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Magazin Mitbestimmung

: Gewerkschafter in internationaler Mission - Roland Schneider, der Kritiker

Ausgabe 06/2010

Roland Schneider ist Sekretär des gewerkschaftlichen Beratungsausschusses TUAC bei der OECD. Von Cornelia Girndt

Heute Morgen ist Roland Schneider wieder mit einem dieser Pariser Leihfahrräder durch die verkehrsreiche Stadt zum TUAC-Büro geradelt. 15 Minuten und zwölf Sekunden sind seine Bestzeit vom 7. Arrondissement, wo er in einer kleinen Wohnung mit hoher Miete lebt, aber er blickt auf Sacré-Cœur, und es ist Paris. Eine Stadt, die jedes Jahr 46 Millionen Menschen besuchen - die meistbesuchte Stadt der Welt. Roland Schneider hat immer Strukturdaten parat. Er ist nämlich seit zwölf Jahren Sekretär bei TUAC, dem gewerkschaftlichen Beratungsausschuss bei der OECD, einer Organisation, der inzwischen 31 Länder angehören, die nahezu 2000 Ökonomen und Statistiker beschäftigt, um die Besten und deren "Best Practice" zu ermitteln. Ziel der Länder-Rankings ist, diejenigen anzutreiben, die schlechter abgeschnitten haben. Alles im Namen von liberaler marktwirtschaftlicher Entwicklung und Demokratie.

In einer dieser sternförmigen Straßen, die zum Triumphbogen führen, liegt das TUAC-Office, 15 rue La Pérouse - nüchterne Büros, eingelassen in ein Gründerzeithaus. Roland Schneider telefoniert: Es geht um seine bevorstehende Koreareise. Seit 14 Jahren ist Korea OECD-Mitglied, aufgenommen in den exklusiven Club, der für sich auch beansprucht, Demokratie und Menschenrechte zu fördern. Doch reihenweise werden in Korea führende Gewerkschafter wegen vermeintlich geschäftsschädigendem Verhalten ("obstruction of business") zu Gefängnis verurteilt. "Korea", erklärt Roland Schneider, "ist meine Rennstrecke, ich bin drei- bis viermal im Jahr in Seoul." Dort wird er sich nächste Woche mit Vertretern der Sozialparteien beraten, Abgeordnete treffen. Und er wird auf Pressekonferenzen sagen, dass TUAC den OECD-Generalsekretär Ángel Gurría aufgefordert hat, Korea zu rügen und den Gruppendruck der 30 Mitgliedsstaaten zu verstärken, um diese antigewerkschaftliche Praxis und Gesetzgebung zu stoppen.

Roland Schneider schaut über Papierstapel. Sicher, Kern der Arbeit der OECD ist es, Wirtschaftswachstum zu beflügeln. Aber soziale Marktwirtschaft ist da nicht der Kompass. Roland Schneider kritisiert diese ökonomistische Orientierung, die ideologische Haltung. "Leider hat die OECD aus der aktuellen Krise so gut wie nichts gelernt", sagt er in aller Deutlichkeit. Eine Organisation, die in der Arbeitsmarktpolitik seit 1994 ständig behauptete, Deutschlands Beschäftigungshemmnisse seien der Kündigungsschutz und die Arbeitslosenunterstützung. "Von daher", spitzt Roland Schneider zu, "könnte die OECD durchaus das Urheberrecht für die Hartz-Reformen für sich reklamieren." "Oft funktioniert das wie bei einer Unternehmensberatung", sagt er. "Die OECD empfiehlt Regierungen das, was sie sich von alleine nicht zu tun trauen."

IWF ZU BESUCH_ Es klingelt. In den engen Flur treten Ravi Balakrishnan und Prakash Kannan, so makellos und knitterfrei, als hätten sie sich auf dem Weg hierher auf den Champs-Elysées frisch eingekleidet. Es ist für den TUAC-Sekretär eine erfreuliche Premiere. Zwei Ökonomen vom Internationalen Währungsfonds, Washington D.?C., sind gekommen, um mit ihm das Beschäftigungskapitel des neuesten IWF-Weltwirtschaftsausblicks zu diskutieren. Gestern waren sie beim EGB in Brüssel. Kannan ist Harvard-Absolvent. Balakrishnan hat sein Ph.?D. an der London School of Economics gemacht und als IWF-Senior-Expert Wege aus den Schuldenkrisen in Bolivien und Argentinien verhandelt. So gesehen sind die beiden Ökonomen nicht die natürlichen Freunde von Gewerkschaften.

Doch der Wind hat sich gedreht. "Der IWF hat Ende 2008 eine überzeugende Blaupause für Konjunkturprogramme gegen die Krise vorgelegt und die makroökonomische Debatte belebt", bemerkt Schneider anerkennend. Und IWF-Chef Strauss-Kahn und der Chef der Beschäftigungsabteilung schicken ihre Leute jetzt auch zu Gewerkschaften.

Ravi Balakrishnan spricht schnell und legt ein paar Minigrafiken auf den Tisch. Die Ökonomen sind perplex: Wirtschaftsleistung und Beschäftigung korrelieren nicht in allen Ländern. Vor allem Deutschland ist der absolute Ausreißer: Die Wirtschaft schrumpft um sieben Prozent, und die Arbeitslosigkeit - sie geht zurück! Ihre Annahme: Kurzarbeit, vom Staat finanziert, habe dieses Wunder ermöglicht. Roland Schneider ist in seinem Element. "Sorry, but your analysis fails to explain what happened in Germany", sagt er - der Werkzeugmacher, Fertigungsingenieur und Politikwissenschaftler - und erklärt das deutsche Produktionsregime und die industriellen Beziehungen. Sagt, dass Arbeitszeitkonten mindestens so wichtig waren wie die Kurzarbeit, dass auch die Arbeitgeber ihr qualifiziertes Personal halten wollten und von daher die Remanenzkosten kräftig mitfinanzierten. Dabei untermauert er seine Argumente mit einer Analyse von Deutsche Bank Research genauso wie mit Ergebnissen der WSI-Forschung. Um zum Abschied den IWF-Ökonomen ein paar Themen mit auf den Weg zu geben: Mindestlohn, Armut trotz Arbeit und Jugendarbeitslosigkeit. Die beiden sagen artig "Nice meeting" und wie wichtig es doch immer wieder für sie sei, "verschiedene Positionen einzuholen".

