zurück
Magazin Mitbestimmung

: Tarifpolitische Parallelwelten

Ausgabe 07+08/2011

UNTERNEHMENSNETZWERKE Auslagerung von Dienstleistungen, Ausgründung von Firmen – die Veränderung der unternehmerischen Wertschöpfung verändert die Grundlagen der Tarifpolitik. Es entstehen tarifpolitische Parallelwelten, in denen die Tariflosigkeit weiter voranschreitet. Von Markus Helfen

Markus Helfen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Management, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der FU Berlin

Die aktuellen Daten zur Reichweite des Flächentarifs wecken erhebliche Zweifel an der Durchsetzungskraft einer branchenbezogenen Tarifpolitik. Diese Zweifel werden durch die beständige Ausdehnung der flächentariffreien Zone genährt – siehe Infografik. Diese Erosion ist gravierend, selbst angesichts einer wachsenden Zahl von Haustarifverträgen, auch wenn Unternehmen neu in die Tarifbindung eintreten und sich nicht tarifgebundene Arbeitgeber durchaus am Tarif orientieren.

Die Erkenntnis, dass die Tarifbindung nicht alle Beschäftigungsverhältnisse umfasst, ist nicht neu. 1998 haben Wissenschaftler wie Bellmann, Ellguth und Seifert im Magazin Mitbestimmung auf die weißen Flecken der tarifpolitischen Landschaft hingewiesen. Lange Zeit ist dies aber eher als Hinweis auf ein Randphänomen behandelt worden. Nach fast zwei Jahrzehnten schleichenden Schwundes des Flächentarifs stellt sich aber die Frage, was der „Normalzustand“ ist: das traditionelle tarifpolitische Gefüge mit einer flächendeckenden Tarifbindung oder Tariflosigkeit in weiten Teilen der Wirtschaft. Unser Forschungsteam mit Jörg Sydow plädiert dafür, sich dem Phänomen Tariflosigkeit unmittelbar zu stellen, und zwar als Folge einer netzwerkförmigen Reorganisation der Unternehmenslandschaft, die tarifpolitische Parallelwelten schafft. Dazu ist zu klären: Welche Formen von Tariflosigkeit gibt es überhaupt? Welche Ursachen hat die Tariflosigkeit? Und was wäre zu tun, um ihre weitere Ausbreitung zu bremsen?

VERBETRIEBLICHUNG_ Zu den bekannten Ursachen: Zunächst schwächt die Verbetrieblichung die Tarifpolitik in der Fläche, indem sie bestehende tarifvertragliche Regelwerke einschränkt. In den meisten Tarifverträgen sind mittlerweile Öffnungsklauseln, Tarifmenüs und Wahloptionen enthalten, die unternehmens- und betriebsbezogene Abweichungen von tarifvertraglich vereinbarten Standards erlauben. Zudem werden im Rahmen von betrieblichen Bündnissen Pakete geschnürt, die Abweichungen vom Tarifvertrag festlegen. Nicht zuletzt hat sich die Zahl der Firmentarifverträge vervierfacht. 

Zur durchaus widersprüchlichen Entwicklung gehört also, dass die Tarifparteien die Tarifbindung selbst in ihrer Wirkmächtigkeit einschränken, indem sie über Öffnungsklauseln Ausnahmen schaffen. Auch wenn dies im Rahmen verhandelter Tarifpolitik geschieht, kann es auf partielle Tariflosigkeit hinauslaufen, wenn etwa Haustarifverträge die Standards eines geltenden Branchentarifvertrags umgehen oder unterschreiten.  

Hinzu kommt die schleichende Erosion der organisatorischen Säulen der Tarifpolitik. Dabei greift zu kurz, wer allein die geschwächte Integrationsleistung und die Mitgliederverluste der Gewerkschaften betrachtet. Es spricht vieles dafür, dass auch die verbandliche Integration auf Arbeitgeberseite ihren Teil dazu beiträgt, zumal die Arbeitgeber – in Unternehmen mit niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgraden – für die Geltung von Tarifen in der Fläche sorgen könnten.  

