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HBS Böckler Impuls

Verteilung: Zwei Jahrzehnte wachsende Ungleichheit - zulasten der Wirtschaftskraft

Ausgabe 03/2011

In vielen Ländern sind die Einkommen heute ungleicher verteilt als vor zwei Jahrzehnten. Besonders deutlich hat sich die Schere in Deutschland geöffnet. Die Mittelschicht schrumpft kontinuierlich.

Auf einer Weltkarte der Ungleichheit bietet die Bundesrepublik ein zwiespältiges Bild. Auf den ersten Blick lag Deutschland 2009 bei der Verteilung der verfügbaren Einkommen unter den wohlhabenden Ländern im Mittelfeld. Der Gini-Koeffizient, das wichtigste statistische Maß für die Verteilung von Einkommen und Vermögen, betrug 0,29. Eine gleichmäßigere Einkommensverteilung mit niedrigerem Gini-Wert verzeichnen nach Daten der UNO die skandinavischen Länder Schweden, Dänemark und Norwegen, einige osteuropäische EU-Staaten wie die Tschechische und die Slowakische Republik sowie Japan. In den meisten kontinentaleuropäischen Ländern sind die Einkommen etwas ungleicher verteilt, deutlich größer ist die Spreizung in den USA mit einem Gini-Wert von etwa 0,4. Dass ­Ungleichheit auch in Deutschland zu einem immer drängenderen Thema wird, macht ein zweiter Blick deutlich - auf die ­Situation bei den Vermögen und auf die Einkommensverteilung im zeitlichen Verlauf.

Bei den Vermögen ist die Konzentration weitaus größer als bei den Einkommen. Die aktuellsten detaillierten Daten stammen aus dem Jahr 2007. Damals besaß das wohlhabendste Zehntel der erwachsenen Bevölkerung gut 61 Prozent des gesamten Vermögens. Auf die weniger wohlhabenden 70 Prozent entfielen hingegen nur knapp neun Prozent, haben die DIW-Forscher Markus Grabka und Joachim Frick in einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Projekt auf Basis des sozio-oekonomischen Panels (SOEP) ermittelt. Der Gini-Koeffizient beim Vermögen betrug 0,799 und war gegenüber dem Vergleichsjahr 2002 spürbar gestiegen.

Die Spreizung der Einkommen hat in der Bundesrepublik in den vergangenen Jahren besonders stark zugenommen, analysiert Gustav Horn. Der wissenschaftliche Direktor des IMK untersucht in seinem neuen Buch, wie sich die Verteilung in verschiedenen Ländern über die letzten zweieinhalb Jahrzehnte entwickelt hat. Sein Fazit: Schaut man auf den Trend, sei Deutschland "zum Mutterland der Ungleichheit geworden".

Die Spreizung bei den Markt- oder Primäreinkommen ist seit Mitte der Achtziger in vielen Ländern größer geworden, zeigt Horns Langzeitbetrachtung. Wesentlicher Grund: Die Einkommen aus Unternehmens- und Kapitalgewinnen und die Gehälter der Besserverdiener sind stärker gestiegen als die der mittel oder geringer bezahlten Arbeitnehmer. Am deutlichsten war diese Entwicklung in Japan, Italien und, mit etwas Abstand, Deutschland. Lediglich die Einkommensverteilung in Frankreich entwickelte sich gegen den Trend.

Wie weit sich die Einkommensschere gerade in Deutschland geöffnet hat, zeigt ein weiterer Befund. Seit 1990 ist in zwei Staaten der Abstand zwischen dem oberen und dem unteren Ende der Lohnskala besonders stark gewachsen: in den Vereinigten Staaten und in Deutschland. In den USA resultierte diese Spreizung vor allem daraus, dass die Gehälter der Gutverdiener den Durchschnitt immer weiter hinter sich ließen. In Deutschland geschah das auch, so Horn. Doch zusätzlich beobachtet der Wissenschaftler seit Ende der 1990er-Jahre noch einen zweiten Bruch im Lohngefüge: Die niedrigen fielen auch im Vergleich zu den mittleren Löhnen zurück. Niedrigverdiener wurden so von der ohnehin nicht besonders starken allgemeinen Lohnentwicklung "abgehängt".

