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Magazin Mitbestimmung

: 2. Mai 1933 - ein Rückblick von Hans Mommsen

Ausgabe 04/2003

Vor 70 Jahren zerschlug das NS-Regime die Arbeiterbewegung. Führende Sozialdemokraten und ADGB-Gewerkschafter setzten noch auf die Verfassung oder sandten Ergebenheitsadressen an die Machthaber, als schon der Terror die Straße regierte.

Von Hans Mommsen. Prof. Dr. Mommsen ist Historiker und Professor für Neuere Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Er wurde im Jahr 1996 emeritiert und lebt seither in Feldafing.

Die Absetzung der SPD-geführten preußischen Regierung unter Ministerpräsident Otto Braun am 20. Juli 1932 durch Reichskanzler Franz von Papen läutete den Untergang der demokratischen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik ein. Es ist immer wieder darüber diskutiert worden, ob sich die SPD und die eng mit ihr liierten Freien Gewerkschaften diesem Staatsstreich von Papens und der Gleichschaltung Preußens durch die Ausrufung des Generalstreiks und die Mobilisierung der Eisernen Front hätten widersetzen sollen.

Tatsächlich hätte eine solche Aktion zu diesem Zeitpunkt der nationalsozialistischen Bewegung in die Hand gearbeitet. Sie wartete nur darauf, sich dem Präsidialregime zur "Rettung vor der bolschewistischen Gefahr" anzudienen und diese Gelegenheit zur Eroberung der Macht auszunützen. Die Kräfte, die die Regierung Braun einschließlich der preußischen Polizei mobilisieren konnte, reichten für mehr als eine bloße Demonstration des Widerstandswillens nicht aus - denn die Reichsregierung von Papen hatte die Reichswehr eingeschaltet. Hinzu kam, dass die Haltung der KPD im Falle eines offenen Konflikts alles andere als eindeutig war.

Viele glaubten, Hitler sei mit legalen Mitteln zu stoppen

Otto Braun wollte für seine Minderheitsregierung, die seit den Wahlen vom 24. April 1932 nur noch geschäftsführend amtierte, nicht mit extrakonstitutionellen Mitteln eintreten. Weder der SPD-Vorstand noch die Führung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) zeigten sich bereit, gegen die Provokation der Reichsregierung Widerstand zu leisten und durch den Generalstreik öffentlich gegen die sich anbahnende Unterdrückung zu protestieren.

An eine dauerhafte Machtverschiebung zugunsten der republikanischen Kräfte war nicht zu denken - daher verlegten sich die Führer der Sozialdemokratie und des ADGB darauf, von Papen in den Reichstagswahlen am 31. Juli, die unmittelbar bevorstanden, eine gebührende Antwort zu erteilen. Sie glaubten, die legalen Möglichkeiten für die Abeiterbewegung bis zum Letzten ausschöpfen und den Gegnern, wenn sie die Grundlage der Legalität verlassen würden, erfolgreich Paroli bieten zu können. Mit dieser Politik des Abwartens gaben sie sich jedoch bedenklichen Illusionen hin.

Die Erwartung, dass die Nationalsozialisten von sich aus die verfassungsmäßige Ordnung offen durchbrechen und damit ein Fanal für eine geschlossene Gegenaktion der Arbeiterschaft liefern würden, ging auf ein Wort von Friedrich Engels zurück: In einem Vorwort zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850" aus dem Jahr 1895 hatte er die Ansicht vertreten, die Bourgeoisie würde sich angesichts der Wahlerfolge der Sozialdemokratie gezwungen sehen, den Boden der Legalität zu verlassen. Seine Epigonen leiteten daraus einen generellen Verzicht auf revolutionäre Aktionen ab und bekundeten eine defensive Grundeinstellung, die die sozialdemokratische Politik der Zwischenkriegszeit weithin bestimmte. Dabei war Engels bei seiner Diagnose gerade nicht von einer Schwächung der Arbeiterklasse ausgegangen, wie sie in den zwanziger Jahren allenthalben sichtbar wurde.

