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Magazin Mitbestimmung

: 'Bleiben Sie stark, bleiben Sie streitbar'

Ausgabe 10/2009

FESTREDE Bundespräsident Horst Köhler verlangt "die Beteiligung der Gewerkschaften bei der Reform der Weltfinanzordnung".

Die vollständige Rede, die Bundespräsident Köhler bei der Festveranstaltung "60 Jahre DGB" am 5. Oktober 2009 in Berlin gehalten hat, findet man hier (pdf)./Foto: Simone M. Neumann

60 Jahre Deutscher Gewerkschaftsbund (…..), ich gratuliere dem DGB, und ich sage Ihnen aus Überzeugung: Sie, der DGB, die Gewerkschaften, werden gebraucht. Bleiben Sie stark, bleiben Sie streitbar und kompromissbereit und auf das Gemeinwohl bedacht!

Herzlichen Glückwunsch also. Aber in Deutschland sind offiziell mehr als 3,3 Millionen Menschen arbeitslos, und die noch immer virulente Krise auf den Finanz- und Wirtschaftsmärkten hat unseren Arbeitsmarkt noch gar nicht voll erreicht. (..…)

Die internationale Finanzkrise hat gezeigt, was geschieht, wenn mächtige wirtschaftliche Akteure den Blick fürs Ganze und den Blick über den Tag hinaus verlieren. Das wirft zwei grundsätzliche Fragen auf.

Erstens: Dürfen sich die Völker der Welt eigentlich einfach darauf verlassen, dass die Akteure auf den Märkten den nötigen Blick für das Gemeinwohl und für nachhaltiges Wirtschaften haben? Antwort: Nein, das dürfen die Nationen nicht. Die Krise hat bewiesen: Im Wirtschafts- und Finanzleben ist eine energische staatliche und zwischenstaatliche Ordnungspolitik unentbehrlich. Die ordnungspolitischen Vordenker unserer Sozialen Marktwirtschaft haben recht behalten. Der Markt alleine richtet nicht alles zum Guten. Wir brauchen wirtschaftspolitisch weltweit "einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten". Das hat Alexander Rüstow gesagt, einer der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft. Stark ist ein Staat, der dem Marktgeschehen klare und wirksame Regeln und Grenzen setzt. Und stark ist gerade auch ein Sozialstaat, der keine Versprechungen macht, die er nicht einlösen kann.

Die zweite Frage lautet: Lässt sich die Wirtschaft so gestalten, dass sie mehr verfolgt als bloße Eigeninteressen, dass die an ihr Beteiligten immer auch das Gemeinwohl und die Erfordernisse nachhaltigen Wirtschaftens im Blick behalten? Antwort: Ja, und dafür sind vor allem drei Faktoren gut - soziale Teilhabe, ein kooperatives Klima in den Arbeitsbeziehungen und eine Kultur der Mitbestimmung.

Soziale Teilhabe schaffen heißt, möglichst allen Menschen die Überzeugung, die Gewissheit geben: "Ich werde gebraucht. Meine Stimme zählt." Arbeit haben, mitarbeiten dürfen, das ist eine der wichtigsten Formen sozialer Teilhabe. Schon deshalb muss "Arbeit für alle" ein vorrangiges politisches Ziel sein und bleiben. Für mich gehört zu diesem Ziel auch, dass wir noch stärker als bisher Anreize setzen, Sorgearbeit für Angehörige, Nachbarn und Freunde sowie Gemeinwohlarbeit ins eigene - länger gewordene - Leben zu integrieren.

Arbeit ist meist erst als Zusammenarbeit wirklich produktiv. Für solche Zusammenarbeit sind Mitspracherechte der Arbeitnehmer und ein kooperatives Klima zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern eindeutig förderlich. Die Mitsprache der Arbeitnehmer hat in Deutschland eine lange Tradition. Betriebliche Arbeitervertretungen gab es bei uns schon im 19. Jahrhundert, und 1905 schrieb sie erstmals der Gesetzgeber für einen Teil der Wirtschaft zwingend vor. Schon damals zeigten die sogenannten Arbeiterausschüsse zum Beispiel im Maschinenbau: Je mehr die Arbeitnehmer an der Gestaltung der Produktion beteiligt wurden, je mehr sie sich damit identifizieren konnten und je mehr sie ihren fairen Anteil am Erfolg bekamen, desto weniger bedurfte es kostspieliger Kontrolle, desto weniger Ausschuss wurde produziert und desto weniger riskant war es, teure Maschinen anzuschaffen, die auf störungsfreie Bedienung angewiesen waren und ungestört von Arbeitskämpfen laufen mussten, um sich bezahlt zu machen. Wenn das schon damals so war - um wie viel mehr dann erst heute, in unserer komplexen und hoch vernetzten Wissensökonomie!

