zurück
Magazin Mitbestimmung

: Ein politischer Prozess gegen Lehrer

Ausgabe 06/2010

TÜRKEI Kurdische Lehrer und zunehmend auch Kinder werden verhaftet. Die GEW war vor Ort bei ihrer türkischen Partnergewerkschaft Egitim Sen. Von Manfred Brinkmann

MANFRED BRINKMANN ist Leiter der Abteilung Internationales der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)/Foto: Kay Herschelmann

Vor dem Verhandlungssaal des türkischen Strafgerichtshofs in der Hafenstadt Izmir drängt sich am 19. November ein Pulk von Menschen. Als internationaler Prozessbeobachter der GEW habe ich Einlass gefunden. Mit mir sind Kollegen von der Bildungsinternationale aus Frankreich, Dänemark und Großbritannien angereist. In Izmir sind 21 Männer und zehn Frauen unserer Partnergewerkschaft Egitim Sen und des Dachverbands KESK der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes angeklagt. Egitim Sen ist die einzige von drei türkischen Lehrergewerkschaften, die sich für die Rechte von Kurden einsetzt. Den Verhafteten wird vorgeworfen, Mitglied der verbotenen PKK und anderer Organisationen zu sein, die des Terrorismus verdächtig sind. Bei einer Verurteilung drohen ihnen bis zu zehn Jahre Haft.

Im April 2009 hatten Polizeikräfte in mehreren türkischen Städten Gewerkschaftshäuser und Büros von Egitim Sen und KESK durchsucht und Computer und Infomaterial beschlagnahmt. Etwa 40 Personen wurden verhaftet und ins Gefängnis nach Izmir gebracht, wo die meisten ein halbes Jahr auf ihre Anklage und den Prozessbeginn warten mussten. Die Egitim-Sen-Vorsitzende Sübeyde Kiliç kritisiert, dass es bei dem Verfahren in Izmir nur vordergründig um die Kurdenproblematik geht. "Hier wird ein politischer Prozess gegen uns geführt. Die Regierung bekämpft uns, weil wir für Arbeitnehmerrechte und gegen das Streikverbot im öffentlichen Dienst eintreten. Wir setzen uns für den Erhalt des öffentlichen Bildungswesens ein, und wehren uns dagegen, dass Arbeitnehmer die Kosten der Krise bezahlen."

Gegen die Inhaftierungen hatte es internationale Proteste von Menschenrechts- und Frauenorganisationen gegeben. Auch heute zum Prozessbeginn wird vor dem klotzigen Gebäude des Zehnten Strafgerichtshofs in Izmir protestiert. Mehrere Hundert Mitglieder von KESK und Egitim Sen sind gekommen, um für die Freilassung ihrer Kolleginnen und Kollegen und gegen den Angriff des Staates auf ihre Gewerkschaften zu demonstrieren. Es ist nicht das erste Mal, dass Egitim Sen vom türkischen Staat verfolgt wird. In den 90er Jahren wurde die Bildungsgewerkschaft mehrfach mit Verbot bedroht, weil sie für das Recht auf muttersprachlichen Unterricht und eine friedliche Lösung der Kurdenfrage eintritt.

GEWERKSCHAFTSFRAUEN IM VISIER_ Im Gerichtssaal in Izmir schauen alle auf die drei Richter in schwarzen Roben mit rotem Kragen. Der Vorsitzende Richter zitiert die Anklageschrift, nach der die Angeklagten unter dem Deckmantel gewerkschaftlicher Tätigkeit für die PKK und ihre Tarnorganisationen gearbeitet haben sollen. Zum Beweis werden abgehörte Telefonate, abgefangene E-Mails, die Teilnahme an Versammlungen, Reisen in die Kurdenregionen, Besuche von Internetseiten oder der Kauf von Zeitungen angeführt. Besonders im Visier der Staatanwaltschaft ist die Arbeit der Gewerkschaftsfrauen. Ihnen wird vorgeworfen, Geld für Kurdenorganisationen gesammelt und sich für den Unterricht in kurdischer Sprache eingesetzt zu haben. Unter den in Izmir Inhaftierten sind die Frauensekretärinnen von Egitim Sen und KESK, Gülçin Isbert und Songül Morsunbul.