Die faschistische Machteroberung in Italien seit dem Marsch auf Rom von 1923, die sich ohne formelle Durchbrechung der Verfassung vollzog, lehrte das Gegenteil. Auch in der österreichischen Republik gelang es den Austrofaschisten, die Sozialdemokratie ohne förmlichen Bruch der Verfassung auszuschalten. Trotz dieser Erfahrungen klammerten sich viele freie Gewerkschafter und Sozialdemokraten weiter an die Illusion, Hitler in demokratischen Wahlen besiegen zu können.

In der Phase der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten war der ADGB in einem desolaten Zustand. Durch die Massenarbeitslosigkeit und Rückgang der Mitgliedschaft waren seine Organisationen extrem geschwächt. Sie hatten den Abbau des Sozialstaates in der Ära Brüning, insbesondere Abstriche in der Arbeitslosenunterstützung und die Verlängerung der gesetzlichen Arbeitszeit, hinnehmen müssen, standen unter der Konkurrenz der kommunistisch beeinflussten Gewerkschaftsverbände und sahen sich dem schärfsten Druck der Unternehmerschaft, vor allem der Schwerindustrie, ausgesetzt, die angesichts der Unterauslastung ihrer Produktionskapazitäten in der Krise nicht nur eine massive Herabsetzung der Reallöhne erzwang, sondern das Tarifvertragsund Schlichtungssystem komplett außer Kraft setzen wollte.

Noch am 30. Januar 1933, an dem Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, wichen der Parteivorstand und die ADGBFührung erneut einer klaren Entscheidung aus, obwohl von vielen Seiten die Ausrufung des Generalstreiks und die Mobilisierung des Reichsbanners und der Eisernen Front gefordert wurde. "Organisation - nicht Demonstration ist die Parole der Stunde", erklärte der Führer des ADGB, Theodor Leipart, und forderte Disziplin und Einigkeit an Stelle von Aktionen. Rudolf Breitscheid, seit 1931 ein Mitglied des SPD-Parteivorstandes, gab die Parole "Bereit sein ist alles" aus, und das SPD-Parteiblatt "Vorwärts" betonte in der Abendausgabe vom gleichen Tage: "Gegenüber dieser Regierung der Staatstreichdrohung stellt sich die Sozialdemokratie und die Eiserne Front mit beiden Füssen auf den Boden der Verfassung und Gesetzlichkeit. Sie wird den ersten Schritt von diesem Boden nicht tun."

Ähnlich betonte Leipart die Notwendigkeit, die Organisation auch angesichts vorübergehender Rückschläge aufrechtzuerhalten. Mit dieser Einstellung war die Initiative zu eigenständigem Handeln verspielt. Stattdessen setzten sich innerhalb der ADGBFührung Bestrebungen durch, das angestammte Bündnis mit der SPD zu lösen und ein Arrangement mit der Regierung im Sinne korporativer Lösungen einzugehen.

Entwürfe zur "Entpolitisierung" der Gewerkschaften

Schon in der Ära Papen war von einer "Entpolitisierung" der Gewerkschaften die Rede gewesen. Reichskanzler Kurt von Schleicher, der von Papen am 2. Dezember 1932 ablöste, verfolgte dann explizit die Bildung einer "Gewerkschaftsachse" und stieß damit bei dem ADGB-Vorsitzenden Leipart auch auf Sympathien. Gregor Strasser, ein Kritiker Hitlers innerhalb der NSDAP, verhandelte mit Schleicher über eine Beteiligung an der Reichsregierung, die auch die Gewerkschaften einbinden sollte. Die "Gewerkschaftsachse" scheiterte weniger am Misstrauen Leiparts als am Unvermögen Strassers, sich gegen Hitler durchzusetzen.

Hinter der Annäherung Leiparts an die Vorstellungen von Papens und von Schleichers verbarg sich die Hoffnung, durch eine vereinigte Gewerkschaftsorganisation das innenpolitische Gewicht zu gewinnen, um auch ohne die Vermittlung der politischen Parteien die sozialpolitischen Prozesse maßgebend zu beeinflussen. Damals fanden auch berufsständische Ideen Eingang in die Diskussion. Besonders in der Spätphase der Weimarer Republik war bei den Mitte- und Rechtsparteien die Tendenz weit verbreitet, sich vom parlamentarischen System zu lösen und berufsständische Vertretungsformen zu schaffen. Rudimentär war das schon in der Bildung des Reichswirtschaftsrates zum Ausdruck gekommen.

