in einigen Ländern entscheidend zur Stabilisierung oder gar Stärkung der Tarifbindung bei.

In Deutschland hingegen erfassen allgemeinverbindlich erklärte Vergütungstarifverträge heutzutage nur noch insgesamt vier Branchen auf regionaler Ebene – und damit 220.000 Beschäftigte. An Bedeutung gewonnen hat das Arbeitnehmerentsendegesetz. Dieses gilt inzwischen für neun Branchen; in vier weiteren ist seine Anwendung geplant. Allerdings setzt es zumeist lediglich Mindestlöhne, während die klassische Allgemeinverbindlicherklärung die gesamte Entgelttabelle und eine ganze Reihe weiterer, auch manteltarifvertraglicher Regelungen umfassen kann, erläutert WSI-Tarifexperte Reinhard Bispinck.

Der Anwendungsstau in Sachen Allgemeinverbindlicherklärung habe eine Reihe von Ursachen: 

=> Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände praktiziert nach eigener Aussage einen „vorsichtigen Umgang“ mit dem Instrument. In der Praxis führt das dazu, dass sie fallweise selbst Wünsche ihrer Mitgliedsverbände nach Allgemeinverbindlicherklärung blockiert.

=> Doch auch einige Fachverbände, beispielsweise der Einzelhandel, lehnen seit Jahren Allgemeinverbindlicherklärungen ihrer Vergütungstarifverträge ab. 

=> Die tarifgebundenen Arbeitgeber müssen mindestens 50 Prozent der Arbeitnehmer einer Branche beschäftigen – ein hohes Quorum, so Bispinck.

=> Viele Arbeitgeberverbände bieten Unternehmen inzwischen die Möglichkeit einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung. Hier sei ein Zusammenhang mit dem Niedergang der Allgemeinverbindlicherklärung zu vermuten.

Für eine Stabilisierung des Tarifgefüges sei eine Renaissance der Allgemeinverbindlicherklärung nötig, so der Tarifexperte. Er empfiehlt, die Veto-Position der Arbeitgeberverbände abzuschaffen. Zudem sollten im Tarifausschuss, der über die Ausdehnung entscheidet, die jeweiligen Branchen-Tarifparteien sitzen – und nicht übergeordnete Dachverbände. Bis-pinck rät zudem, das Quorum unter 50 Prozent zu senken.

  • In Deutschland werden Tarifverträge kaum noch allgemeinverbindlich erklärt. Erfahrungen europäischer Nachbarn zeigen: Eine Wiederbelebung des Instruments könnte zu einer höheren Tarifbindung beitragen. Zur Grafik

Thorsten Schulten: Allgemeinverbindlicherklärungen – Erfahrungen aus Europa (pdf).

Reinhard Bispinck: Der Niedergang der AVE – Entwicklung und Reformperspektiven; Vorträge auf der Tarifpolitischen Tagung 2011 des WSI, Düsseldorf, 28. September 2011.

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