Schneider ist zufrieden mit dem Treffen: Er erkennt an, dass die IWF-Ökonomen in Übereinstimmung mit den Fakten argumentieren. Das sei nicht selbstverständlich. Bei der OECD hat er schon Leute erlebt, die "die Wirklichkeit nach ihrer Ideologie gestalten wollen", wenn etwa Länder wie die Schweiz, Japan und Korea als angelsächsisch deklariert wurden, nur weil man Mehrheiten für bestimmte politische Schlussfolgerungen brauchte.

DAVID GEGEN GOLIATH_ Umso wichtiger, dass die TUAC-Leute finanziell von der OECD unabhängig sind. Doch gerade mal fünf hauptamtliche Gewerkschafter und Gewerkschafterinen stehen mit dem Trade Union Advisory Committee (TUAC) dem Riesenapparat der OECD gegenüber. Sie decken Schwachstellen auf und präsentieren wissenschaftlich fundierte Gegenargumente. Ein David gegen Goliath. Da muss einer zäh und unermüdlich sein - wie Roland Schneider, der standhaft aussieht wie vor 20 Jahren, als er erst am WSI, dann beim DGB-Bundesvorstand arbeitete. Einer, der in einer Gruppe nicht unbedingt auffällt, aber immer präsent ist. Einer, der drei Stunden am Stück reden kann und Fragen (und sei es die nach der besten U-Bahn-Verbindung) mit erstaunlicher Geduld abarbeitet. In diesem Jahr ist er 60 geworden und einer der wenigen deutschen Akteure auf dem internationalen Parkett. Auch durch die institutionelle Einbindung in das, was die OECD ist - eher eine ständig tagende Konferenz und eben keine supranationale Organisation. Roland Schneider wird am Nachmittag schon im neuen OECD-Conferenz-Center neben dem Château de la Muette, dem Sitz der OECD, erwartet. Heute kommt in Saal fünf wieder einmal die TUAC-Arbeitsgruppe zu Bildung und Beschäftigung zusammen. Schneider hat das Programm gemacht für einen Kreis von rund 50 Vertretern aus Bildungs- und TUAC-Mitgliedsgewerkschaften, darunter Japaner, Kanadier, US-Amerikaner und viele Skandinavier.

Die bildungspolitischen Analysen der OECD zielen auf ein umkämpftes Politikfeld. Man denke an PISA und die Erschütterungen, die die OECD-Studie auslöste, weil Deutschlands 15-Jährige mit ihren Kenntnissen nur im Mittelfeld lagen - kurz vor Mexiko. Danach weigerte sich die deutsche Kultusministerkonferenz, bei der Lehrer-Kompetenz-Studie TALIS mitzumachen. Was wiederum Marianne Demmer vom GEW-Vorstand motivierte, eine eigene TALIS-GEW- Befragung unter den Mitgliedern zu veranstalten. Deren Ergebnisse sie hier ihren Kollegen vorstellt.

Alle zwei Stunden begrüßt Roland einen neuen Projektleiter aus der OECD-Bildungsforschung und bittet ihn, sein Projekt vor dem Kreis der Fachleute aus der realen Bildungswelt vorzustellen. Und eine muntere Debatte geht los. Etwa um das Projekt AHELO (eine Art Pisa-Test für Studenten), das "groundbreaking" sei, so die Forscherin, und einen weltweiten Vergleich der Lernergebnisse von graduierten Studenten vorbereiten will. Was einen irischen Gewerkschafter veranlasst, fast verzweifelt zu fragen: "Was, bitteschön, soll das denn bringen?" Während sein französischer Kollege klagt: "Warum macht ihr denn immer noch weiter mit Ländervergleichen, die den kulturellen Kontext komplett ignorieren?"

Trotz aller Kritik - gern wird der Ball aufgenommen. Neben Roland Schneider steht in der Pause Roar Grottvik von der norwegischen Bildungsgewerkschaft. "Für uns ist das ein wichtiger Kreis", sagt der Norweger, "wir können uns international austauschen, und es bringt uns den Respekt unserer Regierung ein. Weil wir schon früh wissen, was da an internationalen OECD-Studien auf unser Land zukommt."

Nun sind die eineinhalb Konferenztage vorbei. Roland Schneider schnappt seine Reisetasche, er muss zügig zum Flughafen, weil er sich morgen bei einer ILO-Konferenz in Berlin über Beschäftigungsfolgen der Krise informieren will. Danach geht es nach Korea. Wieder zwei Tage Paris. Dann wieder Berlin. "Wir sehen uns beim DGB-Kongress", ruft er zum Abschied. "Sofern sie mich nicht in Korea festhalten."

Foto: Cornelia Girndt

Mehr Informationen

INFOSEITEN ZUR OECD auf Deutsch - mit Links zu den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen - findet man unter http://de.wikipedia.org/wiki/OECD

Informationen über die ERGEBNISSE VON OECD-ANALYSEN finden sich unter www.oecd.org/deutschland

Die TUAC hat eine eigene Website unter www.tuac.org
(auf Englisch).

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