Vergeblich warnte Otto Wels vor der "Selbstpreisgabe"

Nach den Wahlen vom 5. März 1933, die den Übergang zur Diktatur einleiteten, distanzierte sich der ADGB in einer Hitler zugeleiteten Erklärung sogar offen von der SPD und hob hervor, die sozialen Aufgaben der Gewerkschaften müssten erfüllt werden, "gleich welcher Art das Staatsregime ist". Die Gewerkschaften wurden als "unerlässlicher Bestandteil der sozialen Ordnung selbst" bezeichnet. Sie seien "im Verlaufe ihrer Geschichte aus natürlichen Gründen mehr und mehr mit dem Staate selbst verwachsen". Parallel dazu begann der ADGB, sich der Propaganda der "nationalen Erhebung" anzupassen und die gewerkschaftliche Presse auf eine unverhüllt faschistoide Diktion umzustellen. Die immer wiederkehrenden Eingaben an die Regierung der nationalen Konzentration, in denen die staatspolitische Loyalität der Gewerkschaften beschworen wurde, waren jedoch schwerlich geeignet, sich bei den nationalsozialistischen Machthabern Respekt zu verschaffen.

 Korporatistische Vorstellungen lagen auch den Verhandlungen zugrunde, die Leipart noch im April 1933 mit Funktionären der Nationalsozialistischen Betriebszellen-Organisation (NSBO) über die Zukunft der Gewerkschaften führte. Die in diesen Wochen vorgenommene Bildung des "Führerkreises der Vereinigten Gewerkschaften" richtete sich zunächst gegen das Vordringen der NSBO, verfolgte aber zugleich den gewerkschaftlichen Zusammenschluss. Noch Ende April bot der Führerkreis, an dem neben Leipart auch das ADGB-Vorstandsmitglied Wilhelm Leuschner sowie die Vertreter der christlichen Gewerkschaften und des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes (DHV) beteiligt waren, der nationalsozialistischen Konkurrenz an, im "neuen Staat" positiv mitarbeiten zu wollen. Leuschner sprach sich in den Verhandlungen mit führenden NSBO-Funktionären für die Schaffung einer staatlich sanktionierten Einheitsgewerkschaft aus. Die Politik der Anpassung gipfelte in dem spektakulären Aufruf des ADGB an seine Mitglieder, an den Feierlichkeiten des 1. Mai teilzunehmen, den Joseph Goebbels, der Chefpropagandist der NSDAP, zuvor zum "Feiertag der Arbeit" erklärt hatte und als gigantisches Propagandaspektakel für das NS-Regime in Szene setze.

Der SPD-Politiker Otto Wels hatte noch vergeblich davor gewarnt, dass die Teilnahme der freien Gewerkschaften am "Tag der Arbeit" auf deren Selbstpreisgabe hinausliefe. Siegfried Aufhäuser, der Führer des Allgemeinen Freien Angestellten- Bundes, verlangte die Selbstauflösung der Gewerkschaften. Dies wäre eine reinliche Lösung gewesen, aber den Interessen der NSBO an einer unverzüglichen Gleichschaltung der Verbände entgegengekommen. Die meisten Gewerkschaftsführer konnten sich eine Selbstauflösung nicht vorstellen, teils weil sie an finanziellen Verbindlichkeiten dachten, die sie gegenüber ihren Mitgliedern eingegangen waren, teils weil ein politisches System ohne Gewerkschaften für sie undenkbar war. Seit März 1933 hatte es an gewaltsamen Übergriffen von NSDAP und der SA auf gewerkschaftliche Einrichtungen nicht gefehlt.

An vielen Orten waren Gewerkschaftshäuser gestürmt, Akten vernichtet und Gewerkschaftsgelder entwendet worden. Gewerkschaftsfunktionäre und Betriebsräte wurden häufig brutal misshandelt und vereinzelt in die aus dem Boden schießenden "wilden" Konzentrationslager eingeliefert. Amtierende Betriebsräte verloren vielfach ihren Arbeitsplatz, wofür das Gesetz über Betriebsvertretungen und wirtschaftliche Vereinigungen vom 4. April 1933 eine fragwürdige rechtliche Grundlage nachlieferte. Die Unterdrückung der Gewerkschaften war bereits in vollem Gang, als die ADGB-Führung noch hoffte, durch Ergebenheitsadressen an das Regime den Bestand der Organisationen zu retten.

