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Magazin Mitbestimmung

: Eine Sparkasse für Überstunden?

Ausgabe 12/2008

ÖKONOMIE Zeitkonten sollen Arbeitnehmern zu mehr Lebensqualität verhelfen. Doch das gelingt nur, wenn die Einlagen sicher sind und wenn die Beschäftigten entscheiden, wann und wie sie frei nehmen.

Von KAY MEINERS, Redakteur des Magazins Mitbestimmung

Pünktlich zum 1. Mai forderte der IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber in einem bislang nur wenig beachteten Interview mit der taz, eine "Zeitagentur" in Deutschland einzurichten. Er imaginierte eine noch zu schaffende Institution, die wie eine "Sparkasse für Überstunden" funktionieren soll und bei der die Arbeitnehmer zu viel geleistete Arbeitsstunden einzahlen, um sie sicher zu verwahren und sie später in Form von Freizeit wieder abzurufen. Je nach Alter und Lebenslage könnten sie dann das Geld für die Kindererziehung, zur Erfüllung persönlicher Wünsche oder für einen vorzeitigen Renteneintritt nutzen.

Huber hatte wohl nicht an Michael Endes Roman "Momo" gedacht. In dem Werk, das 1986 erschien, klauen Zeitdiebe den Menschen ihr kostbarstes Gut gerade mit einer "Zeitsparkasse". Die Diebe geben die Zeit, die angespart wird, einfach nicht wieder zurück. Man hat in diesem Buch eine Kritik am heutigen Geldsystem gesehen - ein Votum für ein Freigeld, das zerrinnt wie die Zeit, oder als Kritik an einem Leben, das auf Zeitnot gebaut ist und dann doch vergeht. So ließ nach dem Vorstoß des IG-Metall-Vorsitzenden die Häme von links außen nicht lange auf sich warten. "Das, was Michael Ende noch als furchtbare Dystopie ausarbeitete, (…) wird heute von den freundlich daherkommenden realen grauen Herren ernsthaft zur politischen Forderung erklärt", konnte man etwa im Antifa-Blog des 2500 Einwohner-Örtchens Horgau lesen. Und weiter: "Am besten man verzinst die eingesparte Zeit noch, und die Identität zwischen literarischem Alptraum und profaner Realität ist perfekt."

Das Scheffeln von Zeit durch freiwillige oder angeordnete Überstunden, so befürchten die linken Kassenfeinde, könnte eines Tages zum Selbstzweck werden - so wie das Scheffeln von Geld. Die Erfüllung persönlicher Bedürfnisse würde dann auf eine ferne, vielleicht zu ferne Zukunft verschoben, sodass stets der Herzinfarkt oder der Tod durch Überarbeitung - bei den Japanern als Karoshi bekannt - dazwischenkommen kann. Solche polemischen Sätze unterschlagen, dass das Kontenmodell heute schon in vielen Betrieben praktiziert wird. Neu an Hubers Vorstoß war nur die Idee einer zentralen Zeitbank.

ZEITSOUVERÄNITÄT - EIN HOHES ZIEL_ Statt dem Zeitdiebstahl Tür und Tor öffnen, soll die Zeitbank einen solchen durch sorgfältige Buchführung verhindern - Huber hat ja explizit verkünden lassen, dass es ihm darum geht, den "Betrug" der unbezahlten Mehrarbeit zu stoppen. Vor Hubers Vorstoß hatte auch ver.di mit der Kampagne "Stoppt die Zeitdiebe!!!" gegen unbezahlte Mehrarbeit demonstriert - just mit dem Motiv der Zeitdiebe aus "Momo". Die Zeitbank soll außerdem die Lebensqualität steigern. "Ohne eine Zeitagentur bleibt das Gerede von mehr Familienfreundlichkeit leer", hat Huber der taz erklärt. Die Idee eines atmenden Betriebes, in dem sich - je nach Auftragslage und Wünschen der Beschäftigten - intensive und extensive Arbeitsphasen abwechseln, lässt sich in der Tat gut mit gesellschaftspolitischen Zielen zusammendenken. Ein solches Ziel ist der flexible Renteneintritt.

