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Magazin Mitbestimmung

: Gegengewicht zu den Multis

Ausgabe 06/2008

EUROPÄISCHE GENOSSENSCHAFTEN Die "cooperative" hat nun eine einheitliche Rechtsform inklusive Arbeitnehmerbeteiligung erhalten. Doch schon wird das Genossenschaftsprinzip in Frage gestellt.

Von Michaela Namuth, Journalistin in Rom

Betriebsrat Bernd Görissen weiß, dass es in Brüssel ein Konstrukt gibt, dass sich Coopernic nennt. Er weiß auch, dass neben seinem Konzern, der Rewe Group, vier weitere Handelsmarken an Coopernic beteiligt sind. Die fünf haben sich zu einer Gesellschaftsform zusammengeschlossen, die es erst seit wenigen Jahren gibt: die Europäische Genossenschaft oder im Fachjargon SCE genannt. Im Alltagsgeschäft der Rewe-Betriebsräte spielt das neue Konstrukt aber keine große Rolle. Coopernic ist nur eine strategische Allianz und kein Konzernzusammenschluss.

EUROGENOSSENSCHAFT COOPERNIC_ Manchmal denkt sich Görissen aber trotzdem, dass sein Büro in der Kölner Rewe-Zentrale zu weit weg ist von Europa, um Entscheidungen richtig einschätzen zu können. In der SCE, die in mehrere Gesellschaften aufgespalten ist, existiert bisher kein Euro-Betriebsrat. Zaghafte Kontakte zu europäischen Kollegen bahnen sich jetzt an.

Die neue Euro-Genossenschaft hält Görissen aber auf jeden Fall für eine "gute Idee". "Wenn wir uns gegen multinationale Kolosse wie Carrefour und Tesco zusammenschließen, können wir unsere Märkte verteidigen und letztendlich unsere Arbeitsplätze sichern", so der stellvertretende GBR-Vorsitzende der Rewe Großhandelsgenossenschaft.

Die Geschäfte der Eurogenossenschaft Coopernic laufen gut, neue Absatzmärkte haben sich den fünf Lebensmittelunternehmen eröffnet. Die Deutschen bekommen Olivenöl und Mandelplätzchen von den kleinen Herstellern des italienischen Conad-Konsortiums auf den Tisch. In den Regalen der Conad-Supermärkte stehen Pralinenschachteln aus Belgien und deutscher Senf.

Über die Umsatzzahlen werden Bernd Görissen und seine Kollegen von der Geschäftsleitung regelmäßig unterrichtet. Die SCE wurde mit je einem Vertreter der fünf Handelsketten gegründet, dabei sind Rewe (Deutschland), Conad (Italien), E. Leclerc (Frankreich), Colruyt (Belgien) und Coop Suisse (Schweiz). Die einzelnen Unternehmen bleiben unabhängig, und ihre Belegschaften haben somit formal keine Beteiligungsrechte.

In der Brüsseler Zentrale sitzen ein paar Angestellte. Hier trifft sich auch regelmäßig der Verwaltungsrat, der gemeinsame Marktstrategien entwickelt und vorschlägt. Betriebsrat Görissen sieht dabei für seinen deutschen Konzern finanzielle Vorteile. Er befürwortet das Projekt aber auch aus einem anderen Grund: "Der Genossenschaftsgedanke wird auf europäischer Ebene weitergeführt."

Das wünschen sich heute viele. Nicht nur die Genossenschaften selbst, auch eine wachsende Zahl von Wirtschafts- und Rechtsexperten eint die Überzeugung: Genossenschaften sind kein überholtes Relikt des 20. Jahrhunderts, sondern gerade in Zeiten des globalisierten Turbo-Kapitalismus ein zukunftstaugliches und konkurrenzfähiges Element der Wirtschaftsdemokratie. So heißt es in den Guidelines der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf: "Genossenschaften sind eine von vielen Geschäftsformen, die alle Voraussetzungen bieten, neuen Anforderungen zu entsprechen."

Zitiert werden etwa die Leistungen der Genossenschaften im sozialen Bereich. Nach der ILO-Empfehlung von 2002 ist eine Genossenschaft "eine unabhängige und freiwillige Vereinigung von Personen in einem Unternehmen, das im gemeinschaftlichen Besitz und demokratisch kontrolliert ist, um gemeinsame wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bedürfnisse zu befriedigen bzw. Ziele zu erreichen".
Genossenschaften sind in der wirtschaftlichen Realität vieler europäischer Länder fest verankert.

"In Italien wird bei fast jeder Unternehmensgründung auch die Form der Genossenschaft in Erwägung gezogen", so Marco Cilento vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) in Brüssel. Das Gegenstück zu Italien, wo die Tradition der "cooperative" auch im Faschismus überlebt hat, ist Deutschland. Das Genossenschaftsprinzip existiert hier nur in einigen Wirtschaftssektoren wie dem Bankensektor, im Wohnungsbau und Lebensmittelhandel; im Sozial- und Kulturbereich dominieren dagegen gemeinnützige Vereine.

