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Metallerinnen und Metaller verschaffen in Aurich ihrer Empörung Luft. Magazin Mitbestimmung

Unternehmensrecht: Zum Zulieferer degradiert

Ausgabe 01/2020

Die IG Metall wirft dem Windanlagenbauer Enercon vor, durch ein gewieftes Firmenkonstrukt die Flucht aus Mitbestimmung und Sozialplanpflicht anzutreten. Von Kathryn Kortmann

Serhat Özdemir versteht die Welt nicht mehr. Jahrelang hat sich der frühere Betriebsratsvorsitzende von WEC Turmbau Emden als Teil der Windrad-Familie Enercon gefühlt. Aus gutem Grund. Auf Gehaltsabrechnungen tauchte der Firmenname Enercon auf. Auf einer Einladung zum Tag der offenen Tür bei WEC Turmbau in Emden 2013 beschrieb das Unternehmen die Emdener Betonfertigungsfirma als eine 100-prozentige „Tochtergesellschaft der Enercon GmbH“, die „wichtigen Anteil“ am Erfolg habe, denn bei WEC Turmbau werden Betonturmsegmente „für die weltweite Errichtung unserer Windanlagen gefertigt“. Auf Jacken und T-Shirts von Beschäftigten prangte in Großbuchstaben: ENERCON. Container im Werk waren mit dem Schriftzug versehen, Kugelschreiber, die im Betrieb benutzt wurden, zierte der Firmenname. 

„Jahrelang wurde uns vermittelt, wir seien eine Tochtergesellschaft von Enercon“, erzählt Serhat Özdemir. „Plötzlich waren wir nicht mal mehr eine Stieftochter, plötzlich waren wir nur noch Zulieferer.“ 

Plötzlich – das Datum kann Özdemir genau nennen: 2. August 2018. An diesem Tag verkündete der deutsche Branchenprimus im Windanlagenbau wegen der Flaute auf dem deutschen Markt an den Standorten in Emden, Aurich, Haren, Westerstede und Magdeburg erstmals einen massiven Stellenabbau: 835 Arbeitsplätze waren von der ersten Welle der Entlassungen betroffen – in acht Betrieben, die zwar exklusiv für Enercon produzierten, aber eben doch nicht zur großen Enercon-Gruppe gehören, wie der Windanlagenhersteller meint. 

Wenn Zulieferer eigenverantwortlich wirtschaften, haftet auch nur der einzelne Zulieferbetrieb mit seinem deutlich kleineren Budget für die auszuhandelnden Sozialpläne. Und: Weil aus dem 1984 von Aloys Wobben im ostfriesischen Aurich gegründeten Enercon im Laufe der Jahre ein verschachteltes Unternehmenskonstrukt entstand, gelingt es der Enercon-Gruppe immer wieder, Fakten zu schaffen, ohne Beschäftigte und Gewerkschaften im Vorfeld einbeziehen zu müssen. Auch die Ankündigung im November 2019, dass rund 3000 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz verlieren, „stellte wieder alle vor vollendete Tatsachen“, sagt Meinhard Geiken, ehemaliger Bezirksleiter der IG Metall Küste. „Wie bei anderen Konzernen dieser Größe üblich, müssen Betriebsräte und Gewerkschaften auch bei Enercon die Möglichkeit haben, über einen Aufsichtsrat und einen Konzernbetriebsrat Entscheidungen nachzuvollziehen und zu beeinflussen.“

Aber die Struktur macht es schwer, mehr Mitbestimmung für Beschäftigte durch einen Konzernbetriebsrat und Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsräten durchzusetzen. 2012, als sich Firmengründer Aloys Wobben aus gesundheitlichen Gründen nach und nach aus dem Geschäft zurückzog, gründete sich die Aloys-Wobben-Stiftung. In diese wurden zentrale Firmenteile überführt, darunter auch die 2006 gegründete UEE Holding (Unendlich erneuerbare Energien). Unter dem Dach dieser Holding mit Firmensitz in Aurich befinden sich die Enercon GmbH und weitere mehrere Hundert Firmen. Der Geschäftsführer der UEE führte zwischenzeitlich auch in einigen der von Enercon nunmehr nur noch als Zulieferer bezeichneten Firmen, die nicht zur UEE gehören, die Geschäfte. Die sechs Holdings dieser Zulieferer sitzen allesamt in Amsterdam, ihre Mutterkonzerne wiederum verfügen über Anschriften in Steuerparadiesen, zum Beispiel auf den Bahamas oder der Kanalinsel Jersey. 