Aber wie steht es um das hohe Gut der "Zeitsouveränität"? Die wirkliche Kunst ist, sie unabhängiger von Konjunkturen zu machen. Denn sonst bestimmen immer die anderen, nie der Arbeitnehmer. Brummt die Konjunktur, heißt es, dass gerade jetzt der Urlaub ungünstig platziert ist, haben wir es, wie jetzt, mit einer ausgewachsenen Wirtschaftskrise zu tun, nutzt man die Konten als Zeitpuffer, um flaue Wochen oder Monate zu überbrücken. Vielleicht wäre Kurarbeit sinnvoller, als gleich an die eiserne Zeitreserve zu gehen.

INSOLVENZSICHERHEIT IST GEFRAGT_ Fragen der praktischen Handhabung hat man vor allem auf der Ebene der Betriebe diskutiert - verwaltet werden die Konten oft von Versicherungen, Fondsgesellschaften oder Banken. Was aber rechtfertigte den Aufwand einer Zentralverwaltung aller Arbeitszeitkonten, und wo sollte eine solche eingerichtet werden? Es ließe sich über eine Neugründung nachdenken, unter der Selbstverwaltung der Sozialpartner, oder auch an eine Angliederung an bestehende Einrichtungen, wie etwa die Bundesagentur für Arbeit. Ein Argument für eine zentrale Zeitsparkasse ist die Bündelung von Know-how.

Ein Zweites wäre, Arbeitszeitkonten besser gegen Insolvenzen und den Verfall von Guthaben abzusichern. Hier hat sich aber seit dem Mai einiges Erfreuliche getan. Der Bundestag hat am 13. November ein Gesetz verabschiedet, das den Insolvenzschutz verbessert hat. Es heißt "Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen", aber weil das zu umständlich ist und es schon einen Vorgänger von 1998 gibt, wird es Flexi-II-Gesetz genannt. Ab 2009 sind Guthaben nicht erst ab einer Höhe von drei Monatsgehältern, sondern schon ab einem Monatsgehalt gegen Insolvenz geschützt. Die alte Regel, dass Guthaben einen Ausgleichszeitraum von 27 Monaten übersteigen müssen, ist komplett entfallen. Außerdem ist eine Übertragung auf die Rentenversicherung nun schon ab einem Wert von sechs Monatsgehältern statt wie bisher zwölf möglich.

Zugleich hat der Gesetzgeber aber dafür sorgt, dass neu eingerichtete Langzeit-Konten nicht mehr sozialversicherungsfrei in die betriebliche Altersversorgung überführt werden können, weil diese Regelung exzessiv genutzt wurde. Das alles hat, jedenfalls im Hinblick auf den Insolvenzschutz, die Notwendigkeit einer Zeitbank entschärft. Trotzdem kann man aber die Phantasie einmal spielen lassen. Könnte eine Zeitbank nicht großzügige Kredite vergeben, je nach Arbeitszeit-Bonität? Könnte sie zeit- statt geldpolitischer Impulse weitergeben? Könnte sie Losgrößen transformieren, viele kleine Zeit-Einlagen zu einem großen Zeit-Kredit bündeln, vielleicht sogar kurz- und langfristig gebundene Guthaben gegeneinander tauschen? Und wie wäre es, wenn Arbeitgeber die Leistungen ihrer Mitarbeiter statt mit Weihnachtsgeld direkt mit Weihnachtszeit honorierten?
 
EIN ZEITKONTO IST KEIN BANKKONTO_ Zeit ist Geld, sagt man. Aber das stimmt nur zum Teil. Die Redensart meint nicht mehr, als dass Zeit ein knappes Gut ist und dass man seine Zeit nutzen kann, um Geld zu verdienen. Einen allgemein akzeptierten Wechselkurs gibt es aber nicht. Wer den Wert der Arbeitszeit messen will, kann dafür den individuellen Stundenlohn ansetzen, den er erhält. Er vernachlässigt dabei, dass er diesen Wert nur an einem bestimmten Arbeitsplatz erzielt und dass nur einer bereit ist, diesen Wert zu bezahlen: der Arbeitgeber.

Ist dieses Problem gelöst, kann man das Konto in Geld- statt in Zeiteinheiten führen. Mit dem Vorteil, dass man es verzinsen kann. Ein recht modernes Arbeitszeitkonto, wie man es eventuell bei einer Zeitsparkasse eröffnen könnte, hat 2007 der Chemie- und Pharmariese Bayer eingeführt (Mitbestimmung 12/2007). Grundlage ist eine Betriebsvereinbarung. Zeitkonten wie die des Bayer Pension Trust e.V. werden tatsächlich in Euro und nicht etwa in Stunden geführt. Dazu muss es Wechselkurse geben, die es zulassen, Geld in Zeit auszudrücken und umgekehrt. Sie werden in der Regel individuell auf Basis des Einkommens ermittelt. In Euro umgerechnet ist eine Stunde Zeit eines einfachen Angestellten also billiger zu haben als die Stunde eines Managers.