Besorgniserregend ist dabei aus Sicht des Ökonomen eine weitere deutsche Besonderheit: In der Bundesrepublik strebten nicht nur die Markteinkommen deutlich auseinander, sondern auch die verfügbaren Einkommen nach Steuern und Sozialtransfers. "Die Steuer- und Sozialsysteme haben, anders als in Italien und Japan, die von den Märkten ausgehende Tendenz zur Ungleichheit überhaupt nicht aufgefangen, sondern ungebremst auf die verfügbaren Einkommen wirken lassen", schließt Horn. "Besonders ausgeprägt ist dieser Trend seit dem Jahr 2000. Selbst der jüngste Aufschwung 2005 bis 2008, in dem sich die Ungleichheit zeitweilig etwas abschwächte, vermochte den Trend nicht zu drehen."

Der Wissenschaftler sieht einen deutlichen Zusammenhang zu den Sozial- und Steuerreformen des vergangenen Jahrzehnts und warnt vor einem "Ausfransen der Gesellschaft. Es gibt mehr Reichtum, aber auch mehr Armut". Das bedrohe nicht nur den sozialen Zusammenhalt, es belaste auch die wirtschaftliche Entwicklung, analysiert Horn. Weil sich die Masseneinkommen schwach entwickelten, lahmten während des letzten Jahrzehnts Konsum und Binnennachfrage, argumentiert Horn. Ein wesentlicher Grund, warum die Wirtschaft in Deutschland lange langsamer wuchs als bei vielen Nachbarn. Gleichzeitig suchten die Bezieher hoher Einkommen verstärkt auf den weltweiten Finanzmärkten nach vermeintlich renditestarken - und oft hoch riskanten - Anlagen.

Die Tendenz zur Einkommenspolarisierung haben die DIW-Forscher Grabka und Frick auf eine einprägsame Formel gebracht: die Schrumpfung der Mittelschicht. Die SOEP-Experten beobachten, dass in Deutschland der Anteil der Menschen, die ein mittleres Einkommen haben, seit der Jahrtausendwende zurückgeht. Darunter fassen die Wissenschaftler Mitglieder von Haushalten, die 70 bis 150 Prozent des mittleren Nettoeinkommens in Deutschland beziehen. Bei einem Alleinstehenden entsprach das zuletzt 1070 bis 2350 Euro im Monat.

Die neuesten, noch unveröffentlichten Daten der Wissenschaftler belegen, dass sich die Erosion der Mittelschicht weiter fortgesetzt hat. 2009 zählten dazu nur noch 58,7 Prozent der Bevölkerung. Zehn Jahre zuvor waren es noch mehr als 64 Prozent gewesen. Ein leichter Zuwachs im Jahr 2007 erwies sich als Ausreißer, bereits 2008 wurde die mittlere Einkommensgruppe wieder kleiner.


Gini-Koeffizient

Der Gini-Koeffizient gibt an, wie weit die tatsächliche Verteilung von dem hypothetischen Fall abweicht, dass alle Bewohner eines Landes über das gleiche Einkommen verfügen. Er kann zwischen Null und Eins liegen - Null bedeutet absolute Gleichverteilung, eins maximale Ungleichheit. Hier entfiele das gesamte Einkommen auf nur eine Person.

Der Entwicklungsbericht der UNO verzeichnet die weltweit ungleichste Einkommensverteilung in Lateinamerika und im südlichen Afrika. Hier kommen in zahlreichen Ländern Gini-Werte zwischen 0,5 und 0,6 vor.

  • Die Mittelschicht schrumpft seit der Jahrtausendwende kontinuierlich. 2009 zählten dazu nur noch 58,7 Prozent der Bevölkerung. Zehn Jahre zuvor waren es noch mehr als 64 Prozent gewesen. Ein leichter Zuwachs im Jahr 2007 erwies sich als Ausreißer, bereits 2008 wurde die mittlere Einkommensgruppe wieder kleiner. Zur Grafik
  • Die Schere bei den Einkommen hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten in Deutschland besonders weit geöffnet. Steuer- und Sozialsystem gleichen die gewachsene Ungleichheit nicht aus. Zur Grafik
  • Auch der Vergleich mit USA und Japan bestätigt: Die Schere bei den Einkommen hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten in Deutschland besonders weit geöffnet. Zur Grafik

Gustav A. Horn: Des Reichtums fette Beute. Wie die Ungleichheit unser Land ruiniert. Campus Verlag, Frankfurt 2011

Joachim R. Frick, Markus M. Grabka, Richard Hauser: Die Verteilung der Vermögen in Deutschland. Edition Sigma, Berlin 2010

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