Dennoch regt sich auch in Deutschland seit ein paar Jahren wieder Interesse für das Genossenschaftsmodell. Dabei geht es nicht nur um eine wirtschaftstheoretische Debatte, sondern auch um ganz praktische Aspekte. So gibt beispielsweise die IHK Köln ihren mittelständischen Mitgliedern ausführlich Auskunft über die Reform des deutschen Genossenschaftsrechts von 2006, das eine "deutliche Vereinfachung zum Einstieg in die Unternehmensform der Genossenschaft" darstelle. Besonders die Europäische Genossenschaft ist nach Meinung der IHK "wegen ihrer vielfältigen Gründungsmöglichkeiten für den Mittelstand eine interessante europäische Rechtsform".

EINFACHE GRÜNDUNGSVORAUSSETZUNGEN_ In der Tat ist das Statut der SCE von 2003 nicht nur für Genossenschaften von Interesse. Es ist ein ideales Rechtsinstrument auch für andere Unternehmen, die sich - wie die Partner von Coopernic - zusammenschließen wollen, um neue Märkte zu erschließen oder gemeinsam Forschung und Entwicklung zu betreiben.

Genossenschaften, Unternehmen oder Personen können im Binnenmarkt als einheitliche Rechtspersönlichkeit auftreten und ihre grenzübergreifenden Tätigkeiten ausweiten oder neu organisieren, ohne dafür zeit- und kostenaufwändig ein Netz von nationalen Tochtergesellschaften aufbauen zu müssen. Nach dem Statut können mindestens fünf natürliche Personen aus mindestens zwei Mitgliedsstaaten oder mindestens zwei juristische Personen aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten eine Europäische Genossenschaft bilden.

Sie ist der erste und einzige Typ von Unternehmen europäischen Rechts, der ohne Vorläuferorganisation gegründet und dessen Haftung beschränkt werden kann. Das Mindestkapital beträgt 30.000 Euro. Das Statut der SCE ist dem 2001 verabschiedeten Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) nachgebildet, aber an die Besonderheiten der Genossenschaft angepasst. Es ist ein Rechtsinstrument, das wahlweise angewandt werden kann und nicht an die Stelle des nationalen Genossenschaftsrechts tritt.

Das heißt auch, dass etwaige Rechtslücken mit nationalen Normen aufgefüllt werden. So sind die Euro-Genossenschaften als Gesellschaften nach dem nationalen Recht des Landes eingetragen, das sie als Sitz gewählt haben. Dies ist auch der Grund, warum die erste Euro-Genossenschaft Coopernic eine Gesellschaft belgischen Rechts ist.

Wie bei der SE sind die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer in einer ergänzenden Richtlinie verankert. Vor allem die Mitbestimmung war Objekt langer Auseinandersetzungen. "Die Diskussion über die Europäische Genossenschaft wird auf EU-Ebene schon seit über 30 Jahren geführt, aber vor allem die Streitfrage der Mitbestimmung hat die Verabschiedung des Statuts verzögert", so Hagen Henry, Manager of the Cooperative Programme bei der ILO in Genf und Experte für Genossenschaftsrecht.

Henry war an der Ausarbeitung der ILO-Empfehlung über die Förderung von Genossenschaften und somit an der Auseinandersetzung um das Statut beteiligt. Am Ende hat man sich - wie bei der SE - darauf geeinigt, dass die Mitbestimmung jener Länder gelten soll, wo sie im nationalen Recht verankert ist, also Deutschland und Österreich.

"Was uns interessiert, ist der Dialog mit den Beschäftigten, auch in den kleineren Genossenschaften der einzelnen Länder", sagt Marco Cilento vom EGB. Seine Organisation will erreichen, dass alle Genossenschaften im EU-Bereich ab fünf Mitarbeitern Informationsrechte anerkennen und dass in größeren Strukturen weitergehende Beteiligungsrechte gelten.

ARBEITNEHMER ALS TEILHABER_ Ein Sonderfall sind Genossenschaften, in denen alle oder ein Teil der Arbeitnehmer auch Teilhaber und deshalb automatisch am Entscheidungsprozess beteiligt sind. Diese Tatsache, die beispielsweise in Italien rund 50 Prozent der Arbeitnehmer in Genossenschaften betrifft, wird vom Statut der Europäischen Genossenschaft ausgeklammert. Deshalb haben ihr der EGB und der Genossenschaftsverband Cecop jetzt eine gemeinsame Studie gewidmet.