Rechtliche Schlupflöcher werden rege genutzt

„Es spricht viel für eine wirtschaftliche Abhängigkeit dieser Produktionsbetriebe von der Enercon GmbH, der UEE Holding und der Aloys-Wobben-Stiftung“, sagt Gewerkschafter Geiken und beruft sich auf ein Rechtsgutachten. Das hatte die IG Metall nach den Stellenstreichungen 2018 in Auftrag gegeben, um zu prüfen, ob es „rechtlich möglich ist, einen Konzernbetriebsrat bei den in Deutschland maßgeblichen Gesellschaften zu errichten, und ob Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsgesetz gegeben ist“. In dem Gutachten ging es um die Frage, ob die Enercon-Gruppe einen Konzern bildet. Das Ergebnis: Wirtschaftliche Abhängigkeiten seien zwar vorhanden, aber keine gesellschaftsrechtlichen Verbindungen zwischen Enercon und seinen Zulieferern aufzuzeigen.

Ein Einzelfall in Sachen Umgehung von Mitbestimmung ist Enercon nicht. „Immer mehr Unternehmen entziehen sich der Verpflichtung, Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsräten frühzeitig in Entscheidungen einzubeziehen“, sagt Sebastian Sick, Jurist und Experte für Unternehmensmitbestimmung der Hans-Böckler-Stiftung. Gab es 2002 in Deutschland noch 767 Aufsichtsräte, die je zur Hälfte aus Arbeitnehmern und Anteilseignern besetzt waren, zählten Wissenschaftler der Hans-Böckler-Stiftung Ende 2018 nur noch 638. 

Zur Flucht aus der Mitbestimmung nutzen die Unternehmen rechtliche Schlupflöcher. Zum Beispiel ausländische Rechtsformen. „Unternehmen haben ihren Firmensitz in Deutschland, sind aber rechtlich im Ausland registriert“, erklärt Sick, „und entziehen sich damit dem deutschen Mitbestimmungsrecht.“ Das ist laut Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ab 2002 zulässig. Beliebte Umgehungsmittel sind die Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft (abgekürzt SE). Auch bei Stiftungskonstruktionen greift das Mitbestimmungsgesetz nicht. Sebastian Sick sieht den Gesetzgeber in der Verantwortung, bestehende Schlupflöcher zu schließen. Meinhard Geiken vertritt die gleiche Meinung. „Das Beispiel Enercon macht deutlich, dass wir in Deutschland wieder stärker über die Mitbestimmung diskutieren müssen“, sagt der ehemalige Bezirksleiter der IG Metall Küste. 

Eine Möglichkeit für den Gesetzgeber wäre, über einen eigenständigen Konzernbegriff nach dem Betriebsverfassungsgesetz nachzudenken. Das Betriebsverfassungsgesetz verweist auf Paragraf 18 des Aktienrechts und verhindert damit die Entwicklung eines eigenständigen Konzernbegriffs durch die Rechtsprechung. Das könnte zumindest die Gründung eines Konzernbetriebsrats erleichtern. Rechtliche Verbesserungen hält auch Daniel Friedrich, seit Dezember 2019 Bezirksleiter der IG Metall Küste, für dringend erforderlich. „Wir müssen die Rechte der Beschäftigten in solchen Fällen stärken. Wer sich wie ein Konzern verhält, muss auch unter die Mitbestimmung fallen.“

Serhat Özdemir hat die WEC Turmbau Emden inzwischen verlassen. Mitbestimmung sei auch bei dem Enercon-„Zulieferer“ schwierig, erzählt er. Seit er sich ab 2013 gemeinsam mit der IG Metall offen für die Gründung eines Betriebsrats eingesetzt habe, sei mächtig Druck auf ihn ausgeübt worden. Im Juni 2019 entschied sich der 51-Jährige, in die Transfergesellschaft zu gehen.

  • IG Metall Kundgebung in Aurich
    Metallerinnen und Metaller verschaffen in Aurich ihrer Empörung Luft. (Foto: Benoit Tessier/reuters)

In der Flaute

Der Ausbau der Windenergie an Land ist im vergangenen Jahr dramatisch eingebrochen. Nur 325 Windräder mit einer Leistung von 1078 Megawatt wurden in Deutschland aufgestellt – das sind 80 Prozent weniger als 2017 und so wenig wie noch nie seit der Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Jahr 2000. Laut Bundesverband Windenergie müssten jährlich fünfmal so viele Windanlagen gebaut werden, um das von der Bundesregierung angestrebte Ziel eines Anteils erneuerbarer Energien von 65 Prozent am Stromverbrauch bis 2030 zu erreichen. Gehe der Ausbau so langsam weiter wie 2019, sei ein Viertel der Jobs in der Branche nicht mehr zu retten. In jüngster Zeit haben sich vor Ort viele Bürgerinitiativen gegen den Bau von Windrädern gebildet.

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