Die Angeklagten werden von starken Polizeikräften bewacht. Detailliert setzen sie sich gegen die Kriminalisierung ihrer gewerkschaftlichen Arbeit zur Wehr. Spät nach Mitternacht des zweiten Verhandlungstages treffen die Richter eine Entscheidung: Der Haftbefehl wird aufgehoben, die Gewerkschafter kommen zunächst frei. Unter den Zuschauern im Gerichtssaal bricht spontaner Beifall aus. Doch der Prozess ist nicht beendet. Das Verfahren soll jetzt am 22. Juni 2010 fortgesetzt werden.

HIN UND HER IN DER KURDENPOLITIK_ Der Prozess gegen die Gewerkschafter konterkariert die Versprechungen der Regierung gegenüber den 15 Millionen Kurden im Land. So hatte die regierende AKP im türkischen Parlament angekündigt, Kurdisch im öffentlichen und politischen Leben wieder zuzulassen. Die Städte sollten ihre kurdischen Namen bekommen, kurdischsprachige Medien sollten Senderechte erhalten und Unterricht in kurdischer Sprache erteilt werden dürfen. Doch kaum vier Wochen später entschieden die elf Richter des Obersten Verfassungsgerichtes in Ankara einstimmig, dass die pro-kurdische Partei DTP - die wichtigste politische Interessenvertretung der Kurden im Parlament und in zahlreichen Kommunen - verfassungsfeindlich sei und verboten werden muss.

Derartige Parteienverbote sind nicht ungewöhnlich in der Türkei. Vor zwei Jahren war die Regierungspartei AKP selbst von einem Verbotsantrag bedroht. Ihr wurde vorgeworfen, sie wolle die Türkei zum islamistischen Gottesstaat machen. Die vom Verbot betroffenen Parteien reagierten bisher meist durch Neugründung unter anderem Namen. So auch die Kurdenpartei DTP, die sich jetzt BDP nennt und besonders im Osten des Landes, den traditionellen Siedlungsgebieten der Kurden, große Unterstützung der Bevölkerung genießt. In fast 90 Kommunen stellt sie den Bürgermeister, auch in der Millionenstadt Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt der Kurden.

GEW-DELEGATION IN KURDISTAN_ Dort sind wir in der Woche vor Ostern 2010 mit einer Delegation des GEW-Vorstands. Wir besuchen Schulen und wollen mit Lehrern von unserer Partnergewerkschaft Egitim Sen sprechen. Dass die Lehrergewerkschaft sich für die Rechte der Kurden einsetzt bringt ihr viel Ärger ein, mit dem türkischen Staat und mit den beiden konkurrierenden, nationalistisch und islamistisch ausgerichteten Bildungsgewerkschaften. Abdullah Karahan ist Vorsitzender der Egitim Sen in Diyarbakir und vertritt über 5000 Mitglieder. Die große Mehrheit der Lehrer in der Kurdenmetropole ist Mitglied der Egitim Sen. "Der Krieg gegen die PKK hat großes Leid gebracht", berichtet Abdullah Karahan. "Viele Menschen wurden aus ihren Dörfern vertrieben und sind in die Städte geflohen. Gewerkschafter wurden getötet oder von den Sicherheitskräften verhaftet. Ich selber wurde mehrfach angeklagt und inhaftiert." Drei Jahrzehnte Gewalt, Vertreibung und Diskriminierung haben die Kurdenregionen zum Armenhaus der Türkei gemacht. Die dynamische Wirtschaftsentwicklung, die das Land vor der Finanzkrise erlebte, ist am Osten der Türkei vorbeigegangen.

Die soziale Lage der Bevölkerung ist prekär. Viele Flüchtlinge strömten in die Stadt Diyarbakir, deren Einwohnerzahl sich innerhalb weniger Jahre auf eine Million verdoppelte. In der strukturschwachen Region finden die Menschen kaum Arbeit. Viele leben an der Armutsgrenze, Kinderarbeit ist weit verbreitet. Der Egitim-Sen-Kollege Hikmet Korkmaz beklagt die schlechte Ausstattung der Schulen: "Viele Klassen sind überfüllt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ich mehr als 60 Schüler unterrichten muss. Unter diesen Bedingungen kann man keinen guten Unterricht machen." Dazu kommt: "Die Kinder sprechen Kurdisch, aber ich soll sie auf Türkisch unterrichten." Zu Unterrichtsbeginn müssen die Schüler jeden Morgen den Eid auf das Türkentum aufsagen, der mit den Worten "Ich bin ein Türke" beginnt. Als Beamte sind die Lehrer verpflichtet, die Vorgaben des nationalen Erziehungsministeriums umzusetzen. Wer sich weigert und mit den Kindern im Unterricht Kurdisch spricht, wird zwangsversetzt oder mit Gefängnis bedroht.