Eine eigene Befragung ergab, dass von 86 befragten Arbeitgeberverbänden mehr als die Hälfte (58 Prozent) zwischen 2001 und 2005 eine schrumpfende Mitgliedschaft zu verzeichnen hatte. Zudem erlauben seit einigen Jahren tarifschließende Arbeitgeberverbände die sogenannte OT-Mitgliedschaft (Ohne-Tarif-Mitgliedschaft), die es Unternehmen gestattet, zugleich Mitglied des Verbandes und tariflos zu sein. Und es gibt (Neben-)Arbeitgeberverbände, deren Mitglieder in Mehrheit nicht tarifgebunden sind, zum Beispiel die Arbeitgeberverbände für technische und industrienahe Dienstleistungen.  

Diese verbandsbezogene Desintegration beschränkt sich nicht nur auf die Metallindustrie. So finden sich etwa die OT-Mitgliedschaften auch in der Baustoffindustrie, bei Druck und Medien, im Hotel- und Gaststättengewerbe, in der Ernährungsindustrie oder im Groß-, Einzel- und Außenhandel. In der Summe erscheint die Integrationsleistung der Arbeitgeberverbände gesunken zu sein, was die tarifpolitische Verpflichtungsfähigkeit der Verbände in Bezug auf ihre Mitgliedschaft beeinträchtigt.

VERÄNDERTE WERTSCHÖPFUNG_ Weniger im Fokus ist, wie stark die Tarifpolitik seit einigen Jahren durch Fragmentierung geschwächt wird. Verantwortlich hierfür ist die netzwerkförmige Unternehmensreorganisation, die gekennzeichnet ist durch Aufspaltung, Zergliederung und Auslagerung von Unternehmensteilen. Teile und Komponenten werden fremd bezogen, Dienstleistungsprozesse ausgelagert; das passiert heute in zahlreichen Branchen – in der Computerherstellung über die Automobilindustrie und Bauwirtschaft bis hin zur Transportwirtschaft, der Chemieindustrie und dem Einzelhandel. 

Die Auslagerung von Markt- und Kostenrisiken an Subeinheiten einer netzwerkförmigen Wertschöpfung kann mit erheblichen Konsequenzen für die Tarifpolitik einhergehen, da ein Teil der Beschäftig­ten aus den vormals geltenden branchenweiten (Flächen-)Tarifstandards herausfällt. Als Folge einer netzwerkförmigen Restrukturierung werden traditionelle Unternehmens- und Branchengrenzen aufgeweicht. Wo zuvor ein branchenbezogenes Tarifwerk Anwendung fand, gelten nun unterschiedliche tarifliche Standards. Es entstehen neuartige (Zwischen-)Branchen und kleinere Unternehmenseinheiten, die nicht oder noch nicht tarifpolitisch organisiert sind.  

Dies ist besonders bei unternehmensbezogenen und industrie­nahen Dienstleistungen der Fall, allen voran bei der Leiharbeit, dem Facility-Management, aber auch bei Instandhaltung und Wartung von Anlagen und Maschinen und ähnlichen produktionsnahen Dienstleistungen. Diese Branchen hatten in den letzten beiden Jahrzehnten ein rasantes Beschäftigungswachstum zu verzeichnen. Zugleich sind sie oft Schlusslicht der Tarifgeltung.  

Aktuelle Studien bestätigen die hohe Tariflosigkeit in privatwirtschaftlichen Dienstleistungszweigen: Vom Handel über die Transportdienstleistungen bis hin zu den sonstigen Dienstleistungen gilt nur noch für weniger als die Hälfte der Beschäftigten ein Tarif­vertrag. 

BEISPIEL LEIHARBEIT_ Symptomatisch ist hier die Leiharbeitsbranche, in der die Institutionalisierung der Tarifpolitik nicht als abgeschlossen und stabil gelten kann. Unklarheiten in Bezug auf die faktische Gültigkeit von Tarifverträgen beherrschen das Feld durch widersprüchliche Gerichtsurteile. Trotz des jüngst erfolgten Zusammenschlusses zum Bundesarbeitgeberverband der Personaldienst­leister (BAP) unter dem Dach der BDA gibt es weiterhin konkur­rierende Verbandsstrukturen auf Arbeitgeberseite. Und auf Gewerkschaftsseite steht eine unübliche Tarifunion der DGB-Gewerkschaften in Tarifkonkurrenz mit christlichen Gewerkschaften.  