Das Regime setzte auf Gleichschaltung und offenen Terror

Ein geheim gebildetes "Aktionskomitee zum Schutze der Deutschen Arbeit" hatte unter dem Vorsitz von Robert Ley die Vorbereitungen zur Übernahme der Gewerkschaften eingeleitet, während Goebbels mit seinen Planungen für den 1. Mai den propagandistischen Rahmen schuf. Am Tage danach wurden die Gewerkschaftshäuser, Banken und Redaktionsbüros der Freien Gewerkschaften besetzt, die Gewerkschaftsführer verhaftet, misshandelt und in Konzentrationslager eingeliefert. Die Gleichschaltung der gewerkschaftlichen Einrichtungen erfolgte ohne nennenswerten Widerstand, worin sich die Schwächung und Demoralisierung der demokratischen Arbeiterbewegung seit dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise spiegelte. Die christlichen und Hirsch-Dunckerschen Verbände, die von den Übergriffen des 2. Mai verschont geblieben waren, beschlossen in den folgenden Wochen ihre Selbstgleichschaltung.

Mit der Gründung der "Deutschen Arbeitsfront" (DAF) am 10. Mai 1933 vollzog Robert Ley auch formell die Auflösung der Gewerkschaften und deren Verschmelzung in der neuen Dachorganisation, der ursprünglich auch die Arbeitgeberschaft angehören sollte. Im "Aufruf zum Schutze der deutschen Arbeit" vom 2. Mai 1933 hatte Ley die Unantastbarkeit der Institutionen der Arbeiter zugesichert und das Versprechen abgegeben, "Schutz und Rechte des Arbeiters weiter auszubauen". Das Gegenteil war der Fall. Dem völlig unerfahrenen Robert Ley fehlte ein klares Konzept, und die NSBO, die unter Reinhold Muchow für die DAF eine primär gewerkschaftliche Funktion anstrebten, wurden bald isoliert und schließlich aufgelöst. Nach einigen internen Auseinandersetzungen musste Ley am 27. November in einem Abkommen mit dem Reichsarbeitsund dem Reichswirtschaftsministerium zusichern, dass die DAF nicht der wirtschaftlichen und sozialen Interessenvertretung der Arbeiterschaft diene und nicht der Ort sei, "wo die materiellen Fragen des täglichen Arbeitslebens entschieden werden". Diese Funktionen fielen vielmehr den dem Reichswirtschaftsminister unterstellten Treuhändern der Arbeit zu, während die DAF im Wesentlichen auf die ideologische Schulung der Arbeiter beschränkt werden sollte.

 Das Debakel der freien Gewerkschaften, das Parallelen bei den christlichen und Hirsch-Dunckerschen Verbänden hatte, beruhte auf einer völligen Fehleinschätzung der organisatorischen Macht der demokratischen Arbeiterbewegung seit dem 20. Juli 1932. Trotz der heroischen Massenaktionen gegen die Machteroberung Hitlers war die organisierte Arbeiterbewegung seit diesem Zeitpunkt aus dem Geflecht der Reichspolitik ausgeschaltet. Das war teilweise Ausfluss der politischen Gesamtlage seit dem Sturz Heinrich Brünings, teilweise die Folge eines traditionellen Politikverständnisses, das dahin tendierte, die Organisation als Selbstzweck aufzufassen: Es war aber auch die Folge eines alternativlosen Festhaltens an einer zunehmend inhaltslos gewordenen Legalitätsvorstellung. Immerhin korrigierten führende Vertreter des ADGB, nicht zuletzt Wilhelm Leuschner, die in der Machtergreifungsphase eingeschlagene Politik der Anpassung an das entstehende NS-Regime und schlossen sich später der Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944 ohne Vorbehalte an.

"Wenn wir nicht so wahnsinnig sind, ihnen zu Gefallen uns in den Straßenkampf treiben zu lassen, dann bleibt ihnen zuletzt nichts anderes, als selbst diese ihnen so fatale Gesetzlichkeit zu durchbrechen."

Friedrich Engels, 1895

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