Die Frage, ob Geld und Zeit frei konvertierbare Währungen sein können, muss man daher mit Nein beantworten. Auch sind die Umtauschkontingente wie in einer Mangelwirtschaft streng kontingentiert. Bei Bayer etwa dürfen maximal zehn Prozent des Tariflohnes auf das Konto eingezahlt und damit in zukünftige Freizeit umgewandelt werden. Dazu kommen diverse Einmalzahlungen (etwa Prämien aus dem betrieblichen Vorschlagswesen oder Auszahlungen aus Aktienprogrammen), sodass die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit nicht um sehr viel mehr als zehn Prozent reduziert werden kann. Leitende Angestellte dürfen bis zu 30 Prozent ihres Einkommens einzahlen - dann ist auch für sie Schluss.

Umgekehrt darf der Arbeitnehmer seinen gesetzlich garantierten Jahresurlaub nicht verkaufen und nur in engen Grenzen ansparen. Maximal zehn Tage Resturlaub aus dem verflossenen Jahr können in ein Euro-Guthaben auf dem Arbeitszeitkonto verwandelt werden. Wer also strategisch Urlaub anspart und auf eine Auszahlung des Guthabens in hartem Geld hofft, könnte nur wenig mehr als ein halbes Monatsgehalt pro Jahr zusätzlich herausschinden. Solche Limits sind notwendig, denn gäbe es sie nicht, wäre der Arbeitsvertrag faktisch hinfällig - der Arbeitnehmer könnte dann komplett auf Urlaub verzichten, um das Guthaben zu erhöhen, was der Gesundheit sicher abträglich wäre, oder er könnte seine Arbeitszeit durch Geldzahlungen beliebig drücken.

BRÜCKE ZUR SOZIALVERSICHERUNG_ Sollte das Guthaben nicht bis zum Renteneintritt abgerufen werden, so gehen die Ansprüche als zusätzlicher Baustein in die betriebliche Altersversorgung ein. Hier zeigt sich, wie einmal die Verknüpfung von Zeitkonten und Sozialversicherungssystemen aussehen könnte, aber auch eine Missbrauchs- und Akkumulationsgefahr (die Antifa lässt hier in der Tat grüßen), die der Gesetzgeber nun begrenzen will. Damit die Konten für die Beschäftigten attraktiver werden, können per Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder auf freiwilliger Basis Leistungen des Arbeitgebers dazukommen, die in der Regel in Euro gewährt werden. Bei Bayer legt der Arbeitgeber am Anfang 1000 Euro dazu, später können es noch einmal 1500 Euro sein, wenn der Arbeitnehmer bereit ist, die gleiche Summe aufzubringen.

Das sind attraktive Boni. Aber man muss es noch einmal klar sagen: Das Arbeitszeitkonto wird nicht von den Sozialpartnern gemeinsam aufgefüllt - es dient vor allem den Arbeitnehmern dazu, ihre eigenen Geld- und Zeit-Ressourcen zu verwalten. Das bedeutet: Mehr Freizeit muss man sich auch leisten können. Schon die Leute, die bisher über geförderte Altersteilzeit vorzeitig aus dem Job ausstiegen, waren Besserverdienende - mit einem Jahreseinkommen von im Schnitt 66.000 Euro brutto - das deutsche Durchschnittseinkommen liegt gerade einmal bei 29.500 Euro. Und die Umstände müssen es auch zulassen, das eigene Zeitbudget ohne äußere Zwänge zu verwalten. Haben wir es, so wie aktuell, mit einem externen Schock zu tun, der das Arbeitsvolumen reduziert, rutschen die Konten ins Minus. Das Mehr an Gehalt, das man dann im Vergleich zur reduzierten Arbeitszeit erhält, wird irgendwann nachgearbeitet werden müssen. In - hoffentlich - besseren Zeiten. Denn aktuell mögen viele Firmen, darunter auch Bayer, selbst Kurzarbeit nicht mehr ausschließen.

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