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Magazin Mitbestimmung

: Keine Angst vorm Vierten Senat

Ausgabe 05/2010

RECHT Seit ein Senat des Bundesarbeitsgerichts das Prinzip der Tarifeinheit nicht mehr unterstützen will, gibt es in der Presse wüste Spekulationen. Dabei ist die Linie des Senats konsequent. Für die Gewerkschaften bringt sie keine Nachteile.

Von THOMAS KLEBE, Justitiar der IG Metall in Frankfurt am Main


Immer, wenn der Senat eines obersten Gerichtes von der Rechtsprechung eines anderen Senates abweichen will, klärt er mit einer sogenannten Divergenzanfrage, ob der andere Senat an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalten will. Damit wird verhindert, dass Urteile einander widersprechen. Eine Divergenzanfrage zur Tarifeinheit, die der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) am 27. Januar dieses Jahres an den Zehnten Senat gestellt hat, hat kürzlich in der Presse für erhebliche Aufregung gesorgt. Nachdem die Anfrage bekannt geworden war, schrieb dpa, die Bundesrichter seien dabei, die Tariflandschaft umzukrempeln, und die Financial Times Deutschland argwöhnte, Konzerne könnten nun häufiger mit Streikwellen überzogen werden. Und das Handelsblatt berichtete, die Arbeitgeberverbände sprächen von einer Erosion der Tarifordnung und riefen nun nach dem Gesetzgeber. Dieser solle den Grundsatz der Tarifeinheit, wonach in jedem Betrieb nur ein Tarifvertrag gelten könne, gesetzlich festschreiben. Bei der Gelegenheit solle der Bund gleich mitregeln, wann für sogenannte Spartengewerkschaften wie den Marburger Bund, die GDL oder die Vereinigung Cockpit eine Friedenspflicht bestehe - und damit ein Streikverbot. Auch im Magazin Mitbestimmung (3/2010) wurde darüber diskutiert, ob das Prinzip der Tarifeinheit noch in die heutige Arbeitswelt passt. Keine schlechte Resonanz für eine Divergenzanfrage.

BEGRENZTES MITLEID MIT DEN ARBEITGEBERN_ Was will der Vierte Senat überhaupt ändern? Zukünftig sollen, falls für einen Betrieb mehrere Tarifverträge mit unterschiedlichen Gewerkschaften abgeschlossen sind (Tarifpluralität), für die jeweiligen Gewerkschaftsmitglieder die Tarifverträge nebeneinander gelten. Bisher ist das BAG davon ausgegangen, dass in jedem Betrieb nur ein Tarifvertrag gelten kann. Kommt es zur Konkurrenz zwischen mehreren Verträgen, gilt daher der Tarifvertrag, der räumlich, fachlich und persönlich dem Betrieb am nächsten steht und deshalb, so das BAG, den Erfordernissen und Eigenarten des Betriebs und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten Rechnung trägt. Dabei ergibt sich dieses sogenannte Spezialitätsprinzip keineswegs aus dem Tarifvertragsgesetz. In der Praxis bedeutet dies, dass zum Beispiel ein Haustarifvertrag immer Vorrang hat vor einem Flächentarifvertrag. Beschenkt ein Arbeitgeber die Christliche Gewerkschaft Metall (CGM) mit einem Haustarifvertrag, findet der bisher geltende IG-Metall-
Flächentarifvertrag ab sofort keine Anwendung mehr.

Den Mitgliedern der IG Metall werden alle Rechte aus dem Tarifvertrag genommen, selbst wenn bei einer Belegschaft von 1000 nur drei Beschäftigte der CGM und 300 der IG Metall angehören. Der praktische Rat der höchsten Arbeitsrichter ist dann allen Ernstes, die so Enteigneten könnten ja durch Beitritt zu der anderen Gewerkschaft den Schutz des anderen Tarifvertrags erlangen. Wie ein solcher Vorgang mit der Verfassung, insbesondere mit der Koalitionsfreiheit zu vereinbaren sein soll, war noch nie wirklich zu begreifen. Das BAG meinte, dies mit der Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems, mit den Kriterien Praktikabilität, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit begründen zu können: Die Geltung mehrerer Tarifverträge schaffe Unklarheiten und sei für den Arbeitgeber nicht praktikabel.

