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Wolfgang Däubler/Michael Kittner: Geschichte der Betriebsverfassung. Frankfurt am Main, Bund-Verlag 2020. 624 Seiten, 48 Euro Magazin Mitbestimmung

Mitbestimmung: Der Quantensprung von Weimar

Ausgabe 01/2020

Im Jahr 1920 wurde das Betriebsrätegesetz erlassen. Zum 100. Geburtstag wird die Geschichte der Betriebsverfassung von zwei Experten neu erzählt. Von Peter Kern

Dieses Buch nimmt das Jubiläum der Betriebsverfassung zum Anlass, um weit in ihre Vorgeschichte zu leuchten und um Vorschläge für eine Mitbestimmung auf der Höhe der Zeit zu machen. Das Werk legen zwei Fachleute vor: Michael Kittner, ehemaliger Justiziar der IG Metall und Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler. Das Buch räumt, das sei vorderhand bemerkt, mit einem Mythos auf: Hans Böcklers Tauschgeschäft mit Adenauer – Mitbestimmung für Westbindung –, es hat nicht stattgefunden. Es war eine Erfindung derer, die nichts gegen Ostbindung und Kasernenhofsozialismus einzuwenden hatten. 

Man erlebt einige Überraschungen als Leser, auch manches Déjà-vu. In der Revolution von 1848 war die Arbeiterfrage noch abgehandelt unter Pauperismus und Sache philanthropischer Bürger und Frühsozialisten. Die erstarkende Arbeiterbewegung errang ihre Koalitionsfreiheit erst 1869. Die von ihr durchgesetzten Arbeiterausschüsse, Vorläufer der Betriebsräte, fanden in SPD und Gewerkschaften keine Freunde. Die Streiks der Bergarbeiter 1889 und 1905 waren Rechtsnormen durchsetzende Meilensteine. Wer hätte aber gedacht, dass mehr Mitbestimmung ein Mittel des Militärs war, um die Mehrheitsgesellschaft der Arbeiter für seinen Ersten Weltkrieg einzubinden? 

Dann das Coming-out am 4. Februar 1920. Noch im Januar, anlässlich der zweiten Lesung des Gesetzes, kam es zu 42 Toten. Die Erinnerung an die Novemberrevolution war frisch, die Betriebsverfassung war für viele eine Entttäuschung, die eine fundamentale Demokratisierung der Wirtschaft erhofft hatten. Die Autoren verstecken sich nicht hinter wertfreier Wissenschaft. Sie stellen sich die Frage: War die sozialistische Revolution in Greifweite? Hatte die Ebert-Regierung keine Alternative zu Reichswehr und Freikorps, die die Aufständischen erschossen und erschlugen? Eine Räterepublik „hätte den unmittelbaren Weitermarsch der Entente-Truppen zur Folge gehabt“, so ihre Folgerung. Das Buch handelt vom Quantensprung der Betriebsverfassung in der Weimarer Republik. Das duale System – hier Betriebsräte, da Gewerkschaften –, kritisch beäugt als deutscher Sonderweg, erweist sich als erfolgreich. Dann die von den Nationalsozialisten gesetzte Zäsur, die die Akteure der Betriebsverfassung dem „jüdischen Bolschewismus“ zurechnet. Ihren vogelfreien Status beendet erst das Kontrollratsgesetz der Alliierten wieder. Die liberale, am angelsächsischen Vertragsrecht orientierte Haltung ist mit dem Kalten Krieg bald vorbei. Das letzte Drittel des Buchs nimmt das Gesetz von 1952 zum Ausgang, um alle Novellen ausführlich zu kommentieren. 

Ganz zum Ende hin, damit die Konzentration des Nichtjuristen nicht nachlässt, machen die Autoren noch einmal das, was sie ihr Leben lang gemacht haben: Sie beraten. Was tun, wenn der Anteil der Beschäftigten mit Betriebsrat im Westen bei 40, im Osten gar nur noch bei knapp über 30 Prozent liegt? Warum nicht staatliche Forschungsförderung an die Existenz eines Betriebsrats im Center of Competence binden? Wie die Betriebsverfassung einer Welt aus Befristeten, Leiharbeitern und Soloselbstständigen anpassen? Wie die ausufernde Nutzung der Smartphones jenseits der Arbeitszeit einschränken? Kittner und Däubler wissen Rat. 

Wolfgang Däubler/Michael Kittner: Geschichte der Betriebsverfassung. Frankfurt am Main, Bund-Verlag 2020. 624 Seiten, 48 Euro

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