KINDER IN GEFÄNGNISSEN_ Doch nicht nur Erwachsene geraten ins Fadenkreuz von Militär und Justiz, wenn es um die vermeintliche Bekämpfung terroristischer Gefahren geht. Wir treffen uns mit Schülerinnen und Schülern des von Egitim Sen und GEW geförderten Projekts "Flüchtlingskinder Diyarbakir". Das Projekt unterstützt über 100 Kinder aus armen Flüchtlingsfamilien mit Geld und Lernmaterialien, damit sie zur Schule gehen und einen Abschluss machen können, statt als Straßenhändler oder Schuhputzer zu arbeiten oder Drogen zu verkaufen. Etwa 40 Kinder und ihre Eltern berichten uns vom alltäglichen Elend in den Flüchtlingsfamilien. Oft fehlt es am Notwendigsten. Manche haben nicht einmal Geld, um regelmäßig zu essen. Die Mütter sind oft alleinerziehend - die Väter sind geflohen, im Gefängnis oder in den Bergen bei der PKK. Ein 15-Jähriger berichtet, dass er kürzlich nach sechsmonatiger Haft aus dem Gefängnis entlassen wurde. Der Junge ist ein sogenanntes "Steinewerferkind". Sein Vergehen ist, dass er Polizisten provoziert und mit Steinen beworfen hat.

Nach türkischer Rechtsprechung können solche Kinder bereits ab zwölf Jahren wegen Unterstützung terroristischer Organisationen angeklagt und verurteilt werden. "Hunderte Kinder sitzen in der Türkei im Gefängnis und werden wie Schwerverbrecher behandelt", berichtet die "Süddeutsche Zeitung" (SZ) Ende April. Und warnt vor einer sich aufschwingenden Spirale der Gewalt wie in Palästina, weil, so ein Anwalt gegenüber der SZ, die PKK die Kinder instrumentalisiert und der Staat sie sofort ins Gefängnis wirft - was ein Bruch der UN-Kinderrechtskonvention ist.

Der Egitim-Sen-Vorsitzende Abdullah Karahan berichtet, dass mehr als 60 Kinder im Alter zwischen zwölf und 17 Jahren im Gefängnis von Diyarbakir ihre Strafen absitzen. Sie sind dort vielfältigen Misshandlungen ausgesetzt. Die Ernährung ist mangelhaft. Ein großes Problem ist: Da die Jugendlichen im Gefängnis nicht unterrichtet werden, finden sie nach ihrer Entlassung häufig keinen Anschluss in der Schule. In der Türkei sind nach Informationen der Gewerkschaft rund 3000 politische Anklagen gegen Minderjährige anhängig. Oft werden die Kinder in nicht öffentlichen Schnellverfahren zu langen Haftstrafen verurteilt. Die Anklagepunkte ähneln sich: Beleidigung von Polizisten, Werfen von Steinen auf Sicherheitskräfte, Vermummen auf Demonstrationen oder Spreizen von Zeige- und Mittelfinger zum Victory-Zeichen, das als Sympathiebekundung für die PKK gilt. Die Kriminalisierung der Kinder schürt deren Hass auf die Sicherheitskräfte des türkischen Staates und heizt die Gewalt in den Kurdenregionen weiter an.

Egitim Sen fordert daher ihre Freilassung. "Kinder sind keine Terroristen und gehören nicht ins Gefängnis", so Abdullah Karahan. Die Taten der Kinder seien Ausdruck der Verzweiflung und eine Reaktion auf ihre fehlenden Lebensperspektiven. Die Gewerkschafter der Egitim Sen haben wenig Hoffnung, dass sich die Situation der kurdischen Minderheit unter der AKP-Regierung verbessert. "Den Ankündigungen der Regierung folgen keine Taten", beklagt der Lehrer Hikmet Korkmaz. "Die Menschen hier sehnen sich nach Frieden. Doch den wird es nur geben, wenn die Rechte der Kurden garantiert werden."

Foto: Manfred Brinkmann

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen