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Knut Tullius hat sich, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, die Finanzbranche angeschaut. Magazin Mitbestimmung

Interview: "Keine Zeit für ein Gespräch"

Ausgabe 05/2019

Finanzdienstleister, Banken und Versicherungen automatisieren ihre Prozesse schon lange. Während in der Gesamtwirtschaft die Beschäftigung seit 2008 um ein Fünftel stieg, sank sie in der Finanzbranche um 1,7 Prozent. Nun rollt die nächste Digitalisierungswelle. Ein Gespräch mit Knut Tullius, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI).

Welche Trends haben Sie bei Banken und Versicherungen untersucht?

Trends der Vergangenheit, wie die Standardisierung von Produkten und die Automatisierung von Prozessen, setzen sich beschleunigt fort. Bei Banken können Kunden ihre Geldgeschäfte bekanntlich schon länger online erledigen; mittlerweile gehören Banking-Apps zum Standardangebot. Auch die Versicherer versuchen, Abschluss und Kündigung von einfachen Versicherungsverträgen über Apps zu automatisieren. Menschen sind am Vertragsabschluss aufseiten des Unternehmens zunehmend nicht mehr beteiligt. 

Kunden erledigen die Arbeit gewissermaßen umsonst, für die Banken und Versicherer bisher Beschäftigte bezahlt haben?

Für die Unternehmen steckt in Kundenprozessen viel Rationalisierungspotenzial. Kunden sind heute technikaffiner, wollen die technischen Möglichkeiten nutzen und erwarten von den Unternehmen entsprechende digitale Zugänge. 

Für die Finanzbranche ist Digitalisierung quasi ein alter Hut. Stellt sich die Branche leichter um?

Eher das Gegenteil ist der Fall. Keine Bank oder Versicherung kann es sich finanziell und von der Komplexität her leisten, die vorhandenen, großformatigen Informations- und Kommunikationsstrukturen über Bord zu werfen und neue aufzusetzen. Da haben es Neugründungen leichter. Wenn man nur auf die technischen Systeme schaut, führen etablierte Unternehmen eher das fort, was sie bereits kennen, und passen es schrittweise an. 

Wer sind die Verlierer der neuen Digitalisierungswelle?

Sieht man sich Tätigkeitsfelder und Beschäftigtenstrukturen an, so dürften dies vor allem Verliererinnen sein. Rund 50 Prozent der Bank- und Versicherungskaufleute sind Frauen. Viele ihrer Arbeiten, etwa in der Kreditprüfung oder im Vertragsbereich, werden zunehmend automatisiert. Hier wird es wohl weiter Personalabbau geben. Zugleich kann dies auch bedeuten, dass die verbleibenden Tätigkeiten anspruchsvoller werden. Die Automatisierung schafft aber auch neue Arbeitsplätze. Der Bedarf an Hochschulabsolventen wächst, vor allem IT-Personal wird gesucht. 

Wie verändert sich die Arbeit?

Beraterinnen und Berater sind mit besser informierten und anspruchsvolleren Kunden konfrontiert. Sie müssen gleichzeitig auf ganz unterschiedlichen Kanälen Kundenanfragen beantworten. Während sie telefonieren, kommen E-Mails an, poppen Nachrichten in Chats auf, und auch Briefe landen immer noch auf dem Schreibtisch. Im Ergebnis steigt die Arbeitsintensität, wie auch Daten der jüngsten WSI-Betriebsrätebefragung zeigen. Arbeitsverdichtung und Technikeinsatz verändern auch die sozialen Beziehungen im Betrieb. Zeit für ein Gespräch unter Kollegen fehlt häufig. Damit fallen auch Gespräche über fachliche Inhalte weg. 

Können Beschäftigte sich für neue Aufgaben qualifizieren?

Systematische Qualifizierungsprogramme für Beschäftigte, deren Arbeitsplätze wegfallen, haben wir bei unseren Untersuchungen bisher nicht gefunden. Viele Unternehmen setzen wohl auf die demografische Lösung. Sieht man von einigen massiven Personalabbauprogrammen gerade im Bankenbereich ab, verläuft der Strukturwandel im Moment eher moderat und „sozialverträglich“.

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