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Magazin Mitbestimmung

: An den Grenzen der Belastbarkeit

Ausgabe 01+02/2010

GESUNDHEIT Die Krise hat auch den Gesundheitssektor erreicht. Die ersten Kassen verlangen Zusatzbeträge. Reformpläne der Regierung stoßen auf die Kritik der Gewerkschaften. Von Ingmar Höhmann

 INGMAR HÖHMANN ist Journalist in Köln/Foto: ddp

Die Hilfe kommt per Gesetz: Dank der üppigen Ausstattung des Konjunkturpakets II können Kliniken in ganz Deutschland viel Geld in die Hand nehmen, um ihre Gebäude und die Technik auf den neuesten Stand zu bringen. Der Bund zeigt sich spendabel: 1,2 Milliarden Euro erhalten die Einrichtungen für Investitionen. Das Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen in Bad Oeynhausen etwa schafft einen neuen Computertomografen für mehr als eine Million Euro an, die Berliner Klinikkette Vivantes steckt sieben Millionen Euro in Anlagen und technische Ausrüstung, die Ruppiner Kliniken in Brandenburg sanieren ihre kardiologische Abteilung für fast neun Millionen Euro.

Während Unternehmen in anderen Wirtschaftszweigen den Rotstift ansetzen, scheint die Gesundheitsbranche von der Krise unbeeindruckt - von einbrechender Nachfrage kann keine Rede sein. "Das System der Kranken- und Pflegeversicherung dämpft die Krise durch die konjunkturunabhängige Nachfrage und wirkt so antizyklisch", sagt Stefan Greß, Professor für Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie an der Hochschule Fulda. Doch das könnte sich bald ändern - für dieses Jahr rechnen Wirtschaftswissenschaftler mit steigenden Arbeitslosenzahlen. Unter anderem werden viele Firmen wohl nicht mehr auf das Instrument der Kurzarbeit zurückgreifen und Mitarbeiter entlassen.

Mit Zeitverzögerung trifft die Krise dann die Versicherer mit voller Wucht: Weil bei steigender Arbeitslosenquote die Zahl der Beitragszahler sinkt, werden auch die Einnahmen der Kassen geringer ausfallen. "Die stabilisierende Wirkung des Gesundheitssystems endet, wenn die Krise länger als ein bis zwei Jahre andauern sollte", sagt Ökonom Greß. "Und diesen Zeitpunkt haben wir bald erreicht." Dann gerät auch der erst Anfang 2009 ins Leben gerufene Gesundheitsfonds unter Druck, den die damalige Große Koalition noch als zukunftsweisendes Reformwerk gefeiert hatte.

ES FEHLEN VIER MILLARDEN EURO_ Für das Jahr 2009 rechnet der Schätzerkreis, ein Expertengremium, das die Kostenentwicklung der Krankenversicherung bewerten soll, mit Ausgaben in Höhe von 167,3 Milliarden Euro - in diesem Jahr sollen sie auf mehr als 174 Milliarden Euro steigen. Für die Finanzierung kommen in erster Linie die Beitragszahler auf - die sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeber.

Ihre Zahl ist bisher relativ konstant geblieben - der deutsche Arbeitsmarkt zeigt sich krisenresistent. Im Dezember stieg die Zahl der Erwerbslosen lediglich um 60.000 auf 3,276 Millionen, und damit liegt die Quote immer noch bei unter acht Prozent. Die weiterhin hohe Beschäftigung in Deutschland beschert Kranken- und Pflegekassen eine stabile Finanzierungsgrundlage. Für die deutsche Wirtschaft war das bislang ein Segen, denn die Ausgaben der Krankenkassen bleiben im Land und stützen den privaten Konsum. Nicht zuletzt profitiert davon wiederum der Arbeitsmarkt, denn Pflegedienste und Hospitäler brauchen viel Personal: Das Gesundheitswesen bietet mehr als 4,4 Millionen Menschen in Deutschland Arbeit.

