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HENNING MEYER, 40, ist Berater und Chefredakteur von Social Europe. Er analysiert in jeder Ausgabe die Entwicklungen der EU im Wahljahr. Magazin Mitbestimmung

Politik: Europa 2024: ein Ausblick

Ausgabe 06/2019

Mit dieser Kolumne lassen wir das Europawahljahr 2019 ausklingen und richten unseren Blick auf die großen Herausforderungen der kommenden Jahre. Von Henning Meyer

Es ist zwar etwas zu früh, von einem Fehlstart zu sprechen, aber die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich ihren Amtsantritt sicher anders vorgestellt – der zog sich bis Anfang Dezember hin. Nachdem das Europaparlament die Kommissionskandidaten aus Ungarn, Rumänien und auch Frankreich hat durchfallen lassen, mussten Alternativen her. Das Europäische Parlament – der Eindruck drängt sich auf – hat mit Härte im Kommissionsauswahlverfahren darauf reagiert, dass keiner der Spitzenkandidaten den Chefposten der Brüsseler Behörde bekam. Ob das eine Hypothek für die gesamte Amtszeit wird, bleibt abzuwarten. Eine langfristige Polarisierung zwischen den EU-Institutionen würde es vor dem Hintergrund der aktuellen Mehrheiten jedoch fast unmöglich machen, wirkliche Fortschritte in den politischen Kernfeldern zu erzielen.

Darüber hinaus ist derzeit weiter unklar, ob die Briten nicht auch einen Kommissar nach Brüssel entsenden müssen. Zwar ist der Brexit lediglich bis zum 31. Januar 2020 aufgeschoben, aber selbst für zwei Monate müsste ein EU-Mitgliedsland theoretisch einen Vertreter für die Kommission nominieren. Das Ganze wäre natürlich eine Farce, und der britische Premier Boris Johnson ist bereits zweimal der Aufforderung einer Nominierung nicht nachgekommen. 

Währenddessen wartet mit der KDD-Agenda, wie ich sie nennen würde, eine Menge Arbeit. KDD steht für Klima, Digitalisierung und Demokratie. Eine ganze Generation junger Menschen politisiert sich gerade durch die Bedrohung des Klimas und setzt Regierungen in den meisten europäischen Ländern unter Druck. Ob man auf die Wahlerfolge grüner Parteien schaut oder auf Greta Thunberg und ihre Fridays-for-Future-Bewegung. Kein Zweifel, Umweltfragen müssen mit Nachdruck angegangen werden. Mit dem Umlenken in der Umweltpolitik stellt sich aber auch die soziale Frage neu. Wie wird der Ausstieg aus alten Industrien sozial gestaltet? Wie können umweltfreundliche Verkehrsalternativen geschaffen werden? Wie kann Strom in Zukunft umweltfreundlich produziert werden?

Diese Fragen werden zum Großteil im nationalen Kontext bearbeitet, aber es bedarf nichtsdestotrotz einer europäischen Strategie. Der Ausstieg aus der Braunkohle in Deutschland ist zwar notwendig, bringt europäisch aber nicht den gewünschten Paradigmenwechsel, solange Länder wie Polen, Tschechien, Bulgarien, Griechenland, Rumänien und Bulgarien weiterhin intensiv Braunkohle nutzen. Eine neue Klimapolitik muss auch europäisch durchdacht und vorangetrieben werden, sonst bleibt sie Stückwerk.

Das Gleiche gilt für die Digitalisierung. Die Innovationen und Unternehmen, die aktuell globale Märkte unter sich aufteilen, kommen aus den USA und China. Da die digitale Welt das gesamte Leben inzwischen durchdringt und deshalb weit mehr ist als nur ein Wirtschaftszweig, können Europäer diese Situation nicht langfristig hinnehmen. Schon längst zeichnet sich ein neuer Konflikt zwischen Wirtschaftssystemen ab, zwischen dem libertären Kapitalismus der Amerikaner und dem autoritären Staatskapitalismus chinesischer Prägung. Der Markenkern Europas, das europäische Sozialmodell, muss sich in diesem neuen Wettbewerb behaupten und zeigen, dass es auch in Zukunft die beste Balance zwischen wirtschaftlicher Dynamik und gutem Leben ermöglicht. Um das zu schaffen, müssen wir dringend digital aufholen und unsere Sozialsysteme fit für die neue Ökonomie machen. 

Demokratische Substanz stärken

Die beiden großen inhaltlichen Themen Klima und Digitalisierung kann man im europäischen Kontext aber nur effektiv angehen, wenn die demokratische Substanz unserer staatlichen Institutionen gestärkt wird. Nach dem unglücklichen Spitzenkandidatenprozess und dem anstehenden ersten Austritt eines Mitgliedstaates sollte die EU ihre eigenen Verfahren unter die Lupe nehmen. Zu oft wird alles, was „aus Brüssel“ kommt, als abgehoben wahrgenommen. Zwar ist die Kritik nicht immer fair, aber zu oft noch kommen realitätsferne Projekte durch die Institutionen. Man denke an die Urheberrechtsreform und die Reaktion der Jugend darauf.

Die Rolle der Europäischen Union ist es, den Interessen der europäischen Bürger nach innen und außen Ausdruck zu verleihen. Zu lange hat sich der Eindruck verfestigt, dass die EU Verfechter einer neoliberalen Globalisierung und verlängerter Arm von Lobbyinteressen ist. Diese Wahrnehmung muss durch eine neue Politik geändert werden. Denn nur, wenn das gelingt, kann die Europäische Union eine vertrauensvolle Rolle in der Bewältigung der großen Herausforderungen unserer Zeit spielen. Ich für meinen Teil bin überzeugt, dass das möglich ist. Wir müssen aber zügig loslegen.

Meine Kolumnenreihe zum Europawahljahr kommt hiermit zum Ende. Ich hoffe, Sie konnten neue Einblicke gewinnen und haben eine andere Perspektive auf die wichtigsten europäischen Themen gewonnen. Mir hat es sehr viel Spaß gemacht. Ihnen und Ihren Familien wünsche ich besinnliche Feiertage und einen guten Rutsch ins neue Jahr 2020. Es wird wieder ein turbulentes und spannendes werden. In Europa und anderswo.

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