Die betriebliche Mitsprache der Arbeitnehmer und die Mitbestimmung sind also nicht eine wohltätige Einrichtung oder gar ein Hemmschuh für die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Sie sind im Gegenteil - das hat zuletzt die von Gerhard Schröder berufene und von Kurt Biedenkopf geleitete Kommission überzeugend herausgearbeitet - ein Produktions- und Innovationsfaktor ersten Ranges und einer der großen Vorteile der hiesigen Wirtschaftskultur auch in der Zukunft!

Dabei will ich nicht unerwähnt lassen, dass die Praxis der Mitbestimmung in Einzelfällen auch zu Kungeleien geführt hat. Dagegen ist Wachsamkeit geboten und nötigenfalls auch Reform. Insgesamt haben situationsgerechte Tarifverträge und kluge Betriebsvereinbarungen aber maßgeblich zu Deutschlands Wirtschaftsstärke und sozialer Leistungsfähigkeit beigetragen. Bis heute. Ich denke zum Beispiel an die "Pforzheimer Vereinbarung" in der Metallindustrie und an den Tarifvertrag zur demografischen Entwicklung in der Chemieindustrie. Das sind gute Beispiele für kluge, innovative Tarifpolitik. Wir haben also allen Grund, ein gutes Miteinander von Arbeitgebern und Arbeitnehmern als wichtige Voraussetzung zur Bewältigung auch der heutigen und zukünftigen Herausforderungen zu verstehen und zu pflegen. Und ich denke: Auch eine echte Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen und an Kapitaleinkommen könnte diese Linie in der Zukunft noch komplettieren. (…..) Die soziale Marktwirtschaft war immer ein offenes System für neue Ideen.

(…..)

Wir Deutsche sollten erkennen, was wir an dem schon Erreichten haben, und wir sollten den Beitrag der Gewerkschaften dazu erkennen und zu schätzen wissen. 60 Jahre DGB, das ist deshalb auch ein Anlass, Danke zu sagen: Danke für den Beitrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der in ihm verbundenen Gewerkschaften zur sozialen Teilhabe, zur Vertrauensbildung in unserer Gesellschaft, zum Aufbau der Sozialen Marktwirtschaft und auch zur Stärkung unserer Unternehmen.

Die Arbeit an einer besseren Weltfinanz- und Weltwirtschaftsordnung hat begonnen. Das ist gut. Und der Einsatz unserer Bundeskanzlerin und unseres Bundesfinanzministers in dieser Frage verdient Dank und Anerkennung. Ich kann aber selbst, ehrlich gesagt, aus den veröffentlichten Beschlüssen von Pittsburgh leider noch nicht entnehmen, dass sich eine Krise dieser Dimension auf den Weltfinanzmärkten nicht doch eines Tages wiederholen kann. Eine solche Krise aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen muss doch der Maßstab sein, an dem wir den Erfolg der internationalen Bemühungen messen. Wie sollte Politik sonst überhaupt Sinn machen? Wie könnte die Politik den Menschen sonst guten Glaubens zum Beispiel Vorsorgesparen für das Alter empfehlen?

Tatsächlich beobachten wir auf den internationalen Finanzmärkten schon wieder ein Déjà-vu mit Hütchenspielern im Shadow-Banking, mit intransparenten Derivategeschäften und Spekulation auf den Rohstoffmärkten - und alles davon in Größenordnungen, die weiterhin völlig unvorstellbar sind. Ja, ich sehe "das Monster" noch nicht auf dem Weg der Zähmung. Vor allem kann ich auch noch keine tiefer gehende Selbstreflexion der globalen Finanzakteure erkennen, das heißt ihr Nachdenken über die Krise im eigenen Haus, über die Wertekrise im eigenen Denken und Handeln. Es kommt einem so vor, dass die Branche die Politik im Regen stehen lässt. Und die Diskussion darüber, wer die Kosten der aktuellen Krise eigentlich trägt, hat noch nicht einmal ernsthaft begonnen.