Doch das System der Kranken- und Pflegeversicherung gerät in Finanzierungsnöte. Die Bundesagentur für Arbeit erwartet, dass die Zahl der Erwerbslosen im Herbst vier Millionen erreichen wird - mit entsprechenden Folgen . So erwartet der Schätzerkreis der Krankenversicherung, dass in diesem Jahr rund vier Milliarden Euro fehlen werden. "Wenn es nicht gelingt, die Ausgaben bei gleichbleibender Versorgungsqualität zu senken, dann müssen viele Krankenkassen die erwartete Milliardenlücke durch Zusatzbeiträge schließen", sagt Doris Pfeiffer, die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands. Die ersten Kassen haben damit bereits angefangen und kassieren von den Versicherten 8 Euro zusätzlich im Monat. Dem Gesundheitsfonds geht das Geld aus. In den Sammeltopf fließen die von der Regierung festgelegten Krankenkassenbeiträge, Steuergelder und Zuzahlungen der Patienten. Dann verteilt der Fonds die Einnahmen an die rund 200 Kassen in Deutschland. Die Zuweisung je Versichertem richtet sich unter anderem nach Alter und Geschlecht. Sollten die Steuerzuschüsse nicht ausreichen, müssen Beiträge und Zuzahlungen steigen - doch das verlagert Probleme nur in die Zukunft.

Noch verhindert die Regierung steigende Beiträge. Der Bund gibt dem Gesundheitsfonds in diesem Jahr einen Zuschuss von 15,7 Milliarden Euro. Auch das gilt als eine Art Konjunkturhilfe - denn so bleibt den Arbeitnehmern mehr Geld zum Konsumieren und den Arbeitgebern mehr Geld zum Investieren. Fraglich ist jedoch, wie lange der deutsche Staat den Fonds mit steigenden Zuschüssen subventionieren will. Schon die zusätzlich gewährten 3,9 Milliarden Euro, die 2010 die krisenbedingten Einnahmeausfälle der Krankenversicherung ausgleichen sollen, gelten als einmalige Hilfe.

Langfristig wird die Regierung ihr Engagement zurückfahren, will sie die eigenen Vorgaben einhalten. Wegen der Vorschriften der neu im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse muss der Bund ab 2011 seine Neuverschuldung herunterfahren. Für den Staat werde es dann noch schwerer, genügend Mittel zur Verfügung zu stellen, sagt die Verbandsvorsitzende Pfeiffer. Sie sieht die Akteure im Gesundheitswesen in der Pflicht: "In den für Beitragszahler wirtschaftlich schwierigen Zeiten kann es nicht sein, dass die Einnahmen von Pharmaindustrie, Ärzten und Krankenhäusern ungebremst steigen."

GRUNDSÄTZLICHE MÄNGEL IM SYSTEM_ Markus Lüngen vom Institut für Gesundheitsökonomie an der Universität Köln sieht grundsätzliche Mängel beim derzeitigen System. Der Gesundheitsfonds sei strukturell unterfinanziert, sagt er. Wenn der Gesetzgeber nicht eingreife, würden Einnahmen und Ausgaben immer weiter auseinanderdriften - die Wirtschaftskrise beschleunige diese Entwicklung nur. "Wir müssen gegensteuern, damit die Schwierigkeiten nicht noch viel größer werden", sagt Lüngen.

Der Gesundheitsfonds werde bald an seine Grenzen geraten, sagt auch Herbert Weisbrod-Frey, Bereichsleiter Gesundheitspolitik beim ver.di-Bundesvorstand in Berlin. "Man kann ihn nicht ungeschehen machen, und jetzt sitzt die Regierung in der Falle." Eines der zentralen Probleme sei, dass die schwarz-gelbe Koalition die Arbeitgeberbeiträge de facto eingefroren habe. Das belaste einseitig die Arbeitnehmer, sagt Weisbrod-Frey: Denn kommen Krankenkassen mit den ihnen vom Gesundheitsfonds zugewiesenen Geldern nicht aus, können sie einen zusätzlichen Beitrag von ihren Mitgliedern verlangen. Eine Dauerlösung ist das nicht, denn der Zusatzbeitrag darf ein Prozent des Einkommens nicht überschreiten. Diese Grenze wird kaum haltbar sein, wenn die Gesundheitsausgaben weiter steigen.

Eine Regierungskommission soll nun Vorschläge für die zukünftige Finanzierung des Gesundheitssystems erarbeiten. Arbeitnehmervertreter allerdings erwarten keine grundsätzliche Abkehr vom derzeitigen System - dabei sei diese dringend notwendig, stellt der DGB fest. Ansonsten stünden die Kassen nur "vor der Wahl, entweder ihre Mitglieder einseitig durch zusätzliche Beiträge zu belasten oder ihre Leistungen massiv einzuschränken. Verlierer werden in jedem Fall die Versicherten sein."

