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Magazin Mitbestimmung

: Gewerkschafter in internationaler Mission - Helmut Lense, der Netzwerker

Ausgabe 06/2010

Helmut Lense verantwortet beim Internationalen Metallgewerkschaftsbund IMF den Bereich Automotive. Von Stefan Scheytt

STEFAN SCHEYTT ist Journalist in Rottenburg bei Tübingen/Foto: Cira Moro

An einem langen Tisch in einem schmucklosen Verwaltungsgebäude in Genf sitzen 18 Menschen aus 13 Nationen, einer von ihnen ist Helmut Lense, ein schmaler Mann Ende fünfzig, er trägt Jeans und ein blaues Hemd ohne Krawatte, die Ärmel sind hochgekrempelt. Auf Englisch mit schwäbischem Einschlag gibt er bei der wöchentlichen Montagskonferenz des Internationalen Metallgewerkschaftsbunds (kurz IMF) einen kurzen Bericht seiner zurückliegenden Türkei-Reise. Lense erzählt, wie er bei einer türkischen Tochter des Stuttgarter Automobilzulieferers Mahle eine Vereinbarung aushandelte, die in Zukunft verhindert, dass dort die Organisationsarbeit einer IMF-Gewerkschaft behindert wird; die Firmenleitung hatte - wie in der Türkei oft praktiziert - die zumindest an der Spitze kaum demokratische Gewerkschaft Türkmetall in den Betrieb geholt, um die Kollegen der IMF-Gewerkschaft Birlesik Metal hinauszudrängen.

WELTVERBAND STATT ALTERSTEILZEIT_ Helmut Lense war 15 Jahre lang Betriebsratsvorsitzender des Mercedes-Benz-Stammwerks in Stuttgart-Untertürkheim, dazu Mitglied des Konzern-, des Europäischen und des Weltbetriebsrats der Daimler AG, in deren Aufsichtsrat er außerdem saß. Mit 57 bekam er das Angebot, Director Automotive beim IMF zu werden und damit den größten Bereich des Verbands zu leiten. Lange Jahre war der Posten in US-amerikanischer Hand, mit Lense bekleidet ihn erstmals ein ehemaliger Betriebsrat. Bei Daimler wäre Helmut Lense mit 60 in die Altersteilzeit gegangen, zu früh, wie er fand. "Außerdem wollte ich immer schon etwas Internationales machen, bei Daimler war das doch sehr begrenzt." In Untertürkheim arbeiteten ihm drei Sekretärinnen und zwei Assistenten zu, in seinem neuen Job sitzt er ganz allein in seinem Büro im sechsten Stock des IMF, zwei Kolleginnen unterstützen ihn von Fall zu Fall, etwa bei der Reiseplanung. "Der IMF mit seinen 25 Kollegen in Genf und sechs Auslandsbüros ist eine sehr kleine, effektiv arbeitende Organisation", sagt der Schwabe mit anerkennendem Unterton über seinen neuen Arbeitgeber.

Für Helmut Lense ist der Wechsel von Daimler zum Gewerkschaftsweltverband ein Aufbruch zu bekannten Ufern. Denn an vielen Stellen kann er sein altes Netzwerk in die Automobil- und Zuliefererindustrie aktivieren. Wie bei der türkischen Mahle-Tochter. Nicht nur, dass der dortige Gewerkschaftskollege von Birlesik Metal ein früherer Betriebsrat von Daimler in Sindelfingen war. Bei seiner Reise nach Izmir hatte Lense auch der Betriebsratschef von Mahle in Stuttgart begleitet, außerdem ein hochrangiger Personaler aus der Hauptverwaltung, "für den außer Frage stand, dass Mahle sich keine Repressionen gegen eine demokratische Gewerkschaft leisten kann". Im Raum stand sonst die Möglichkeit, dass Daimler über die Zustände bei seinem Zulieferer informiert wird - und mit Daimler hat der IMF ein sogenanntes International Framework Agreement (IFA) abgeschlossen, das den Autobauer auch in die Pflicht für seine Zulieferer nimmt. "Ich bin überzeugt, dass dem örtlichen Geschäftsführer die Vereinbarung völlig gegen den Strich ging", sagt Lense, der die Vereinbarung selbstverständlich in Stuttgart vorverhandelt hatte.

EIN HEBEL NAMENS IFA_ Den Abschluss solcher IFAs nennt Helmut Lense eine seiner großen Aufgaben beim IMF. 2002 unterzeichnete der Weltverband seine erste derartige Vereinbarung in der Automobilindustrie mit Volkswagen, seither folgten fast 20 weitere. Sie binden das Unternehmen nicht nur an die Konventionen der internationalen Arbeitsorganisation ILO; sie sind außerdem ein guter Hebel, um über die Konzernzentralen Druck auf Zulieferer, Unterlieferanten und Unternehmenstöchter oder -beteiligungen auszuüben. "IFAs verändern nicht von heute auf morgen den Alltag von Arbeitnehmern, damit wird kein Werk automatisch organisiert; aber sie sind ein erster Schritt in die richtige Richtung", sagt Lense, der Pragmatiker. Gerade ist er dabei, mit Gewerkschaftern und Betriebsräten vor Ort bei MAN und bei Ford in den USA solche Vereinbarungen abzuschließen.

Sein zweites großes Thema sind globale, formalisierte Netzwerke. Beim IMF-Kongress 2009 in Göteborg hatte Helmut Lense, der sonst ein ausgleichender, eher leiser Mann ist, in einer pointierten Rede dafür geworben - nicht ahnend, dass er bald selbst zum IMF wechseln würde. Unter den Mitgliedsgewerkschaften gab und gibt es einige, die solche Treffen als unnütz abtun, weil doch oft nichts Konkretes abfiele; andere sehen ihre Unabhängigkeit gefährdet, wenn Arbeitgeber solche Treffen bezahlen. Doch Lense hält dagegen: "Es ist ein Zeichen für unsere Stärke, wenn Arbeitgeber das finanzieren müssen. Auch Arbeitgeber zahlen ihre internationalen Treffen nicht aus eigener Tasche", sagt der gelernte Werkzeugmacher. Solche Netzwerke, die als Quasi-Weltbetriebsrat Arbeitnehmerinteressen eines globalen Unternehmens zusammenführen, hält Lense für äußerst wichtig. So versucht er gerade mit Unterstützung des Regionalbüros in Neu Delhi, die Indien-Standorte von Bosch besser zusammenzuschließen und enger an die Arbeitnehmervertreter in Stuttgart anzubinden. Aus eigener Erfahrung weiß er, wie wenig Zeit Betriebsräten vor lauter Tagesgeschäft oft bleibt, auch noch solche Themen zu bearbeiten. "Ich fange an zu erleben, wie man auch in schwierigen Ländern durch ganz konkrete Arbeit die Sache der Gewerkschaften nach vorne bringen kann", sagt Lense.

FERNZIEL WELT-KONVENT_ Aber auch über Unternehmensgrenzen hinweg will Lense Arbeitnehmervertreter zusammenführen. Gerade hat er ein erstes vorbereitendes Treffen von Betriebsräten mehrerer deutscher Automobilhersteller in Wolfsburg organisiert; später will er das in Brüssel auf europäischer Ebene wiederholen und dann ein Steering Committee bilden, das einen globalen Konvent mit allen großen Herstellern und Zulieferern vorbereitet. Mögliche Themen hat Helmut Lense schon einmal auf einer Agenda zusammengefasst: Netzwerkbildung; IFAs; internationale Kampagnen zu Themen wie Leiharbeit; Patenschaften für entwicklungsfähige Regionen wie Indien und China; neue Antriebstechnologien ... "Das soll aber nicht einfach ein Konvent werden, sondern ein Treffen, das einen konkreten Fahrplan für die nächsten Jahre erarbeitet", sagt Lense. Er schaut auf seinen IG-Metall-Terminkalender an der Wand, daneben hängt ein Wimpel von Birlesik Metal, den er aus der Türkei mitgebracht hat. Auf dem Kalender stehen Termine in Frankfurt, Detroit, St. Petersburg, Mexiko und Brüssel, ganz so, wie es sich Lense gewünscht hat als neuer "Internationaler". "Und morgen", sagt Lense, "morgen schaut Bob King vorbei", der designierte neue Präsident der amerikanischen UAW und Nachfolger von Ron Gettelfinger. "Das wird eine gute Gelegenheit sein zu besprechen, wie wir möglichst viele Amerikaner mit ins Boot holen."


International Metalworkers' Federation
Der IMF

Der 1893 gegründete Internationale Metallgewerkschaftsbund IMF ist einer der größten und ältesten globalen Gewerkschaftsverbände. Er vertritt die kollektiven Interessen von 25 Millionen Metallarbeitnehmern in über 200 Gewerkschaften in 100 Ländern. Präsident des IMF ist seit Mai 2009 IG-Metall-Chef Berthold Huber (die IG Metall ist auch größter Einzelzahler des Verbands), Generalsekretär ist der Finne Jyrki Raina. Neben Helmut Lenses Automobil-Bereich gibt es noch die Bereiche Stahlindustrie, Maschinenbau, Schiffbau, Luft- und Raumfahrt, Elektro- und Elektronikindustrie sowie Buntmetallindustrie und Erzbergbau. Der IMF unterhält neben der Zentrale in Genf Regionalbüros in Neu Delhi, Malaysia, Uruguay, Johannesburg und Moskau.


Mehr Informationen

Aktionen, Events und Rahmenvereinbarungen des IMF auf Englisch, aber auch einige Infos auf Deutsch finden Sie unter www.imfmetal.org

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