Ich warne jedenfalls davor, die Finanzmarktkrise zu stark nach dem "Prinzip Hoffnung" zu handhaben (…..), Wachstum könne das Geschehene zudecken und vergessen machen. Ich bin auch der Ansicht, dass die Aufarbeitung der Krise mehr Europa verlangt. (…..) Wann, wenn nicht jetzt, wäre die Gelegenheit, das europäische Modell auch mit einer europäischen Stabilitätskultur weiter zu untermauern? Die Arbeit der Kommission der Europäischen Union hat jedenfalls mehr Aufmerksamkeit und mehr Unterstützung verdient.

Und ich bin davon überzeugt: Eine grundlegende Reform der Weltfinanzordnung verlangt auch die Beteiligung der Gewerkschaften. Mischen Sie sich ein, und schließen Sie Ihre Reihen auch über Ländergrenzen hinweg!

(…..)

Vor 60 Jahren gab Hans Böckler seiner Grundsatzrede beim Gründungskongress des DGB die Überschrift: "Die Aufgaben der deutschen Gewerkschaften in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft". Ich finde, dieser Titel passt heute nicht minder. Die Gewerkschaften tragen für alle drei Bereiche Mitverantwortung, sie sollten auch Mitgestalter sein. Das lässt bloße Klientelpolitik nicht zu. Sie wäre auch unklug, denn sie fordert Misstrauen und Widerstände heraus.

(…..)

Dass die Gewerkschaften Wandel mitgestaltet haben, das kann man auch regelrecht sehen - im Ruhrgebiet zum Beispiel. Dort habe ich in der vergangenen Woche den Botschaftern aus aller Welt gezeigt, wie Deutschlands Industrie sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Und ich habe ihnen gesagt: Diesen beeindruckenden Strukturwandel haben wir auch deshalb so gut bewältigt, weil es bei uns insgesamt eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften gibt, die sich auch in Zeiten der Krise und des Umbruchs bewährt hat.

Die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerade auch in schwierigen Zeiten zu vertreten, den Belegschaften zur Seite zu stehen, das ist das Kerngeschäft der Gewerkschaften. Zur Interessenvertretung gehört dabei auch, der eigenen Mitgliederschaft gelegentlich unbequeme Wahrheiten zu sagen, zum Beispiel dass es ohne lebenslanges Lernen in der heutigen Arbeitswelt einfach nicht mehr geht, dass Neugier und permanente Wandlungs- und Innovationsfähigkeit überlebensnotwendig sind (…..).

Eine funktionierende Sozialpartnerschaft bleibt ein Standortvorteil Deutschlands, gerade in Zeiten des Umbruchs. Suchen Sie den Dialog, und bringen Sie Ihren Sachverstand in den Wandel ein. Wir brauchen ihn. Ich bin jedenfalls davon überzeugt: Für die Bewältigung der großen Zukunftsaufgaben brauchen wir auch weiterhin starke Gewerkschaften und Gewerkschaftsführer, die den Blick fürs Ganze haben.

Wir haben eine Zeit der Vereinzelung erlebt. Das haben auch die Gewerkschaften zu spüren bekommen. Ich glaube, die Zeiten ändern sich. Menschen entdecken, dass zum Wohlergehen immer auch die anderen gehören. Menschen sind soziale Wesen, und Gewerkschaften sind Orte der Solidarität. Das macht die Gewerkschaften attraktiv - besonders wenn deutlich wird, dass diese Solidarität auch das Gemeinwohl fördert. Denn dann sind sie glaubwürdig und bleiben durchsetzungsstark. Nutzen Sie Ihre Stärke zum Wohle aller. Seien Sie Anwälte derer, die etwas leisten wollen, und derer, die den Wandel voranbringen.

 

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