Die Bundesregierung verfolgt ihre eigenen Vorstellungen in Sachen Finanzierung. Sie hat im Koalitionsvertrag "einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträge" festgeschrieben - das sind Pauschalen, die die Versicherten zusätzlich entrichten sollen. Vor allem die FDP pocht auf einen Systemwechsel in diese Richtung. Sozialverbände stehen dem kritisch gegenüber, denn vom Lohn abgekoppelte Pauschalbeträge belasten Beschäftigte mit geringem Einkommen relativ höher als Besserverdienende.

ver.di-Experte Weisbrod-Frey vermutet, dass sich die Liberalen zumindest teilweise durchsetzen werden - und die Kopfpauschalen zum Teil des Systems werden. "Spätestens 2011 wird die Regierung auf die Finanzprobleme der Krankenversicherung reagieren und für die Arbeitnehmer zusätzliche Pauschalsätze einführen", sagt er. Die zusätzlichen Abgaben könnten dann diejenigen überfordern, die nur wenig verdienen: "Manche Versicherte werden ihre Beiträge nicht mehr zahlen können und von Sozialtransfers abhängig werden."

EINE VERSICHERUNG FÜR ALLE?_ Eine Alternative wäre das Modell der Bürgerversicherung, wie sie SPD, Linke und Grüne in verschiedenen Varianten vertreten. Zentral bei allen Versionen ist die Ausweitung der gesetzlichen Krankenversicherung auf alle Bürger und damit auch auf die jetzt privatversicherten Selbstständigen und Beamten. Ökonom Greß hält zwei Elemente der Bürgerversicherung für wegweisend: die Erweiterung der Bemessungsgrundlage und die Integration von privater und gesetzlicher Krankenversicherung. Um eine größere Finanzierungsbasis zu erreichen, könnten zunächst auch auf Vermögenseinkommen Beiträge erhoben werden. Diese Einkommensart hat in den vergangenen Jahrzehnten stetig an Bedeutung gewonnen, trägt aber nicht zur Finanzierung der Krankenversicherung bei. Zusätzlich könnte der Gesetzgeber die Beitragsbemessungsgrenze deutlich erhöhen. Das würde allerdings nur zu Mehreinnahmen bei der GKV führen, wenn gut verdienende Beitragszahler nicht zu einer privaten Krankenkasse flüchten können.

Gleichzeitig müsste daher - in einem System mit sowohl privaten als auch gesetzlichen Kassen - die Versicherungspflichtgrenze steigen, die das Mindesteinkommen für einen Wechsel bestimmt. Das würde Abwanderungen wirksam einen Riegel vorschieben. Ein weiterer Vorschlag ist die Erhöhung der Bundeszuschüsse an den Gesundheitsfonds. "Den Steueranteil an der Finanzierung des Fonds können wir noch deutlich aufstocken", sagt Wirtschaftswissenschaftler Greß. Damit würde der Staat höhere Einkommen stärker als heute belasten, weil er über das Steuersystem, das alle betrifft, die Kosten der Sozialversicherung auf eine größere Anzahl an Personen umlegt.

Nicht zuletzt sehen Experten bei den hohen Kosten auch noch viel Sparpotenzial. Ökonom Lüngen fordert etwa, dass die Ärzte mehr finanzielle Verantwortung für die Steuerung im Gesundheitssektor übernehmen. Sie könnten beispielsweise die Versorgung für einen Stadtteil übernehmen und dafür von den Kassen eine Pauschale erhalten. "Das würde einen Anreiz zu möglichst günstiger und nachhaltiger Behandlung bieten - und so die Versorgung effizienter machen", sagt Lüngen.

Ein Problem sieht er auch in der Vergütungspraxis: In Deutschland bekommen die Mediziner Geld für abgerechnete Leistungen. Dadurch haben sie ein großes Interesse, viele Patienten in möglichst kurzer Zeit durch ihre Praxen zu schleusen. "Je mehr Besuche die Ärzte abrechnen können, desto größer ist ihr Profit", sagt Lüngen. Zudem helfe es den Ärzten, Patienten an Kollegen zu überweisen, weil diese dann auch wieder Patienten an sie überweisen. "So entstehen regelrechte Überweisungskartelle", sagt er. Wie es besser geht, zeigt das Vorbild Schweden. Ärzte erhalten dort Pauschalen je Patient. Während ein Deutscher pro Jahr im Schnitt 18-mal eine Praxis aufsucht, nimmt ein Schwede nur dreimal pro Jahr in einem Wartezimmer Platz. Das spart Geld - auch für die gesamte Wirtschaft.

 

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