Die kommt zu dem Ergebnis, dass diejenigen Genossenschaften auch unter wirtschaftlichem Aspekt am besten funktionieren, in denen der Unterschied zwischen "Arbeitnehmer" und "Mitglied" am geringsten ist, das heißt, alle beteiligt sind. EGB und Cecop befürworten, dass sich die Genossenschaften der EU-Länder bei einer zentralen Stelle in Brüssel registrieren lassen sollen. Damit könnten auch die faulen Äpfel aussortiert werden: Genossenschaften, die gar keine sind, sondern nur die Steuervorteile nutzen wollen.

Die Genossenschaften haben selbst Interesse daran, die schwarze Schafe vom Acker zu jagen. Die seit Jahren anhaltenden Attacken aus dem rechtsliberalen Lager - vor allem in Ländern, in denen das Genossenschaftswesen eine starke Position in der Wirtschaft hat - wertet Rainer Schlüter, Vorsitzender des Verbands Cooperatives Europe, deshalb eher als Versuch, eine "unliebsame Konkurrenz" auszuschalten. So wirft beispielsweise Silvio Berlusconi, selbst mehrfach wegen Betrug und Bilanzfälschung angeklagt, vor allem den "roten" Genossenschaften Steuerhinterziehung vor.

Italiens ehemaliger und neuer Ministerpräsident, unter dessen Regierung sich multinationale Handelsketten wie Carrefour rasant ausbreiten konnten, hat schon angekündigt, die Steuervorteile der Genossenschaften abschaffen zu wollen. In Spanien hingegen drücken die Genossenschaften mit der Produktion von Bio-Treibstoff den Benzinpreis und müssen die Attacken der multinationalen Ölkonzerne abwehren.

KONKURRENZ DURCH PRIVATGESELLSCHAFT_ Doch auch auf EU-Ebene droht den Genossenschaften Gefahr. Die Kommission diskutiert derzeit den Rechtsrahmen für die Europäische Privatgesellschaft (EPG), die eine neue europäische Rechtsform für kleinere Unternehmen, das heißt, eine Art Europa-GmbH darstellen soll. Tritt diese in Kraft, würden die Normen der gerade erst geborenen Europäischen Genossenschaft unterlaufen werden können, weil mit einem Stammkapital von einem Euro und ohne jegliche Arbeitnehmerbeteiligung in vielen EU-Ländern eine Europäische Privatgesellschaft begründet werden kann.

"Damit würden die Genossenschaften ihre besondere Identität verlieren", warnt Reiner Schlüter von Coop Europe. Die Kapitalreserven müssten dann wie in allen anderen Unternehmen versteuert werden. Dies trifft die Genossenschaften aber in ihrem Wesen als offene Unternehmensform mit variablem Kapital, das je nach Mitgliederlage erhöht oder gemindert werden kann. Letztendlich würde die neue EPG auch die Rahmenbedingungen der Europäischen Genossenschaft verzerren, weil dann jede Regelung, die nicht den Normen der normalen Kapitalgesellschaft entspricht, als "Staatssubvention" deklariert werden müsste.

Die Europäische Privatgesellschaft birgt aber nicht nur Gefahren für die Genossenschaften, sondern auch für die Gewerkschaften: Auch größere, nicht börsennotierte Kapitalgesellschaften könnten sich dieses neues Gewand anlegen und damit Mitbestimmungs- und Arbeitnehmerbeteiligungsrechte unterlaufen. Doch beim Europäischen Gewerkschaftsbund will man noch abwarten, wie sich das Ganze entwickelt.

"Die Ideen der Kommission sind eher konfus, da werden so schnell keine Entscheidungen fallen", so Euro-Gewerkschafter Marco Cilento. Die Vertreter der Genossenschaften sehen das allerdings anders. In ihren Verbänden stehen die Signale derzeit auf Alarmstufe rot. "Die EPG soll innerhalb eines Jahres durchgepaukt werden", sagt Rainer Schlüter von Coop Europe. Eine Hoffnung gibt es aber doch: Die Kommission muss dem Entwurf einstimmig zustimmen - und bei 27 Ländern gibt es immer jemanden, der was dagegen hat.


Mehr Informationen

Hagen Henry: GUIDELINES FOR COOPERATIVE LEGISLATION, second revised edition, Genf 2005, Vorwort von Jürgen Schwettmann

ILO-Empfehlung 193/2002 über die FÖRDERUNG VON GENOSSENSCHAFTEN

Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 des Rates v. 22. Juli 2003 über das STATUT DER EUROPÄISCHEN (SCE)

Richtlinie 2003/72/EG des Rates v. 22. Juli 2003 zur Ergänzung des STATUTS DER EUROPÄISCHEN hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer

Cecop/EGB: L'IMPLICATION DE TRAVAILLEURS DANS LES COOPERATIVES DE TRAVAIL ASSOCIE, LES COOPERATIVES SOCIALES ET AUTRES ENTREPRISES DETENUS PAR LES TRAVAILLEURS EN EUROPE, Brüssel 2008

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