Diese Gemengelage in der Leiharbeit steht beispielhaft für andere industrienahe Dienstleistungen wie Facility-Services, Sicherheitsdienste und Instandhaltung. Ohnehin sind die Übergänge fließend zwischen einer leiharbeitsmäßig erbrachten industrienahen Dienstleistung und einer Erbringung durch eine ausgegründete Gesellschaft – mithin zwischen direkter Auslagerung und einem Dienstleistungsfremdbezug. Die Unternehmens-Geschäftsmodelle variieren von rechtlich selbstständigen Dienstleistungseinheiten bis hin zu integrierten Dienstleistungssystemen. Eine solche Aufsplitterung durch netzwerkförmige Reorganisation verändert die Grundlagen, an denen die bisherige Tarifpolitik ansetzt. 

So hinterlässt netzwerkförmige Restrukturierung eine fragmentierte und von weißen Flecken übersäte tarifpolitische Landkarte. Es entstehen tarifpolitische Parallelwelten, in denen die Tariflosigkeit weiter voranschreitet. 

Stabilisierung der Tarifbindung_ Ohne Gegensteuerung wird die Tariflosigkeit weiter um sich greifen. Vor allem die tarifpolitischen Parallelwelten in der netzwerkförmig strukturierten Wertschöpfung beschwören eine paradoxe Situation herauf. Althergebrachte tarifpolitische Faustregeln, wie „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ oder „Verbandsmitgliedschaft ist gleich Tarifbindung“, die einen Flächentarif begründeten, greifen dann nicht mehr ohne Weiteres. Und in neuen Branchen bestehen – für Arbeitgeberver­bände wie für Gewerkschaften – Probleme, Branchenidentitäten und damit auch tarifpolitische Identitäten zu entwickeln, die nötig wären, um einheitlichen Standards Geltung zu verschaffen. Die Gefahr, dass die Zustände in den industrienahen Dienstleistungsbranchen Vorboten eines grundlegenden Einbruches der Tariflosigkeit in tarifpolitische Kernbereiche darstellen, ist nicht von der Hand zu weisen.  

Allerdings ist dies keine unausweichliche Entwicklung. Vieles hängt auch davon ab, ob es den Akteuren – Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und dem Gesetzgeber – auf dem Verhandlungswege gelingt, in das unübersichtliche Zusammenspiel von Unternehmensstrategie, Verbands-Desintegration und Tariflosigkeit zu intervenieren. 

WILLE ZUM GEGENSTEUERN_ In einzelnen Branchen hat sich in den letzten Jahren immerhin ein Wille zum Gegensteuern gezeigt. Davon zeugt die Minimalregelung für branchenspezifische Mindestlöhne, die in einer Reihe von Branchen geschaffen wurden, was laut BMAS demnächst für 3, 75 Millionen Beschäftigte gilt – beim Bau, in Gebäudereinigung, Pflege und bald auch in der Leiharbeit als größter Branche. Branchenbezogene Mindestlöhne bergen aber auch ihre Probleme: Zunächst gleicht das Verfahren der branchenspezifischen Mindestlohnfindung eher einem Krückstock für ein schwächelndes Tarifsystem. Ein Krückstock, mit dem die Sozialpartner gestützt werden müssen, weil ihre organisatorische Reichweite zu gering ausfällt, um selbsttätig untere Mindestgrenzen festzuzurren, aber noch groß genug ist, eine Allgemeinverbindlichkeit zu erwirken. Voraussetzung ist jedoch, dass beide Seiten mitspielen. Dies ist aber gerade dann nicht gegeben, wenn eine fortgesetzte Auslagerung einzelner Tätigkeiten immer neue Spielräume für eine Branchenfragmentierung schafft. 