Hierzu kann man nur feststellen, dass es die Arbeitgeber im Organisationsbereich der IG Metall schon seit jeher selbst in der Hand haben, ob im Betrieb mehrere Tarifverträge gelten. Beschenken sie die CGM nicht, bleibt es bei einem Tarifvertrag. Im Übrigen wäre hier - dies als Randbemerkung - auch viel gewonnen, wenn das BAG den Begriff der Gewerkschaft nicht aufweichen und für sie als zwingende Eigenschaft ihre Mächtigkeit, ihre Durchsetzungsfähigkeit voraussetzen würde. Dann wäre manche sogenannte Gewerkschaft keine und könnte auch keine Tarifverträge abschließen.

Auch für die Teile der Wirtschaft, in denen Spartengewerkschaften ihre Partikularinteressen verfolgen, kann sich das Mitleid mit Arbeitgeberproblemen in Grenzen halten. Gerade die Lufthansa hat gezielt Spartengewerkschaften gefördert, zumindest wohlwollend toleriert, weil ihr die ÖTV als Vorgängergewerkschaft von ver.di zu stark wurde und war dann, anders als die Deutsche Bahn AG, nicht in der Lage, die hausgemachten Probleme selbst zu lösen. Auch hier lässt sich der Ruf nach Erhalt des Spezialitätsprinzips nicht wirklich nachvollziehen. Verfassungsrechtlich schon gar nicht. Zudem wären die Tarifverträge der Spartengewerkschaften wohl spezieller, jedenfalls bei einer fachlichen und persönlichen Betrachtung, wenngleich das BAG diese Frage noch nicht abschließend entschieden hat.

SPEZIALITÄTSPRINZIP VS. MEHRHEITSPRINZIP_ Wo also sollen die Vorteile für eine einheitliche, starke gewerkschaftliche Interessenvertretung der Beschäftigten liegen, wenn die BAG-Rechtsprechung zu Tarifeinheit und Spezialitätsprinzip erhalten bleibt? Im Gegenteil: Arbeitgeber erhalten damit ein risikoloses Instrument zur Flucht aus dem Flächentarifvertrag. Gleichzeitig verstärkt sich eine Sogwirkung für Gewerkschaften weg vom Flächen- hin zum Haustarifvertrag. Damit entsteht teilweise ein seriöses Durchsetzungsproblem: Der Hinweis auf die Möglichkeit, Haustarifverträge abschließen zu können, wird überall da zur Floskel, wo der Betrieb nicht streikfähig ist. In Auseinandersetzungen um Flächentarifverträge können mitgliederstärkere Betriebe dagegen gute Tarifstandards auch für mitgliederschwächere durchsetzen.

Der BAG-Vorstoß, bei Inhaltsnormen die geltenden Tarifverträge nebeneinander auf die jeweiligen Gewerkschaftsmitglieder anzuwenden, ist verfassungsrechtlich naheliegend. Er zerstört die Tarifordnung nicht und bringt auch für Gewerkschaften keine Nachteile. Das Problem einer Interessenaufsplitterung durch Spartengewerkschaften lässt sich zudem durch die Beibehaltung des Spezialitätsprinzips nicht lösen. Wenn die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems durch die Geltung mehrerer Tarifverträge im Betrieb wirklich gefährdet ist, hilft nur das Mehrheits-, das Repräsentativitätsprinzip: Es gilt der Tarifvertrag, der auf mehr Beschäftigte - im Betrieb oder insgesamt - wegen ihrer Tarifbindung, also ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit, Anwendung findet.

Dieser Grundsatz muss im Übrigen, unabhängig von einer veränderten Rechtsprechung bei den Inhaltsnormen, für alle betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften in Tarifverträgen gelten: Werden zum Beispiel die Voraussetzungen von Kurzarbeit und die entsprechende Mitbestimmung des Betriebsrats in mehreren Tarifverträgen geregelt, kann nur einer Anwendung finden. Dies kann nur der besser legitimierte, also der sein, der auf mehr Gewerkschaftsmitglieder normativ Anwendung findet. Diese Lösung, nach dem Mehrheitsprinzip die Tarifeinheit zu schaffen, wollen die Arbeitgeberverbände jedoch nicht. Sie wollen zwar den Überbietungswettbewerb der Gewerkschaften verhindern, sich aber den Unterbietungswettbewerb durchaus offenhalten und dies noch durch gesetzliche Eingriffe in das Arbeitskampfrecht absichern. Solche Eingriffe in das Tarifvertrags- und das Arbeitskampfrecht können für Gewerkschaften aber nicht infrage kommen. Sie wären im Übrigen auch verfassungswidrig.

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