Dies alles spräche für einen allgemeinen Mindestlohn, mindestens aber für Verfahrenserleichterungen, um Mindestlohnbestimmungen auch für Branchen durchzusetzen, die sich in der Entstehungsphase tarifpolitischer Regeln befinden. Eine solche Inanspruchnahme des Gesetzgebers allein dürfte jedoch zur Stabilisierung einer branchenbezogenen Tarifpolitik in der Fläche nicht ausreichen, wenn nicht auch Organisationsanstrengungen aufseiten der Sozialpartner hinzukommen. Dies schon deshalb, weil sonst die Einhaltung der Mindestbestimmungen allein den Behörden überantwortet würde, ein Problem, das sich im Zuge der europaweiten Arbeitnehmerfreizügigkeit noch vergrößern wird. 

Offenkundig ist, dass sich die Gewerkschaften nicht dauerhaft mit dieser Beschneidung ihrer Gestaltungsfähigkeit in der Tarifpolitik abfinden. Einen Ausweg suchen sie derzeit in Mitgliederwerbung und gesteigerten Organisationsanstrengungen. Aber auch für die Arbeitgeberverbände stellt sich die Frage, ob sie tarifpolitische Parallelwelten dulden möchten. So haben Gewerkschaften wie die GDL oder die Vereinigung Cockpit den Arbeitgebern vor Augen geführt, dass ein Abschied vom Flächentarif nicht nur von Vorteil ist. Im Gegenteil lässt sich bei der Spitzenorganisation der Arbeitgeber eine Wiederentdeckung der „Tarifeinheit“ ausmachen, da sich einige ihrer Mitgliedsunternehmen lohnpolitischen Ansprüchen verschieden organisierter Teile ihrer (Kern-)Belegschaften gegenübersehen. Immerhin weiß ein Teil der Arbeitgeber, dass eine Erosion des Tarifsystems auch ihnen schadet, indem die Ordnungsfunktion der Tarifpolitik aufs Spiel gesetzt wird.

Formen der Tariflosigkeit

Die Varianten verweisen auf unterschiedliche Grade an Tariflosigkeit, die die Tarifbindung entweder komplett umgehen oder ihre Wirkung abschwächen.  

Reine Tariflosigkeit Das Unternehmen ist kein Mitglied eines Arbeitgeberverbandes, hat keinen Haustarifvertrag und wendet auch nicht freiwillig den Tarifvertrag an.  

Koordinierte Tariflosigkeit Das Unternehmen ist Mitglied eines nicht tariffähigen oder -willigen Verbandes, etwa eines Regional- oder Fachverbandes.  

Organisierte Tariflosigkeit Das Unternehmen ist tarifungebundenes Mitglied eines ansonsten tariffähigen Verbandes in einem gesonderten Ohne-Tarif-Mitgliedschaftsstatus (OT).  

Partielle Tariflosigkeit besteht, wenn Tarifstandards nicht auf prekäre Belegschaftsteile oder einzelne Teilunter­nehmen und Tochtergesellschaften angewendet werden. Oder wenn sie durch Öffnungsklauseln im Tarifvertrag abgeschwächt werden. Auch Haustarifverträge können einzelne Bestandteile eines ansonsten geltenden Branchentarifvertrags ausblenden.

MEHR INFORMATIONEN

Martin Behrens/Markus Helfen (2009): Innerverbandliche Heterogenität und die Vertretungswirksamkeit deutscher Arbeitgeberverbände. In: Industrielle Beziehungen 16(1): S. 5 –24 

Peter Ellguth/Susanne Kohaut (2011): Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung: Aktuelle Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2010. In: WSI-Mitteilungen 64(5): S. 242 –247 

Markus Helfen: Wirtschaftsverbände in Deutschland 2006 – Zur Leistungsfähigkeit der politischen Organisationen der privaten Wirtschaft.Aachen, 2006. www.boeckler.de 

Wolfgang Schroeder/Bernhard Weßels (Hrsg.): Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Deutschland. Wiesbaden, VS Verlag 2010

 Jörg Sydow/Carsten Wirth (Hrsg.): Arbeit, Personal und Mitbestimmung in Unternehmungsnetzwerken.
München/Mering, Hampp 1999

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen